Sizilien

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Die Maschine, ein moderner fünfzigsitziger Eurojet der Alitalia, landete pünktlich um 12 Uhr 45 in Catania.

Der Mann, der in der Ankunftshalle wartete, hatte seinen sechzigsten Geburtstag schon etliche Jahre hinter sich. Der asketische Körper war in eine dunkelbraune Kutte aus grobem Stoff gehüllt, die über der schmalen Hüfte von einer dicken Kordel zusammengehalten wurde. Als er den Kurienkardinal unter den Fluggästen erspähte, ging er ihm entgegen, ohne dass in seinem wettergegerbten und von tiefen Furchen durchzogenen Gesicht eine Gemütsregung erkennbar gewesen wäre.

»Willkommen auf Sizilien, Eure Eminenz«, begrüßte er Voigt, küsste den Ring an dessen gepflegter Hand, drehte sich mit den Worten »Bitte, kommen Sie« um und eilte ihm in Richtung Parkplatz voraus.

Siegfried Kardinal Voigt nahm dem Mönch die Wortkargheit nicht übel. Das Leben der Patres war von klösterlicher Stille bestimmt und bestand neben dem Studium alter Schriften und harter Feldarbeit vornehmlich aus Gebet und Kontemplation. Die Weltabgewandtheit der Klostergemeinschaft war vier Jahre zuvor auch der ausschlaggebende Grund gewesen, dass sie sich dazu entschlossen hatten, ihn dort unterzubringen.

Der Geländewagen, auf den der Pater zusteuerte, musste sehr alt sein. An den wenigen Stellen, an denen unter der dicken Schmutzschicht der Lack sichtbar war, bildete er blasige Erhebungen, die der Rost aufgeworfen hatte. Zur Verwunderung des Kardinals war das Wageninnere jedoch pieksauber. Voigt musste lächeln. Zwischen der Lebensweise der Mönche und dem Aussehen des Fahrzeugs gab es eine Parallele: Äußerlichkeiten spielten keine Rolle, das Innere wurde hingegen gepflegt und war folglich makellos.

 

Eine halbe Stunde nachdem sie Catania hinter sich gelassen hatten, wurde die Umgebung ländlicher. Überall abgeerntete Felder, Weinreben, Orangen-, Zitronen- und Olivenbäume: Voigt erinnerte sich, irgendwo gelesen zu haben, dass der Boden hier durch die verwitternde Lava des Ätna sehr fruchtbar war. Ein paar Kilometer weiter begann sich die Straße in vielen Kurven bergaufwärts zu winden, und nach Nicolosi prägten Buchen, Eichen, Kiefern und vor allem Ätnaginster die Landschaft.

Der Kardinal wusste von seinem ersten Besuch rund vier Jahre zuvor, dass das letzte Stück Weg bis zu der versteckt liegenden Klosteranlage sehr schmal war und steil anstieg. Während der schweigsame Pater den Landrover die holprige Schotterpiste hinaufjagte, wurden immer wieder Steine wie Geschosse von den Reifen nach hinten geschleudert. Voigt krallte seine Finger um den Haltegriff der Autotür und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Seine Gesichtszüge entspannten sich erst wieder, als nach einer letzten scharfen Kurve die Klostermauern vor ihnen auftauchten. Durch das schnell von einem Mönch geöffnete Tor konnte er auf einem kleinen Plateau mehrere flache Gebäude erkennen, die u-förmig um einen großen Platz angeordnet waren. Blumenrabatten sowie ein paar Kastanienbäume bildeten einen schönen farblichen Kontrast zu der fast schwarzen Erde. Man hätte die Klosteranlage für einen Gutshof halten können.

Gleich eine ganze Gruppe Mönche in braunen Kutten kam auf sie zu, als der Pater zwischen zwei Beeten stoppte. Sie blieben einige Meter vor dem Wagen stehen. Einer der Männer trat näher und hielt Voigt die Tür auf. Der Wind hatte ihm das volle, nahezu schneeweiße Haar zerzaust.

»Pater Emilio«, begrüßte der Kardinal den Mönch freundlich, während er ihm die Hand zum Kuss reichte. »Ich freue mich, Sie nach so langer Zeit wiederzusehen.«

Im Stillen dachte er, dass sich der Abt des Klosters in den vergangenen Jahren kaum verändert hatte. Nach wie vor wirkte er sehr agil, und seine wasserblauen Augen blickten noch ebenso offen wie damals.

»Die Freude ist ganz meinerseits, Eminenz, wenngleich ich gestehen muss, dass mir ein anderer Anlass für Ihren Besuch bedeutend lieber gewesen wäre. Aber bitte, gehen wir doch hinein.«

Während Voigt neben dem Abt das Hauptgebäude betrat, spürte er, wie sich seine Nerven wieder anspannten. Kurz bevor er sich in seiner schwarzen Privatlimousine zum Flughafen hatte fahren lassen, hatte sich der Anrufer vom Morgen noch einmal gemeldet und vom Fund zweier weiterer Leichen erzählt. Es führte kein Weg daran vorbei: Er musste die schützenden Klostermauern verlassen.

»Wie hat er auf unsere Bitte reagiert?«, fragte er hastig.

Der Abt ging erst langsamer und blieb schließlich stehen. Mit ernstem Blick sah er den Kardinal an.

»Eure Eminenz, Matthias lebt nun seit vier Jahren hier und hat sich gut in die Gemeinschaft integriert. Er ist ein stiller und sehr hilfsbereiter Mensch, der sein Wissen gern weitergibt und dem keine körperliche Arbeit zu schwer ist. Während dieser ganzen Zeit hat er kein einziges Mal mit einem von uns über seine Vergangenheit gesprochen. Wir haben das respektiert. Seine Kindheit, soweit ich sie aus Bischof Corsettis Berichten kenne, muss ein wahrer Alptraum gewesen sein, von Anfang an ausgerichtet auf blinden Gehorsam. Wie Sie wissen, ist sein kleiner Bruder Franz daran zugrunde gegangen. Sein Tod hat etwas in Matthias’ Seele für immer zerstört.« Der Abt zögerte einen Augenblick, bevor er weitersprach, und blickte dem Kardinal dabei fest in die Augen. »Und nun soll er von einem Tag auf den anderen wieder an seine Vergangenheit erinnert werden, unter die er vor vier Jahren einen Strich gezogen hat. Verzeihen Sie meine Offenheit, Eure Eminenz, aber das ist unbarmherzig.«

»Soll das heißen, Sie haben ihm noch nichts von den Kreuzwegmorden erzählt?«, fragte Kardinal Voigt überrascht.

Noch immer sah der Abt ihn durchbohrend an. »Nein, das habe ich nicht, Eure Eminenz. Aber ich denke, das ist auch nicht nötig. Ihr Kommen spricht für sich. Seit er erfahren hat, dass Sie uns einen Besuch abstatten, sitzt er in seiner Zelle und meditiert.«

Sie betraten nun einen langen Gang, dessen Wände beige verputzt waren. Zwischen den schweren Holztüren zu beiden Seiten hingen Bilder mit biblischen Szenen. Sie gingen an sieben oder acht der Türen vorbei, bis der Abt stehenblieb.

»Hier ist es, Eure Eminenz.«

Als der Kardinal die Hand hob, um zu klopfen, drehte sich Pater Emilio mit einem undefinierbaren Blick um und ging davon.

Der Mann saß mit dem Rücken zur Tür auf dem Steinboden vor seinem Bett, das die Zelle in ihrer ganzen Breite ausfüllte. Der flackernde Schein zweier Kerzen, die eine in einem schweren Eisenhalter an der Wand, die andere auf einer Kommode gegenüber, ließ unruhige Schatten über die Wände huschen.

Er hielt den Kopf gesenkt, seine langen blonden Haare fielen ihm über die Schultern. Er drehte sich nicht um, als der Kardinal den nur wenige Quadratmeter großen Raum betrat, rührte sich auch nicht, als Voigt ihn auf Deutsch ansprach: »Guten Tag, Matthias. Es ist mir eine Freude, Sie wiederzusehen.«

Mehrere Sekunden vergingen, dehnten sich in der Stille zu Ewigkeiten, bis der Mann sich endlich erhob und dem Kardinal zuwandte. Er sah ihm in die Augen und antwortete in fast akzentfreiem Italienisch: »Un piacere? Ihr Besuch hier bedeutet doch wohl, dass etwas Schlimmes geschehen ist.«

Wohlgefällig musterte Voigt den großen schlanken Mann. Er hatte sich verändert. Das markant geschnittene Gesicht des mittlerweile 47-Jährigen wirkte weicher, nicht mehr so verbissen wie damals, als er ihn zum letzten Mal gesehen hatte, und der Hass in den Tiefen seiner Augen fehlte gänzlich. Der Kardinal stellte verwundert fest, dass der Mann ihm inzwischen irgendwie sympathisch war, und das, obwohl er vier Jahre zuvor etwas so Ungeheuerliches getan hatte.

»Ja, das ist leider richtig, Herr von . . .«, er räusperte sich, »Matthias. Wir hätten uns eigentlich gewünscht, dass Ihre ... Hilfe nie wieder vonnöten sein wird.« Auch Voigt sprach nun italienisch.

Matthias deutete auf einen einfachen Stuhl, der neben einem kleinen Tisch an der Wand stand. »Bitte, Eure Eminenz.« Er wartete, bis der Kardinal Platz genommen hatte, bevor er sich auf der Kante seines Bettes niederließ und sagte: »Erzählen Sie.«