Rom. Questura, Via San Vitale 15
31
»Wo steckt Signore Matthias?«
Schnaubend ließ sich Varotto auf den Stuhl vor Tissones Schreibtisch fallen und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Minuten vorher hatten die uniformierten Kollegen ihn vor dem Polizeipräsidium abgesetzt und waren weitergefahren zum Gerichtsmedizinischen Institut, wo sie die Haarproben des möglichen Vaters aus Avezzano zur DNA-Analyse abgeben sollten.
»Signore Matthias versucht etwas über das Geburtsdatum des Toten herauszufinden. So wie du es wolltest«, antwortete Tissone, sah ihn aber nicht an, sondern begann seine Stifte neu zu sortieren. »Gut, dass du endlich da bist, Daniele.«
Seine Stimme hatte einen seltsamen Tonfall, was Varotto gar nicht gefiel. Er kannte seinen Kollegen gut genug, um zu wissen, dass etwas nicht stimmte.
»Was ist los, Francesco?« Es sollte barsch klingen, aber er konnte die Unsicherheit selbst hören, die in seiner Frage mitschwang.
»Du sollst zum Chef. Jetzt gleich.«
»Warum?«
Als Tissone nicht antwortete, sondern mit gesenktem Kopf Kugelschreiber und Bleistifte ein weiteres Mal neu anordnete, sprang Varotto auf und beugte sich über den Tisch zu seinem Kollegen.
»Francesco, ich sehe dir doch an, dass du weißt, warum. Also, was ist los?«
»Hast du heute schon den ›Cortanero‹ gelesen?«
Tissone hatte den Kopf gehoben und sah ihn auf einmal mitleidvoll an.
»Nein, denn wie du weißt, bin ich heute früh gleich nach Avezzano gefahren. Was ist damit?«
Statt einer Antwort zog Tissone eine Zeitung aus seiner Schreibtischschublade und hielt sie Varotto hin. Der ergriff sie und überflog die erste Seite.
»PSYCHISCH KRANKER POLIZIST SOLL DIE KREUZWEGMORDE AUFKLÄREN«, lautete die fett gedruckte Schlagzeile. Ungewollt stieß Daniele Varotto ein leises »O mein Gott« aus, bevor er den Leitartikel zu lesen begann:
ROM. Seit nunmehr sechs Tagen erschüttert eine bizarre Mordserie unsere Hauptstadt. Acht Menschen sind inzwischen umgekommen. Was tut unsere Polizei? Sie setzt eine Sonderkommission ein. Das ist bei einer Mordserie nicht weiter ungewöhnlich, wird jeder sich sagen. Dem ›Cortanero‹ ist gestern von einem über jeden Zweifel erhabenen Informanten etwas zugetragen worden, das jedoch sehr ungewöhnlich, um nicht zu sagen kontraproduktiv anmutet: Zum Leiter dieser Sonderkommission hat der Questore ausgerechnet Daniele Varotto ernannt, einen Commissario, der unter schweren Panikattacken leidet und deshalb in psychotherapeutischer Behandlung ist. Planlos hetzt dieser psychisch labile Commissario seither kreuz und quer durch Rom und hat in dieser Zeit etwas Besonderes geschafft: Noch nie zuvor hat die römische Mordkommission nach so vielen Tagen nichts, aber auch rein gar nichts vorzuweisen gehabt. Bis heute hat er nichts über mögliche Motive, den mutmaßlichen Täter, die Mordinstrumente oder die Identität der Opfer herausgefunden, während sich die Bevölkerung voller Angst und Schrecken fragt, wer das nächste Opfer sein wird. Während dieser Varotto nicht einmal die Spur eines Verdachts aufzuweisen hat, geht der wohl von einem religiösen Wahn besessene Serienmörder weiterhin seelenruhig seinem ›Tagewerk‹ nach und bringt einen jungen Mann nach dem anderen um. Der Steuern zahlende Bürger stellt sich zu Recht die Frage, ob ein psychisch kranker Staatsbeamter wirklich ...
Varotto ließ die Zeitung sinken und starrte seinen Kollegen mit ausdruckslosem Blick an.
»Tut mir leid«, sagte Tissone leise.
Wortlos stand Varotto auf und verließ den Einsatzraum. Den Weg zu Barberis Büro legte er wie ein Schlafwandler zurück, auch wenn seine Gedanken dabei ganz klar waren. So klar, dass er ohne jeden Zweifel wusste, was ihn im Büro seines Chefs erwartete. Doch er würde sich nicht aus der Fassung bringen lassen. Ich werde ganz ruhig bleiben, es wird sich alles klären: Immer wieder sagte er sich das wie ein Mantra vor, bis er an die Glastür mit den heruntergelassenen Aluminiumjalousien klopfte.
Eine Minute später schrie er seinen Chef mit hochrotem Kopf so an, dass seine Halsschlagader dick hervortrat.
Geduldig, so als würde es sich bei seinem Untergebenen um ein Kind handeln, ließ Barberi ihn gewähren, wartete ruhig ab, bis Varotto seine Wut abreagiert hatte, bevor er mit sanfter Stimme erklärte: »Daniele, ich versteh dich ja, glaub mir, aber es ändert nichts: Ich muss dich vorläufig beurlauben. Der Justizminister hat heute Morgen den Questore angerufen und deine sofortige Suspendierung gefordert.«
Der Jähzorn, der noch Sekunden zuvor in Varottos braunen Augen gestanden hatte, war inzwischen gänzlich verschwunden und hatte einer tiefen Verzweiflung Platz gemacht.
»Wissen Sie, wer dieser ... Informant war?« Varottos eigentlich kräftige Stimme versagte ihm nun fast. »Ich meine ... diese ... diese Schmierfinken wissen doch, was geschehen ist! Sie kennen mich doch ... Ich . . .«
Barberi zog bedauernd die Schultern hoch. »Daniele, ich habe mit Azzani, dem Chefredakteur, telefoniert. Du weißt, dass ich normalerweise einen guten Draht zu ihm habe. Ich habe ihm gründlich die Meinung zu dieser Art von Journalismus gesagt. Er hat mir versichert, ihm sei auch nicht wohl dabei gewesen, aber der Ton und der Inhalt seines Leitartikels sei eine Order von ganz oben gewesen, um Druck auf uns auszuüben, weil die Bevölkerung allmählich unruhig wird. Letztendlich hat er ja auch nicht ganz unrecht. Seien wir ehrlich: Wir haben wirklich nichts vorzuweisen, außer die Identität eines der Toten, vielleicht noch die eines zweiten. Das ist mehr als dürftig in einem Fall von solcher Brisanz.«
»Darum geht es nicht, Chef. Es geht um meine angebliche . . .«
»Doch, genau darum geht es, Daniele«, fiel ihm Barberi ins Wort, und seine Stimme hatte ihren gutmütigen Ton verloren. »Die Römer haben Angst. Tag für Tag wird ein Mensch umgebracht, seit sechs Tagen in Folge, und wir, die Mordkommission, sind nicht in der Lage, diese schreckliche Serie zu stoppen. Die Leute verlieren das Vertrauen in uns und unsere Fähigkeiten, Daniele! Wenn wir nicht bald Ergebnisse liefern, werden sie uns, die Polizia di Stato, aufs Heftigste anfeinden. Und danach werden die Politiker dran sein, allen voran der amtierende Justizminister, dessen sofortiger Rücktritt gefordert würde. Und bei den nächsten Wahlen würden sie der Regierungspartei sicher nicht mehr ihre Stimmen geben. Darum, und nur darum geht es, Daniele! Für einen kleinen Polizeibeamten, der einen persönlichen Schicksalsschlag nicht so leicht verwinden kann, interessiert sich dabei niemand, Daniele. Für die Allgemeinheit bist du nur ein Rädchen in diesem Getriebe, und wenn das nicht einwandfrei funktioniert, muss es eben ausgetauscht werden, basta.«
»Und Sie, Chef? Denken Sie das auch?«
»Ja, das denke ich auch.«
Varotto erhob sich schwerfällig, wie ein alter Mann. Langsam zog er das braune Ledermäppchen aus der Gesäßtasche, in dem sein Dienstausweis steckte, und legte es vor Barberi auf den Schreibtisch.
»Die Waffe liegt in der Schreibtischschublade in meinem Büro«, sagte er und wandte sich zum Gehen.
»Warte, Daniele. Wo willst du hin?«
»Nach Hause«, antwortete dieser mit müder Stimme, hielt aber nicht inne.
»Daniele!« Jetzt schrie Barberi. »Bleib sofort stehen.«
Doch Varotto knallte schon die Tür hinter sich zu. Wütend schlug Commissario Capo Barberi mit der Faust auf seinen Schreibtisch.