19. OKTOBER 2005

Vatikan. Vatikanische Bibliothek

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Seit fast einer Stunde saß Matthias nun schon an einem der vier Meter langen Tische im großen Lesesaal. Dass er überhaupt dort sitzen konnte, war nur mit seiner Sondergenehmigung möglich gewesen. Normalerweise war der Besuch der Bibliothek ausschließlich Wissenschaftlern vorbehalten. Zum dritten Mal brachte Leonardo Vincenta nun schon einen Korb voller Bücher, die er vor ihm auf den Tisch legte, wo sich bereits mehrere Werke über religiöse Symbolik und die bisherigen Tatorte stapelten. Der junge Bibliothekar konnte die Bücher nach einem ausgeklügelten System suchen: Die riesige Bibliothek, die ständig durch Ankäufe und Schenkungen erweitert wurde, war nach den Norme per il catalogo degli stampati, den »Normen für das Katalogisieren von Gedrucktem«, aufgebaut, die auf den Präfekten Franziskus Ehrle zurückzuführen waren.

Ein Gähnen unterdrückend, beugte sich Matthias wieder über das vor ihm liegende Buch. Er war an diesem Morgen bereits um sieben aufgestanden. Schwester Luisa, eine portugiesische Ordensschwester, die in der Küche des Priesterseminars arbeitete, hatte ihm trotz der frühen Stunde einen doppelten Espresso gemacht und ihm süßes Gebäck hingestellt. Nach dem Frühstück hatte er sich gleich auf den Weg gemacht und fünf Minuten später dem Posten der Schweizergarde seinen von Kardinal Voigt ausgestellten Passierschein gezeigt, wonach dieser ihm den Weg zur Bibliothek wies. Leonardo Vincenta schloss gerade die Tür zum Lesesaal auf, als Matthias dort ankam, erklärte ihm aber, dass die Bibliothek erst um 8 Uhr 30 öffnen würde. Matthias hatte daraufhin den Kardinal angerufen. Nach einem kurzen Gespräch zwischen Voigt und dem Bibliothekar konnte Matthias nicht nur die Bibliothek betreten, sondern bekam auch sämtliche Bücher gebracht.

Es war nun schon der siebte Band über religiöse Symbolik, den er an diesem Morgen überflog, um einen Hinweis auf das Zeichen zu finden, das den Opfern in den Nacken tätowiert worden war, als Leonardo Vincenta wieder auf ihn zukam und sich zu ihm herunterbeugte.

»Entschuldigen Sie, Signore, aber Seine Eminenz, Kardinal Voigt, hat soeben angerufen. Sie sollen unverzüglich zu ihm kommen. Es sei sehr dringend.«

Obwohl außer ihnen noch niemand im Lesesaal war, hatte der Pater so leise gesprochen, dass Matthias ihn nur schwer verstand. Wahrscheinlich die Macht der Gewohnheit, dachte er. Nachdem er den Bibliothekar gebeten hatte, die Bücher für ihn zurückzulegen, machte er sich auf den Weg zum Palazzo Sant’ Ufficio.

Kardinal Voigt wirkte sehr ernst, als Matthias dessen Arbeitszimmer betrat. Wortlos zeigte er auf einen der Stühle vor seinem Schreibtisch und wartete, bis Matthias sich gesetzt hatte.

»Es gibt Neuigkeiten aus der Questura. Heute früh hat sich anscheinend ein völlig aufgelöster Mann gemeldet. Er behauptet, auf dem Foto in der Zeitung das Muttermal erkannt zu haben, das sein vermisster Sohn auf dem Oberschenkel hatte.«

Matthias zog eine Braue hoch. »Sein vermisster Sohn, sagten Sie?«

Der Kardinalpräfekt nickte. »Ja, der Mann behauptet, sein Sohn sei im Alter von sechs Jahren entführt worden. Er müsste nun Mitte zwanzig sein. Ich dachte, dass diese Information wichtig genug ist, Sie beim Studium der Bücher zu stören.«

»Ich danke Ihnen, Eure Eminenz«, sagte der Deutsche und erhob sich. »Ich werde sofort zum Polizeipräsidium fahren.«

Voigt nickte. »Ja, tun Sie das. Und berichten Sie mir bitte, wenn es etwas Neues gibt. Der Heilige Vater ist wegen dieser Kreuzwegmorde sehr besorgt. Commissario Varotto wartet sicher längst auf Sie.«

»Das wage ich zu bezweifeln«, sagte Matthias im Hinausgehen. Noch ehe der Kardinal ihn fragen konnte, was er damit meinte, hatte sich die Tür schon hinter ihm geschlossen.