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Für einer Jogginglauf
war es eigentlich zu kalt, aber ich wollte mich bewegen. April ist
der übelste Monat, wie T. S. Eliot einmal geschrieben hat. Ich
persönlich halte den März allerdings für noch schlimmer. Es wird
zwar behauptet, im März beginne der Frühling, aber in Wahrheit
herrscht doch heimlich noch immer der Winter.
Ich zog zwei Schichten Leggings, einen
Rollkragenpulli und das ausgewaschene Flanellhemd an, das Red
zurückgelassen hatte. Zuerst hatte ich es weggeräumt, wie ich das
auch mit seinem Ring getan hatte. Doch dann verbrachte ich viele
schlaflose Nächte, in denen ich nach seinen Dingen suchte – seiner
Jeans, seiner Armbanduhr und seinen ausgetretenen Cowboystiefeln,
all den Sachen also, die er in jener Nacht vor dem Haus meiner
Mutter zurückgelassen hatte. Ich fühlte mich noch immer nicht dazu
berechtigt, Reds Ring zu tragen. Aber sein Hemd anzuziehen,
erschien mir nicht falsch. Sein Geruch hing noch im Stoff, wenn er
auch schwächer wurde, je öfter ich das Hemd trug.
Ich stand auf der Warteliste für die neuen
Assistenzärzte am Institut. In der Zwischenzeit hatte ich ein
Zimmer in Lillianas Wohnung an der East Side gemietet und einen
Job bei der Humane Society gefunden, wo
ich Katzen und Hunde sterilisierte und kastrierte.
In meinen freien Stunden arbeitete ich für
Malachy Knox, der in der Zwischenzeit sein Haus in Queens in ein
Labor umfunktioniert hatte. Ich hatte mich gleich mit ihm in
Verbindung gesetzt, als ich wieder nach New York gekommen war, da
ich hoffte, dass er mir etwas geben konnte, was meinen Wunsch nach
Verwandlung zeitweilig unterdrücken würde.
Knox schien die Herausforderung gerne
anzunehmen. Er mischte eine stinkende Brühe zusammen, die ich jeden
Morgen stoisch trank. Seitdem waren drei Monate vergangen, und ich
hatte mich kein einziges Mal verwandelt. Allerdings hatte ich seit
diesem Zeitpunkt auch keine Periode mehr gehabt, und mein Haar
schien dünner zu werden. Doch das nahm ich gerne in Kauf. Es war
mir immer noch lieber, als nach Northside zu fahren und dort meinem
wölfischen Selbst freien Lauf zu lassen, ohne dabei von Red geführt
zu werden. Denn dank meiner großartigen Entscheidung am
Silvesterabend war Red ganz und gar aus meinem Leben
verschwunden.
Was Malachy Knox betraf, so schien sich seine
Gesundheit ein wenig verbessert zu haben. Er wollte seine
Untersuchungen dringend vorantreiben – am liebsten mit mir als
Patientin. Da ich mich weigerte, ihm diesen Gefallen zu tun, plante
er, bald möglichst eine Praxis in Northside zu eröffnen, sobald er
das nötige Geld dafür zusammen hatte. Die Idee, dass etwas in
dieser Stadt bestimmte Verhaltensweisen und Vorgänge zu fördern
schien, kam ihm im Gegensatz zu mir ganz und gar nicht abwegig vor.
Allerdings hatte ich mich in den letzten Jahren und Monaten
nicht unbedingt durch eine gute Menschenkenntnis oder auch eine
Sensibilität für magische Zusammenhänge hervorgetan.
Ich lebte also wieder in Manhattan. Lilliana und
ich verbrachten wunderbare Stunden zusammen. Wir kochten und sahen
uns abends die gesamte Fawlty-Towers-Serie
auf DVD an. Am Wochenende gingen wir ins Museum und in
Ausstellungen oder schauten uns im Kino irgendwelche ausländischen
Filme an. Ich hatte wirklich keinerlei Anlass, mich zu
beklagen.
Da gab es nur das kleine Problem, dass Red mir
schrecklich fehlte. Das Gefühl eines echten Verlustes ließ sich
einfach nicht vertreiben, obwohl ich angefangen hatte einzusehen,
dass ich ihn wohl wirklich verloren hatte. Ich hörte auf, Jackie
anzurufen und sie zu fragen, ob sie ihn vielleicht gesehen hatte.
Ich hörte auch auf, die Nummer auf seiner Visitenkarte zu wählen.
Meine Mutter baute mich so liebenswürdig wie immer auf. »Wenn ein
Mann bereit ist, sich niederzulassen«, wiederholte sie des Öfteren,
»dann tut er das mit der Frau, die auch dazu bereit ist. So ist das
Leben. Red wollte eine Frau und Kinder, und du hast abgelehnt. Hör
auf, ihm nachzutrauern und schau nach vorn. Such dir einen
anderen.«
Aber wie sollte ich einem potentiellen
Kandidaten von dieser kleinen medizinischen Komplikation in meinem
Leben erzählen, die mich einmal im Monat haarig werden ließ und
wahnwitzig spitz machte? Und wie sollte ich mich mit Blümchensex
zufriedengeben, nachdem ich erlebt hatte, was es heißen konnte,
sich völlig fallenzulassen? Vermutlich hätte ich mich nach einem
geeigneten Biker umsehen können. Aber ich sehnte mich nicht einfach
nur
nach Gefahr, ich sehnte mich nach echtem Verlangen. Ich wollte ein
wildes Tier, das an einen gemeinsamen Ritt in den Sonnenuntergang
glaubte. Und meine Sehnsucht nach diesem Tier schien täglich zu
wachsen.
Ich lief zum Central Park. In der Luft konnte
man bereits den Wechsel der Jahreszeiten riechen. An diesem Tag war
ganz New York draußen auf den Beinen. Die große Grünfläche in der
Mitte des Parks war voller Hunde – und ihrer Besitzer. Ich genoss
es, unter Leute zu kommen. Meist trainierte ich in einem
Fitnessstudio in der Nähe der Wohnung, was wesentlich einsamer
war.
Ich schaltete meinen iPod ein. Helen Reddy
begann davon zu singen, wie sie bereits einmal am Boden zerstört
gewesen, jetzt aber viel zu klug sei, als dass ihr das nochmal
passieren könnte. Die Luft war kühl genug, um sie in meinen Lungen
zu spüren, und der unzivilisierte Teil in mir flüsterte mir zu:
Lauf! Es war auch der Teil, der den Geruch des Parks so dringend
brauchte, dass es ihm nicht reichte, einfach nur spazieren zu
gehen. Ich wollte springen und rennen, was das Zeug hielt. Also
lief ich los.
Als ich etwas an Geschwindigkeit zulegte,
geschah es. Zuerst verfolgte mich ein Golden Retriever zu meiner
Linken, der sich vor Aufregung von der Leine seiner dünnen
Hundesitterin losriss. Dann schlossen sich die drei Terrier an, die
sie ebenfalls ausführte, und schließlich konnte auch der Dackel
nicht mehr an sich halten.
»He!« Die Frau rannte den Hunden hinterher und
versuchte ihre Leinen zu fassen. Doch nun kamen auch noch andere
Hunde angerast. Ein Beagle machte kehrt und lief auf mich zu. Ein
Basset hörte plötzlich auf, an etwas zu schnüffeln und stürzte
herbei, ohne dass seine Besitzer
etwas dagegen unternehmen konnten. Ein junger schwarzer
Schäferhundmischling sprang über eine Bank und bellte begeistert,
als er mich schließlich als Erster erreichte.
Ohne anzuhalten sah ich in sein glückliches,
freundliches Gesicht, während ich versuchte, nicht langsamer zu
werden. Joggen ergab keinen Sinn und zeigte auch keine Wirkung,
wenn man mittendrin stehen blieb. »Was ist los, mein Guter? Was ist
hier los?« Ich tätschelte ihm den Kopf und rannte einen Hügel
hinunter. Die Hunde folgten mir. Der Basset kam ins Schlittern, so
dringend wollte er mithalten.
»Komm hierher! He! Komm zurück! Böses Mädchen!«,
rief jemand hinter mir.
Für einen Moment glaubte ich, die Rufe würden
mir gelten. Dann warf ich einen Blick über meine Schulter und
entdeckte vor dem blassen Frühlingshimmel eine solche Ansammlung
von Hunden, dass sie dem Rattenfänger von Hameln zur Ehre gereicht
hätte. Es waren alle möglichen Rassen und Mischungen, die mir da
folgten. Alle hatten sich von ihren Herrchen und Frauchen
losgerissen und wurden von dem unwiderstehlichen, aufpeitschenden
Geruch eines Wolfes angezogen. Ich war nicht irgendeine Joggerin.
Ich weckte ihre tiefsten Instinkte. Neugierig versuchte ich zu
zählen, wie viele es sein mochten. Ich kam auf zehn, einschließlich
eines Samojede, eines großen schwarzen Bouvier mit einem eckigen
Kopf, zwei Collies und einer gewaltigen Deutschen Dogge.
Auf einmal verstand ich, warum sich so viele
Leute für riesige Jagd- und Schäferhunde entschieden, auch wenn sie
in winzigen Manhattaner Appartements lebten. In einer so großen
Stadt wie dieser brauchte man manchmal einen
Hund in der Größe eines Menschen, um ein Rudel bilden zu können.
Auch wenn es nicht immer einfach war, diese Riesen davon zu
überzeugen, dass man das Sagen hatte.
Ich schien allerdings keine Probleme mehr damit
zu haben, als Führungspersönlichkeit aufzutreten. Wären mir die
Hunde sonst gefolgt? Oder wollten sie mich vielleicht einfach nur
anfallen und fressen?
Ich rannte immer schneller. Ein hysterisches
Lachen stieg in meiner Kehle auf. In Windeseile lief ich durch den
ganzen Central Park und die Dritte Straße hinauf bis zu Lillianas
Wohnung, wo ich in der Hast kaum den Schlüssel ins Schloss
brachte.
Die Hunde wurden wild und bellten und jaulten,
als ich es schließlich geschafft hatte, die Haustür zu öffnen und
sie gerade noch rechtzeitig vor ihren Nasen zuzuschmettern. Voller
Energie rannte ich die Treppe hinauf. Oben stand ich vor der
Wohnungstür und rang um Luft. Keuchend stützte ich mich mit einer
Hand an der Tür ab, die ich eine Dreiviertelstunde zuvor sorgfältig
verschlossen hatte. Doch jetzt war sie nur noch angelehnt.
Der Schrecken dauerte nur eine Sekunde, denn ich
konnte riechen, wer da in das Appartement eingedrungen war. Die
Luft war von seinem Geruch erfüllt. Trotzdem vermochte ich es nicht
so recht zu fassen, als ich Red entdeckte – in Lillianas Sessel
sitzend. Auf seinem Gesicht zeigte sich sein mir so vertrautes
Lächeln.
»Hab ich lange genug gewartet, Doc?«, fragte er.
»Ich wollte erst bis April durchhalten, weil ich dachte, dass du es
dann auch spüren würdest. Aber du hast mir einfach zu sehr
gefehlt.«
Ich starrte ihn an. Es war mir ein wenig
peinlich, so verschwitzt,
ohne Make-up und mit einem zerzausten Pferdeschwanz vor ihm zu
stehen. »Wie bist du reingekommen?«, fragte ich.
»Über die Feuerleiter.«
»Aber die Fenster waren verriegelt.«
»Hat dir das Jackie nie erzählt? Bevor ich mit
der Ausbildung bei dem Schamanen angefangen habe, war ich eine
Weile mit einem Meisterdieb unterwegs.«
Ich kam näher. Er war dünner geworden, auf
seinem Kinn zeigte sich ein rotgrauer Stoppelbart. Er trug eine
umgedrehte Baseballmütze und ein grauenvolles grünes Sweatshirt mit
dem Bild eines Hirschen. Wenn ich ihm noch nie zuvor begegnet wäre,
hätte ich ihn wohl als einen Kerl eingeschätzt, der von der
Ladefläche eines Pick-up aus auf wehrlose Tiere schoss.
Aber ich kannte ihn ja, und mein Bauch
verkrampfte sich vor Aufregung und Angst. Ich hatte Mühe,
regelmäßig zu atmen. Ganz ruhig, redete ich mir innerlich zu.
»Ich habe dich oft angerufen, Red. Aber du hast
nie zurückgerufen, und Jackie hat immer nur gemeint, du wärst nicht
in Northside.«
Er schwang die Beine von der Sessellehne und
stand auf. »Ich weiß. Jackie hat mir nach meiner Rückkehr aus
Kanada erzählt, dass du sie ein paarmal angerufen hast.«
»Seit wann bist du wieder da?«
»Seit drei Tagen. Es war leichter, am Anfang
gleich ganz weit entfernt zu sein... wenn du weißt, was ich meine.
Du hast an Silvester so überzeugt geklungen, dass ich es für das
Beste hielt, bis zum Frühjahr zu warten. Noch fühlt es sich zwar
nicht nach Frühjahr an, aber das kommt schon noch. Man kann es doch
fast riechen, nicht wahr?«
Ich berührte sein Gesicht, das von der
Wintersonne noch brauner geworden war. Der Schock, den diese
Berührung in mir auslöste, schoss durch meine Arme. »Und was
passiert im Frühling?«, fragte ich ein wenig atemlos.
Red schlang die Arme um mich und küsste mich so
leidenschaftlich, dass meine Zähne schmerzten. Dann löste er sich
und lachte über den Ausdruck in meinem Gesicht, nur um mich gleich
schon wieder zu küssen. Diesmal war es ein noch heftigerer Kuss,
bei dem er meinen Hinterkopf mit seiner Hand umschloss.
»Hör zu. Wie klingt das in deinen Ohren? Komm
und leb mit mir, sei meine Geliebte, und wenn du nicht schlafen
kannst, dann gehen wir bis zum Morgengrauen Schafe jagen. Keine
einsamen Nächte mehr. Was meinst du?«
»Ich habe mich bisher in puncto Männer ziemlich
dämlich verhalten.«
»Und ich in puncto Frauen. Ich bin immer denen
hinterher, die am schnellsten weggerannt sind.«
»Ich will aber nicht wegrennen.«
»Natürlich willst du das. Aber du willst dich
auch fangen lassen.«
Er fasste mich an den Handgelenken an und hielt
sie hinter meinem Rücken fest, während wir uns erneut küssten.
Deutlich konnte ich das wilde Pochen seines Herzens an meiner Brust
spüren.
»Bist du bereit für ein kleines Abenteuer,
Doc?«
»Was für ein Abenteuer?«
»Wie wäre es zum Beispiel mit einem Abenteuer,
bei dem du dich auf einem Motorrad an mich klammerst? Wir
verbringen eine Weile damit, den Westen zu erkunden. Ich zeige dir,
wo ich in Texas aufgewachsen bin. Und wenn es
dann wirklich wärmer wird, machen wir uns auf den Weg nach Kanada,
wo mein Großvater gelebt hat.«
»Und dann?«
Red fuhr zärtlich mit dem Daumen über meinen
Mund. »Und dann kehren wir nach Hause zurück.« Er küsste mich
erneut, und diesmal fand seine Zunge die meine.
Vielleicht gab es irgendwo zwischen völliger
Selbstaufgabe und vollkommener Unabhängigkeit doch einen Mittelweg
für mich. Vielleicht fand ich eine Möglichkeit, mir eine Karriere
als Tierärztin aufzubauen, die mich Red näherbringen und ihn nicht
weiter von mir entfernen würde.
Vielleicht dachte ich auch nicht mehr rational
und logisch, sondern ließ mich nur noch von meinen Gefühlen
leiten.
Aber wenn man ehrlich war, so stellte Manhattan
doch nicht die richtige Umgebung für ein Wesen auf vier Beinen dar.
Und schon gar nicht für ein so ungebändigtes Tier wie einen
Wolf.
Ich löste mich von Red, um die Worte zu
formulieren, die ihm zeigten, dass alle meine Antworten auf seine
Fragen »Ja« hießen.
Aber Red knurrte nun und umkreiste mich gierig.
Ich gab ein nervöses Lachen von mir.
»Was soll ich jetzt tun?«, fragte ich etwas
hilflos. »Oh, Großmutter, was hast du für große Zähne!«
Red lächelte, ohne zu antworten. Ich verspürte
tatsächlich etwas Angst. Zum ersten Mal erlebte ich Red so, wie er
war – ohne Vorsicht, ohne Zurückhaltung. Er war gar nicht mehr
sanft und rücksichtsvoll, weil ich meine Metamorphose zum ersten
Mal erlebte. Und auch nicht mehr verhalten, weil er befürchtete,
mich durch seine Intensität
erschrecken zu können. Nein, er war ein Mann, der sich seiner und
meiner ganz sicher war, und während er weiterhin um mich kreiste,
spürte ich, wie sich die Machtverhältnisse zwischen uns verschoben
und neu anordneten.
Ich kannte weder den Namen dieses Spiels noch
seine Regeln. In all den Jahren, in denen Hunter und ich
miteinander schliefen, hatten wir uns nie ganz aufeinander
eingelassen. Es war irgendwie klar, dass der eine diese Berührung
mochte, aber eine andere nicht, dass ich ihn hier, aber nicht dort
anfassen durfte. Wir waren wie zwei Menschen, die jedes Jahr zur
selben Zeit an denselben Ort in die Ferien fahren, um dort im
selben Hotel zu übernachten und dieselben Sehenswürdigkeiten zu
besuchen. Als Hunter aus Rumänien zurückgekehrt war, hatte er
begonnen, diese Grenzen hier und da zu überschreiten. Aber nur zu
einem bestimmten Teil. Vielleicht hatte er geahnt, dass er jene
ausgeprägte Grausamkeit in sich entdeckt hätte, wenn er sich zu
weit vorgewagt hätte.
Aber das hier war etwas ganz anderes. Red war
anders. Ich wich nicht zurück, als er seine Kreise immer enger um
mich zog, sondern zwang mich, den Blickkontakt zu wahren – diese
urtümlichste aller Intimitäten, die tiefste animalische Begierden
wecken kann.
Ein Schauder lief durch meinen Körper. Ich
wusste, was er bedeutete. Er war ein Zeichen für die uralte
Sehnsucht danach – und zugleich die Angst davor -, sich hinzugeben
und völlig der Leidenschaft zu überlassen.
Reds Zähne umfingen meine Schulter. Endlich
hatte ich mein Schicksal gefunden – es fühlte sich herrlich
an.
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