Rom. Policlinico Universitario Agostino Gemelli

18

Die Klinik lag im Nordwesten Roms auf dem Monte Marino, etwa zwölf Kilometer von der Questura entfernt. Sie waren erst seit ein paar Minuten unterwegs; der eine achtete auf den Verkehr vor sich, der andere sah zum Fenster hinaus, an dem die alten mehrstöckigen Häuser mit ihren winzigen Balkonen vorüberzogen. Varotto hatte gerade ärgerlich auf das Lenkrad geschlagen, weil ein Fiat sich aus einer Seitenstraße vor sie gedrängt hatte, als der Deutsche sich räusperte.

»Darf ich Sie was fragen, Commissario Varotto? Haben Sie einen Groll auf die Kirche? Oder haben Sie etwas gegen mich persönlich und wollen sich deshalb nicht helfen lassen?«

Varotto sah seinen Beifahrer überrascht und etwas zu lange an, so dass er fast auf den Fiat vor ihnen aufgefahren wäre, der vor einer roten Ampel angehalten hatte. Erst im letzten Moment kam er mit einem Fluch auf den Lippen wenige Zentimeter hinter dessen Stoßstange zum Stehen. Schnaubend atmete er aus.

»Nein, ich hab nichts gegen Sie, wie auch? Ich kenne Sie ja gar nicht. Und ich habe auch kein Problem damit, Hilfe anzunehmen, ganz im Gegenteil.«

»Aha, also ein Problem mit der Kirche.«

»Darüber möchte ich nicht sprechen.«

Varotto rechnete damit, dass Matthias nachhaken würde. Der Deutsche stellte jedoch keine weiteren Fragen.

»Im Moment habe ich nur ein Problem«, erklärte Varotto schließlich. »Der Bibelvers, den ich vorhin erhalten habe. Möglich, dass es sich nur um einen Trittbrettfahrer handelt, der die Geschichte in der Zeitung gelesen hat und sich nun wichtig machen möchte. Obwohl ... irgendetwas sagt mir, dass wir bald zu einem neuen Tatort gerufen werden.«

 

»Was hat Sie eigentlich dazu gebracht, in ein Kloster zu gehen?«, fragte Varotto unvermittelt, als sie eine halbe Stunde später im Aufzug in den sechsten Stock der Universitätsklinik hinauffuhren.

»Darüber möchte ich nicht sprechen, Commissario«, antwortete Matthias ruhig und bestimmt.

Varotto stieß ein kurzes Lachen aus. »Ist das jetzt die Revanche? Wie du mir, so ich dir? Das ist ziemlich kindisch, finden Sie nicht auch?«

Er bekam darauf keine Antwort.

In der sechsten Etage roch es schwach nach einer Mischung aus Desinfektions- und Putzmitteln. Nachdem Varotto sich im Stationszimmer ausgewiesen hatte, führte die junge Krankenschwester sie bereitwillig zum Zimmer von Rosa Costali.

»Die Signora hat einen schweren Schock erlitten. Ich schaue alle halbe Stunde zu ihr rein, sie hat aber noch kein einziges Wort mit mir gesprochen.«

Varotto nickte, klopfte an die Tür und trat ein. Das Zimmer war groß genug, dass vier Betten darin Platz gefunden hätten, was wohl normalerweise auch der Fall war, wie die Position der Lampen und Anschlüsse an der Wand vermuten ließ. Die pastellgelb getünchten Wände und das große Fenster ließen den Raum hell und freundlich erscheinen.

Die Frau starrte regungslos an die Decke, als die Männer den Raum betraten. Ihr von grauen Strähnen durchzogenes Haar war ungekämmt, und sie wirkte gebrechlich und irgendwie verloren in dem Bett, das direkt vor dem Fenster stand.

»Signora Costali?«, sagte Varotto mit betont ruhiger Stimme, während er langsam auf sie zuging. Matthias war neben der Tür stehen geblieben.

»Signora, mein Name ist Varotto, Commissario Daniele Varotto. Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen, Signora. Darf ich?«

Rosa Costali ließ mit keiner Regung erkennen, dass sie ihn verstanden hatte. Langsam streckte Varotto den Arm aus und berührte die linke Hand der Frau.

»Signora, es ist sehr wichtig für uns.« Seine Stimme klang beruhigend, als wollte er die Frau hypnotisieren. »Wir möchten diejenigen finden, die Ihrem Sohn ... die Ihnen das angetan haben. Rosa, bitte helfen Sie uns.«

Da drehte die Frau mit einem Ruck den Kopf zu ihm. Erschrocken zog Varotto seine Hand zurück.

»Warum sollte ich Ihnen helfen, Commissario?«, fragte sie, und zu Varottos Überraschung klang ihre Stimme sehr fest. »Vor vielen Jahren hat man mein Kind entführt. Die Polizei hat nach vier Wochen die Suche eingestellt und uns erklärt, man könne nichts mehr für uns tun. Immer und immer wieder habe ich ihnen gesagt, dass Stefano noch lebt. Eine Mutter spürt so etwas, Commissario. Jeden Tag sind mein Mann und ich zur Questura gegangen und haben sie angefleht, weiter nach unserem Sohn zu suchen, bis man uns irgendwann zu verstehen gegeben hat, dass man sich um andere Fälle kümmern müsse. Fälle, bei denen noch Hoffnung bestehe. Mein Mann hat die Kaltschnäuzigkeit der Beamten nicht verkraftet, er ist daran zerbrochen. Jetzt, nach all den Jahren, hat man meinen Jungen umgebracht. Er ist tot, weil Ihre Kollegen mir damals nicht geglaubt haben, Commissario. Und nun stehen Sie vor mir und bitten mich, Ihnen zu helfen? Jetzt, wo es für Stefano wirklich zu spät ist?«

Ein furchtbares Schluchzen erstickte ihre Stimme. Tränen rannen ihr über die Wangen, und Varotto befürchtete schon, sie würde hysterisch werden, als ihre Augen sich auf einmal weiteten.

»Wer sind Sie?«, fragte Rosa Costali, sah aber an ihm vorbei. »Von der Polizei sind Sie jedenfalls nicht.«

Ohne dass Varotto es bemerkt hatte, war Matthias näher getreten. »Nein, ich bin kein Polizist, Signora«, sagte er, schob den Besucherstuhl an ihr Bett und setzte sich. Sanft umschloss er ihre faltige Hand mit seinen beiden Händen und sah ihr voll Mitgefühl in die Augen.

»Sind Sie ein Engel?«, fragte sie, und ihr Blick glitt über seine langen hellblonden Haare. »Ein Mann Gottes?«

»Ich lebe in einem Kloster«, wich Matthias der Frage aus.

»Warum sind Sie hier?«

Matthias lächelte sie an. »Um Sie in Ihrem Leid zu trösten, Signora. Ihr Sohn war bestimmt ein ganz besonderes Kind, das seiner Mutter viel Freude gemacht hat.«

Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen. »Ja, das war mein Stefano. Ein ganz besonderer Junge.«

»Signora, ich weiß, wie es ist, wenn man plötzlich einen geliebten Menschen verliert. Ich hatte einen kleinen Bruder, den Gott fast im gleichen Alter zu sich nahm, in dem Ihr Stefano war, als er damals verschwand.«

Die Frau sah ihn mit großen Augen an. »War er krank?«

»Nein, Signora«, entgegnete Matthias leise und senkte den Kopf. »Er ist ermordet worden.«

Sie entzog ihm ihre Hand, um sie gleich darauf auf seine zu legen. »O Gott ... Und hat man den ... den Mörder gefunden?«

Es vergingen einige Sekunden, bis Matthias antwortete. »Man musste ihn nicht suchen, Signora. Der Mörder meines kleinen Bruders war unser Vater.«

Varotto, der zwischenzeitlich einen Schritt zurückgetreten war, zog deutlich hörbar die Luft ein.

»Aber das ist nicht . . .«

Matthias wurde vom Klingeln eines Mobiltelefons unterbrochen. Der Commissario zog sein Handy aus der Jackentasche und wandte sich ab. Nach einigen Sekunden sagte er: »Ich komme«, und steckte dann das Handy wieder ein.

»Wir müssen los«, erklärte er Matthias, der ihn fragend ansah. »Es ist ... wegen der Nachricht . . .«

Matthias verstand und erhob sich. »Signora, wenn Sie erlauben, komme ich wieder. Dann können wir uns über die beiden kleinen Jungen unterhalten, die uns viel bedeutet haben.«

Rosa Costali nickte erschüttert. Als die beiden Männer das Zimmer verließen, richtete sich ihr Blick wieder gegen die Zimmerdecke.