Rom. Via Pietro Mascagni
4
Kurz vor halb acht setzte sich Varotto auf den Besucherstuhl vor Luccianis Schreibtisch, und während er seinem jungen Kollegen dabei zusah, wie dieser an einem niedrigen Aktenschrank Kaffee aus einer schwarzen Plastikkanne in zwei Tassen goss, spürte er, wie der Schmerz sich wieder an die Oberfläche seines Bewusstseins drängen wollte. Genau so eine Thermoskanne hatten Francesca und er ... Heftig schüttelte er den Kopf, als könnte er so seine Gedanken durcheinanderbringen, damit sie den Faden zu Francesca nicht aufnehmen konnten. Lucciani warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Die Müdigkeit«, erklärte Varotto ausweichend und sah sich demonstrativ in dem Büro um, dessen düstere, spartanische Einrichtung so gar nicht zu dem jungen dynamischen Vice Commissario passte, der nun eine der Tassen vor ihm abstellte, um den alten Schreibtisch herumging und sich auf seinen mit dunkelbraunem Kunstleder bezogenen Drehstuhl setzte.
»Sie sagten vorhin, Sie hätten etwas anderes erwartet, Commissario. Ich habe mir den ganzen Weg hierher den Kopf zerbrochen, was das sein könnte. Und noch etwas habe ich mich gefragt: Warum sind Sie sich so sicher, dass diese skurrile Szene die fünfte Kreuzwegstation darstellt? Klären Sie mich auf. Ich weiß bisher nur, dass wir es mit einer sehr ungewöhnlichen Mordserie zu tun haben.«
Varotto atmete schnaubend aus.
»Ungewöhnlich ist noch ein gelinder Ausdruck für das, was gerade vor sich geht! So etwas ist mir in meiner ganzen Laufbahn noch nicht untergekommen. Vier Mordfälle innerhalb von fünf Tagen, den von heute mitgerechnet, und alle tragen die gleiche Handschrift. Gestern hat dieser Irre entweder einen ›Ruhetag‹ eingelegt, oder aber das Opfer ist noch nicht gefunden worden. Wobei ich eher Letzteres befürchte.« Varotto machte eine kurze Pause, bevor er in seinen Ausführungen fortfuhr: »Den ersten Toten gab’s am Donnerstagmorgen in einer kleinen Nebenstraße der Piazza di San Paolo: ein Mann Mitte zwanzig, in einer langen Kutte, sein Rücken war übersät mit blutigen Striemen, er trug Handschellen und eine Dornenkrone, und sein Mörder hat ihm die Worte ›Markus 15,15‹ in die Brust geritzt. Ein eindeutiger Hinweis auf das Neue Testament: Um die Menge zufriedenzustellen, lässt Pilatus Barabbas frei und gibt den Befehl, Jesus zu geißeln und zu kreuzigen. Die erste Station des Kreuzwegs: Jesus wird zum Tode verurteilt. Am Freitag dann ein Toter nahe des Vatikans, in der Via Orfeo, Ecke Via Borgo Pio. Sein Genick war gebrochen. Mit einem langen Nagel hat man ihm ein kleines Holzkreuz in die rechte Schulter geschlagen und einen Anhänger mit der entsprechenden Textstelle im Evangelium daran befestigt, als wäre er ein Gepäckstück. So war schnell klar, dass mit ihm die zweite Station nachgestellt worden ist: Jesus nimmt das Kreuz auf seine Schultern. Samstag früh hat man dann unter einer Brücke im Osten der Stadt, nur ein paar hundert Meter vom Friedhof Campo Verano entfernt, das dritte Opfer entdeckt. Man hätte denken können, der Mann hätte sich von der Brücke gestürzt, wäre da nicht das kleine Holzkreuz gewesen, das auf seinem Rücken lag. Die dritte Station: Jesus fällt zum ersten Mal unter dem Kreuz. Als Sie mich heute früh angerufen haben, habe ich fest damit gerechnet, in dem Waldstück die vierte Station vorzufinden: Jesus begegnet seiner Mutter. Wie sich gezeigt hat, sind wir mit den beiden Toten aber schon eine Station weiter. Deshalb, fürchte ich, muss es einen weiteren, bisher noch unentdeckten Mord geben.« Varotto starrte in seine Kaffeetasse und fügte mit leiser Stimme hinzu: »Ich will mir lieber nicht vorstellen, wie der inszeniert ist . . .« Er verstummte, riss sich dann aber zusammen und sah Lucciani in die Augen. »Der gesamte Kreuzweg besteht aus vierzehn Stationen. Folglich müssen wir mit zehn weiteren Morden innerhalb der nächsten Tage rechnen – wenn wir diesen Wahnsinnigen nicht stoppen können.«
Lucciani war blass geworden. Er stürzte seinen Kaffee hinunter und holte danach tief Luft. »Aber ... schon das Präparieren der Leichen zur Darstellung der Station von heute Morgen muss Stunden gedauert haben. Und dann die ganzen Vorsichtsmaßnahmen, damit ihn keiner auf frischer Tat ertappt ... Einer allein kann das doch eigentlich gar nicht schaffen!«
Varotto nickte. »Der Gedanke ist mir auch schon gekommen. Außerdem sind die Opfer ganz bewusst ausgewählt worden. Bei keinem wurde etwas gefunden, mit dem sich seine Identität klären ließe, mit Ausnahme des Dunkelhäutigen von heute waren sie alle im gleichen Alter, und zudem hatten alle diese stümperhafte Tätowierung im Nacken. Gehören sie einer Sekte an? Sind sie vielleicht sogar freiwillig in den Tod gegangen? Das ist schwer vorzustellen.«
»Wobei diese Tätowierung, wie Sie sagen, ja offensichtlich gestochen wurde, als die Männer noch sehr jung waren. Das würde bedeuten, dass sie bereits als Kinder im Einflussbereich dieser Sekte gestanden haben. Eine Sekte, die es schon so lange gibt, müsste aber bekannt sein. Das wäre ein Ansatzpunkt.«
Varotto trank einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht; er war inzwischen kalt und schmeckte fürchterlich.
»Fehlanzeige. Weder im Internet noch in der einschlägigen Literatur haben meine Männer bislang einen Hinweis auf die Zeichnung entdeckt. Daher haben wir uns gestern Abend entschlossen, der Presse von der Kreuzwegtheorie zu erzählen und die Tätowierung abdrucken zu lassen. Die Zeitungen müssten heute darüber berichten. Vielleicht meldet sich ja jemand, der zumindest einen der Männer identifizieren kann.«
Das Telefon klingelte. Lucciani hob ab. Erwartungsvoll beobachtete Varotto den jungen Kollegen, dessen Miene sich im Laufe des Gesprächs etwas erhellte.
»Die Spurensicherung«, erklärte Lucciani, kaum hatte er aufgelegt. »Der dunkelhäutige Mann hatte einen Ausweis in der Tasche. Er ist Libyer.«
Varottos Körper versteifte sich. So leise, dass Lucciani ihn kaum verstehen konnte, fragte er: »Kommt er aus einem Ort namens Schahhat?«
Lucciani hob verwundert die Augenbrauen. »Ja, so hieß der Ort. Woher wissen Sie das?«
In diesem Moment schrillte das Telefon erneut. Ein Anruf aus der Questura, Varottos Dienststelle.