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Jürgen Freinli, der alleine Wache schieben musste, wo sonst mehrere Schweizergardisten standen, wunderte sich, als der Mannschaftswagen auf die Schranke der Porta di Sant’Anna zugerollt kam. Er hatte gedacht, die römische Polizei hätte ebenso wie der Vatikan jeden, der irgendwie entbehrlich war, nach Castel Gandolfo geschickt, um den Heiligen Vater zu retten. Freinli war noch sehr jung, er war erst wenige Monate zuvor im Damasushof vereidigt worden, am 6. Mai, so wie alle Rekruten der Garde. Es verstieß klar gegen jede Dienstvorschrift, dass er alleine vor der Schranke stand, die die Zufahrt zum Vatikan blockierte. Das wusste er so sicher, weil er seine Ausbildung erst vor Kurzem beendet hatte. Besonders die Wachvorschriften waren ihm noch gut in Erinnerung, weil sie in der Prüfung abgefragt worden waren. Die strengen Vorschriften empfand Jürgen auch als absolut gerechtfertigt, denn nur die Schweizergarde war es letztendlich, die den Heiligen Vater vor den Wahnsinnigen dieser Welt beschützte, die es da draußen leider zuhauf gab.
Nun also stand er alleine vor der Schranke und hielt die Maschinenpistole mit beiden Händen diagonal vor dem Bauch, als der dunkle Mannschaftswagen anhielt und der Fahrer, ein schon älterer Mann in der Uniform der Carabinieri, ihm durch das geöffnete Seitenfenster zurief: »Was ist? Nun machen Sie schon die Schranke auf.«
»Wa ... Warum?«, stammelte Jürgen verunsichert.
Auf dem Gesicht des Mannes zeigte sich deutlicher Zorn. »Wir gehören zum Sondereinsatzkommando. Der Papst schwebt in Lebensgefahr und Sie stellen hier dämliche Fragen!«
Jürgen trat nun näher an den Wagen heran. Er spürte Wut in sich aufsteigen über die herablassende Art dieses Carabiniere. Wie zufällig hob sich dabei der Lauf seiner Waffe ein wenig. Was dachte der Kerl sich eigentlich, wen er vor sich hatte?
»Zeigen Sie mir zuerst einmal Ihre Ausweise«, sagte er mit deutlich festerer Stimme. »Wenn Sie zum Sondereinsatzkommando gehören, warum sind Sie dann nicht in Castel Gandolfo?«
Der Fahrer atmete schnaubend aus und warf seinem Beifahrer einen undefinierbaren Blick zu. Dann tauchte seine rechte Hand in der Fensteröffnung auf, ein trockenes Plopp war zu hören, und Jürgen kippte lautlos nach hinten weg.
»Weil ich mich sonst nicht um diese Angelegenheit hätte kümmern können«, sagte der Mann hinter dem Steuer und beugte sich ein Stück aus dem Fenster. Jürgen lag mit dem Gesicht nach oben auf dem Asphalt, die Augen starrten gegen die Unendlichkeit des Himmels. Ziemlich genau in der Mitte seiner Stirn befand sich ein dunkles kreisrundes Loch.
Kurze Zeit später war die Schranke oben und der Transporter fuhr ins Innere des Vatikans. Jürgens Leiche war verschwunden. Vor der Schranke stand nun ein anderer Mann in der Uniform der Schweizergarde. Er war eigentlich schon zu alt für diesen Posten, aber wem sollte das in diesen Stunden auffallen?
Es dauerte keine zwei Minuten, bis ein weiterer Transporter ungehindert die Zufahrt passierte und in den schmalen Straßen des Stadtstaates verschwand. Beide Fahrzeuge hielten mehrmals an und ließen jeweils zwei uniformierte Männer aussteigen, die dunkle Segeltuchtaschen bei sich trugen.