Rom. Via Pinciana
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Er fand einen Parkplatz in einer Seitenstraße der Via Pinciana. Bis zu dem Eingang in den Park der Villa Borghese waren es nur wenige Meter.
Während er Alicias kleinen Wagen durch den dichten römischen Verkehr gelenkt hatte, waren seine Gedanken immer wieder um den Anruf gekreist. Sosehr er sich bemühte, er fand keine Erklärung dafür, woher der Anrufer seinen Namen kennen konnte. Aber vielleicht würde ihm der Zettel ja weiterhelfen, den er in dem Park finden sollte. Notizen seines Vaters in der Hand eines Toten.
Der Himmel hatte sich verdunkelt, es nieselte. Eine feine Schicht aus winzigen Regentröpfchen ließ den Asphalt samtig schimmern. Matthias ging unter dem steinernen Torbogen hindurch. Obwohl er sich erst wenige Meter von der Via Pinciana entfernt hatte, war nun kaum noch etwas vom Lärm der Straße zu hören. Matthias sah sich nervös um. Ihm gegenüber führte ein schmaler Weg in den Park. Gehen Sie zweihundertdreißig Schritte geradeaus, hatte der Anrufer gesagt. Einzelne Haarsträhnen klebten ihm unangenehm kalt am Hals. Matthias überquerte den runden Platz. Unter den Bäumen war der Boden noch trocken.
Nach hundertvierzig Schritten machte der Weg einen leichten Knick nach rechts. Für ein kurzes Stück wurde es heller, weil hier nur wenige Bäume standen, dann schloss sich das grüne Dach über ihm wieder. Hundertsiebzig. Ein Baumstumpf, auf ihn musste er achten. Glücklicherweise schien es nicht viele gefällte Bäume zu geben. Ob ihn jemand beobachtete? Zweihundert. Sie mussten ihn beobachten. Wie sonst wollten sie sicher sein, dass er alleine gekommen war? Eine Minute später entdeckte er vor sich den Baumstumpf. Er glänzte feucht. Matthias verließ den Weg und hielt sich nun links. Das Gras federte seine Schritte weich ab, nur ein leises Quietschen der Grashalme war jetzt noch zu hören.
Hundert Schritte in dieser Richtung hatte der Anrufer gesagt. Warum hatte der Kerl damit gedroht, zehn Männer umzubringen, wenn Matthias sich nicht an seine Vorgaben hielt?
Noch fünfzig Schritte. Matthias kniff die Augen zusammen, als könnten sie so besser die düstere Umgebung durchdringen, und ging langsam weiter.
Noch vierzig. Hier sollte also eine weitere Kreuzwegstation dargestellt sein. Eine dieser grauenvollen Inszenierungen. Was machte es für einen Sinn, dass er sie als Erster sah?
Er musste die Stelle erreicht haben. Angestrengt wanderte sein Blick über die nähere Umgebung, ohne auch nur das Geringste zu entdecken. Matthias ging langsam im Kreis, erst aufrecht, dann leicht nach vorne gebückt, um auch unter die tiefer hängenden Äste sehen zu können. Allmählich wurde das Gras vom Nieselregen matschig. Mit jeder Runde wurde der Kreis größer. Nichts.
Was, wenn es gar keinen Toten gab? Warum hatte man ihn dann aber hierhergelockt? Das ergab keinen Sinn. Es sei denn ... Matthias’ Körper versteifte sich, als ihm die einzig logische Antwort klar wurde.
Als er loslaufen wollte, prallte etwas Heißes gegen seinen linken Oberarm. Die Bäume drehten sich um ihn, dann schlug er mit dem Rücken auf dem Boden auf. Noch bevor seine Sinne in der Lage waren, Ordnung in das Durcheinander zu bringen, zischte etwas dicht an seinem Kopf vorbei und ließ nur Zentimeter neben ihm das Erdreich mit solcher Wucht aufspritzen, dass ein harter Klumpen ihn schmerzhaft an der Wange traf. Jemand schießt auf mich, realisierte er endlich. Er wälzte sich auf den Bauch und robbte hinter den nächsten Baum. Sein Atem ging schnell. Der Baumstamm war gerade dick genug, um ihm Schutz zu bieten. Wieder knallte ein Schuss. Die Kugel ging weit daneben. Vorsichtig tastete er nach seinem Oberarm und verzog das Gesicht vor Schmerz. Wie schwer er verletzt war, konnte er nicht abschätzen, aber sein Gefühl sagte ihm, dass es wahrscheinlich nur ein Streifschuss war. Der Schütze hatte offenbar nicht mit den schlechten Sichtverhältnissen gerechnet. Kurioserweise kam ihm in den Sinn, dass ihm das vor vier Jahren nicht passiert wäre. Er war für alle Fälle gerüstet gewesen. Aber er hatte sich ja auch Jahre darauf vorbereitet ... In diesem Moment flog ein Schatten auf ihn zu. Bevor Matthias sich zur Wehr setzen konnte, drückte ihn eine Hand fest gegen den Stamm, ein Körper beugte sich über ihn, dann blitzte es nicht weit von seinem Kopf auf und knallte so laut, dass er schon glaubte, sein Trommelfell würde platzen. Völlig entgeistert sah er in das Gesicht, das sich ihm nun zuwandte.
»Commissario! Wie kommen Sie . . .?«
»Pst«, flüsterte Varotto atemlos und senkte die Pistole, mit der er gerade geschossen hatte. Vorsichtig spähte er am Baumstamm vorbei. »Mein Wagen steht etwa vierhundert Meter von hier entfernt. Los, kommen Sie, mir nach. Im Zickzack!«
Ohne eine Antwort abzuwarten, richtete er sich auf und lief geduckt los, Haken schlagend wie ein Kaninchen auf der Flucht. Matthias tat es ihm gleich und sofort waren kurz hintereinander Schüsse zu hören, die jedoch seitlich ins Gebüsch schlugen. Danach gab der Schütze offensichtlich auf, denn sie erreichten unbehelligt den BMW des Commissario. Sie sprangen in den Wagen, und Varotto fuhr mit quietschenden Reifen los.
Schwer atmend starrten sie einige Zeit stur geradeaus. Als Matthias das Gefühl hatte, wieder halbwegs normal sprechen zu können, drehte er den Kopf zu Varotto.
»Danke, Varotto. Sie haben mir das Leben gerettet.«
»Schon gut«, brummte Varotto.
»Woher wussten Sie, wo ich bin?«
Varotto sah kurz zur Seite und grinste grimmig. »Das haben Sie meinem Misstrauen zu verdanken. Als dieser angebliche Kardinal Voigt bei mir anrief, fiel mein Blick auf das Mobiltelefon auf dem Tisch, das der Kardinal Ihnen gegeben hatte. Bisher hat er Sie immer auf dem Handy angerufen, warum sollte er jetzt plötzlich meinen Festnetzanschluss nutzen? Das hat mich stutzig gemacht. Es gab nur eine mögliche Antwort: Der Anrufer war nicht der, für den er sich ausgab. Um herauszufinden, was es mit dem Anruf auf sich hatte, bin ich in Francescas Büro gegangen. Dort steht noch ein Apparat, über den ich Ihr Gespräch mithören konnte. Ich hoffe, Sie verzeihen mir diesen Übergriff in Ihre Privatsphäre.« Er lachte auf, wurde aber gleich wieder ernst, als Matthias nicht darauf reagierte und ihn nur weiter fassungslos ansah. »Kaum waren Sie weg, fuhr ich direkt zum gegenüberliegenden Eingang des Parks. Weil ich mich im Gegensatz zu Ihnen in Rom auskenne, war ich gut eine halbe Stunde vor Ihnen da. Dann habe ich mich zu der vereinbarten Stelle geschlichen. Den Rest kennen Sie.«
Matthias nickte. Er war noch immer leichenblass. »Sollten wir nicht Ihre Kollegen anrufen, Commissario? Das war gerade ein Mordversuch. Vielleicht ist der Schütze noch in der Nähe.«
Varotto warf ihm einen tadelnden Blick zu. »Und wie erklären Sie denen, dass Sie einen eindeutigen Hinweis auf ein weiteres Mordopfer nicht gemeldet und sich selbst in Gefahr begeben haben? Und vor allem: Wie erkläre ich das?«
Matthias machte ein zerknirschtes Gesicht. »Stimmt, Sie haben recht.«
Varotto zog das Handy aus seiner Jacke und tippte eine Nummer.
»Bonna notte, Dottore, Commissario Varotto hier ... Ja, genau ... Sind Sie noch in der Praxis?... Das ist gut. Ich komme gleich mit einem Freund vorbei, der eine kleine Verletzung hat ... Gut, danke.« Er verstaute das Telefon. »Ich bringe Sie zu Dottore Collacci. Er hat mir schon öfter geholfen, wenn es darum ging, einen Kollegen zu verarzten, ohne einen Bericht dazu schreiben zu müssen.«
»Danke.«
Varotto sagte nichts, sondern sah stumm auf den Verkehr vor sich. Es ging nur im Schritttempo vorwärts, ohne dass erkennbar gewesen wäre, woran das lag.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Matthias plötzlich. »Wer von diesen Wahnsinnigen kann mich kennen? Und woher? Außer Ihnen und Alicia weiß niemand, wer ich bin.«
»Nun, aber sicher doch auch Kardinal Voigt. Und der Papst.«
»Ja, natürlich«, erwiderte Matthias ärgerlich. »Aber die beiden haben doch nichts mit den Tätern zu schaffen.«
»Nun, wenn ich an den Artikel über mich denke, und woher der Anruf wahrscheinlich . . .«
»Vergessen Sie’s. Das ist ausgeschlossen. Es muss noch mehr Leute geben, die über mich Bescheid wissen.«
Beide dachten angestrengt nach.
»Was ist eigentlich aus Ihrer Mutter geworden, nachdem Sie ... ich meine, nachdem diese Bruderschaft aufgelöst wurde?... Warum duzen wir uns eigentlich nicht?«, sagte Varotto unvermittelt.
Matthias sah ihn verblüfft an. »Ich ... Sie verwirren mich. Erst fragen Sie mich nach meiner Mutter, und im gleichen Atemzug bieten Sie ... bietest du . . .« Er wollte sich mit beiden Händen kräftig über das Gesicht reiben, stöhnte dann aber auf und hielt sich den Oberarm. »Ich gehe davon aus, dass sie nicht mehr am Leben ist.«
»Wissen ... weißt du, wo sie sich zuletzt aufgehalten hat?«
»Wahrscheinlich in Dänemark. Nach ihrer Flucht vor meinem Vater ist sie dort untergetaucht.«
Wieder schwiegen beide. In all den Jahren im Kloster hatte Matthias oft versucht, sich seine Mutter vorzustellen. Vergebens. Dort, wo ihr Bild in seinem Gedächtnis hätte sein sollen, war nur ein verschwommenes Etwas. Erst hatte er sich dafür geschämt, aber schließlich hatte er es als Folge der schrecklichen Ereignisse akzeptiert. In diesem Moment jedoch, in dem er neben Daniele Varotto saß und knapp einem Mordanschlag entgangen war, in diesem Moment sah er das wunderschöne sanfte Gesicht seiner Mutter so deutlich vor sich, als hätte sie ihn eben erst verlassen. Er sah ihre braunen Augen, die ihn so liebevoll und doch voller Schmerz angesehen hatten, in jener Nacht in Kimberley, in der sie sich von einem kleinen Jungen verabschiedet hatte, der sie nicht begleiten wollte. Weil er eine Aufgabe hatte. Weil er sich geschworen hatte, seinen Vater und alles, was ihm wichtig war, zu vernichten.