40
Für einer Jogginglauf war es eigentlich zu kalt, aber ich wollte mich bewegen. April ist der übelste Monat, wie T. S. Eliot einmal geschrieben hat. Ich persönlich halte den März allerdings für noch schlimmer. Es wird zwar behauptet, im März beginne der Frühling, aber in Wahrheit herrscht doch heimlich noch immer der Winter.
Ich zog zwei Schichten Leggings, einen Rollkragenpulli und das ausgewaschene Flanellhemd an, das Red zurückgelassen hatte. Zuerst hatte ich es weggeräumt, wie ich das auch mit seinem Ring getan hatte. Doch dann verbrachte ich viele schlaflose Nächte, in denen ich nach seinen Dingen suchte – seiner Jeans, seiner Armbanduhr und seinen ausgetretenen Cowboystiefeln, all den Sachen also, die er in jener Nacht vor dem Haus meiner Mutter zurückgelassen hatte. Ich fühlte mich noch immer nicht dazu berechtigt, Reds Ring zu tragen. Aber sein Hemd anzuziehen, erschien mir nicht falsch. Sein Geruch hing noch im Stoff, wenn er auch schwächer wurde, je öfter ich das Hemd trug.
Ich stand auf der Warteliste für die neuen Assistenzärzte am Institut. In der Zwischenzeit hatte ich ein Zimmer in Lillianas Wohnung an der East Side gemietet und einen Job bei der Humane Society gefunden, wo ich Katzen und Hunde sterilisierte und kastrierte.
In meinen freien Stunden arbeitete ich für Malachy Knox, der in der Zwischenzeit sein Haus in Queens in ein Labor umfunktioniert hatte. Ich hatte mich gleich mit ihm in Verbindung gesetzt, als ich wieder nach New York gekommen war, da ich hoffte, dass er mir etwas geben konnte, was meinen Wunsch nach Verwandlung zeitweilig unterdrücken würde.
Knox schien die Herausforderung gerne anzunehmen. Er mischte eine stinkende Brühe zusammen, die ich jeden Morgen stoisch trank. Seitdem waren drei Monate vergangen, und ich hatte mich kein einziges Mal verwandelt. Allerdings hatte ich seit diesem Zeitpunkt auch keine Periode mehr gehabt, und mein Haar schien dünner zu werden. Doch das nahm ich gerne in Kauf. Es war mir immer noch lieber, als nach Northside zu fahren und dort meinem wölfischen Selbst freien Lauf zu lassen, ohne dabei von Red geführt zu werden. Denn dank meiner großartigen Entscheidung am Silvesterabend war Red ganz und gar aus meinem Leben verschwunden.
Was Malachy Knox betraf, so schien sich seine Gesundheit ein wenig verbessert zu haben. Er wollte seine Untersuchungen dringend vorantreiben – am liebsten mit mir als Patientin. Da ich mich weigerte, ihm diesen Gefallen zu tun, plante er, bald möglichst eine Praxis in Northside zu eröffnen, sobald er das nötige Geld dafür zusammen hatte. Die Idee, dass etwas in dieser Stadt bestimmte Verhaltensweisen und Vorgänge zu fördern schien, kam ihm im Gegensatz zu mir ganz und gar nicht abwegig vor. Allerdings hatte ich mich in den letzten Jahren und Monaten nicht unbedingt durch eine gute Menschenkenntnis oder auch eine Sensibilität für magische Zusammenhänge hervorgetan.
Ich lebte also wieder in Manhattan. Lilliana und ich verbrachten wunderbare Stunden zusammen. Wir kochten und sahen uns abends die gesamte Fawlty-Towers-Serie auf DVD an. Am Wochenende gingen wir ins Museum und in Ausstellungen oder schauten uns im Kino irgendwelche ausländischen Filme an. Ich hatte wirklich keinerlei Anlass, mich zu beklagen.
Da gab es nur das kleine Problem, dass Red mir schrecklich fehlte. Das Gefühl eines echten Verlustes ließ sich einfach nicht vertreiben, obwohl ich angefangen hatte einzusehen, dass ich ihn wohl wirklich verloren hatte. Ich hörte auf, Jackie anzurufen und sie zu fragen, ob sie ihn vielleicht gesehen hatte. Ich hörte auch auf, die Nummer auf seiner Visitenkarte zu wählen. Meine Mutter baute mich so liebenswürdig wie immer auf. »Wenn ein Mann bereit ist, sich niederzulassen«, wiederholte sie des Öfteren, »dann tut er das mit der Frau, die auch dazu bereit ist. So ist das Leben. Red wollte eine Frau und Kinder, und du hast abgelehnt. Hör auf, ihm nachzutrauern und schau nach vorn. Such dir einen anderen.«
Aber wie sollte ich einem potentiellen Kandidaten von dieser kleinen medizinischen Komplikation in meinem Leben erzählen, die mich einmal im Monat haarig werden ließ und wahnwitzig spitz machte? Und wie sollte ich mich mit Blümchensex zufriedengeben, nachdem ich erlebt hatte, was es heißen konnte, sich völlig fallenzulassen? Vermutlich hätte ich mich nach einem geeigneten Biker umsehen können. Aber ich sehnte mich nicht einfach nur nach Gefahr, ich sehnte mich nach echtem Verlangen. Ich wollte ein wildes Tier, das an einen gemeinsamen Ritt in den Sonnenuntergang glaubte. Und meine Sehnsucht nach diesem Tier schien täglich zu wachsen.
Ich lief zum Central Park. In der Luft konnte man bereits den Wechsel der Jahreszeiten riechen. An diesem Tag war ganz New York draußen auf den Beinen. Die große Grünfläche in der Mitte des Parks war voller Hunde – und ihrer Besitzer. Ich genoss es, unter Leute zu kommen. Meist trainierte ich in einem Fitnessstudio in der Nähe der Wohnung, was wesentlich einsamer war.
Ich schaltete meinen iPod ein. Helen Reddy begann davon zu singen, wie sie bereits einmal am Boden zerstört gewesen, jetzt aber viel zu klug sei, als dass ihr das nochmal passieren könnte. Die Luft war kühl genug, um sie in meinen Lungen zu spüren, und der unzivilisierte Teil in mir flüsterte mir zu: Lauf! Es war auch der Teil, der den Geruch des Parks so dringend brauchte, dass es ihm nicht reichte, einfach nur spazieren zu gehen. Ich wollte springen und rennen, was das Zeug hielt. Also lief ich los.
Als ich etwas an Geschwindigkeit zulegte, geschah es. Zuerst verfolgte mich ein Golden Retriever zu meiner Linken, der sich vor Aufregung von der Leine seiner dünnen Hundesitterin losriss. Dann schlossen sich die drei Terrier an, die sie ebenfalls ausführte, und schließlich konnte auch der Dackel nicht mehr an sich halten.
»He!« Die Frau rannte den Hunden hinterher und versuchte ihre Leinen zu fassen. Doch nun kamen auch noch andere Hunde angerast. Ein Beagle machte kehrt und lief auf mich zu. Ein Basset hörte plötzlich auf, an etwas zu schnüffeln und stürzte herbei, ohne dass seine Besitzer etwas dagegen unternehmen konnten. Ein junger schwarzer Schäferhundmischling sprang über eine Bank und bellte begeistert, als er mich schließlich als Erster erreichte.
Ohne anzuhalten sah ich in sein glückliches, freundliches Gesicht, während ich versuchte, nicht langsamer zu werden. Joggen ergab keinen Sinn und zeigte auch keine Wirkung, wenn man mittendrin stehen blieb. »Was ist los, mein Guter? Was ist hier los?« Ich tätschelte ihm den Kopf und rannte einen Hügel hinunter. Die Hunde folgten mir. Der Basset kam ins Schlittern, so dringend wollte er mithalten.
»Komm hierher! He! Komm zurück! Böses Mädchen!«, rief jemand hinter mir.
Für einen Moment glaubte ich, die Rufe würden mir gelten. Dann warf ich einen Blick über meine Schulter und entdeckte vor dem blassen Frühlingshimmel eine solche Ansammlung von Hunden, dass sie dem Rattenfänger von Hameln zur Ehre gereicht hätte. Es waren alle möglichen Rassen und Mischungen, die mir da folgten. Alle hatten sich von ihren Herrchen und Frauchen losgerissen und wurden von dem unwiderstehlichen, aufpeitschenden Geruch eines Wolfes angezogen. Ich war nicht irgendeine Joggerin. Ich weckte ihre tiefsten Instinkte. Neugierig versuchte ich zu zählen, wie viele es sein mochten. Ich kam auf zehn, einschließlich eines Samojede, eines großen schwarzen Bouvier mit einem eckigen Kopf, zwei Collies und einer gewaltigen Deutschen Dogge.
Auf einmal verstand ich, warum sich so viele Leute für riesige Jagd- und Schäferhunde entschieden, auch wenn sie in winzigen Manhattaner Appartements lebten. In einer so großen Stadt wie dieser brauchte man manchmal einen Hund in der Größe eines Menschen, um ein Rudel bilden zu können. Auch wenn es nicht immer einfach war, diese Riesen davon zu überzeugen, dass man das Sagen hatte.
Ich schien allerdings keine Probleme mehr damit zu haben, als Führungspersönlichkeit aufzutreten. Wären mir die Hunde sonst gefolgt? Oder wollten sie mich vielleicht einfach nur anfallen und fressen?
Ich rannte immer schneller. Ein hysterisches Lachen stieg in meiner Kehle auf. In Windeseile lief ich durch den ganzen Central Park und die Dritte Straße hinauf bis zu Lillianas Wohnung, wo ich in der Hast kaum den Schlüssel ins Schloss brachte.
Die Hunde wurden wild und bellten und jaulten, als ich es schließlich geschafft hatte, die Haustür zu öffnen und sie gerade noch rechtzeitig vor ihren Nasen zuzuschmettern. Voller Energie rannte ich die Treppe hinauf. Oben stand ich vor der Wohnungstür und rang um Luft. Keuchend stützte ich mich mit einer Hand an der Tür ab, die ich eine Dreiviertelstunde zuvor sorgfältig verschlossen hatte. Doch jetzt war sie nur noch angelehnt.
Der Schrecken dauerte nur eine Sekunde, denn ich konnte riechen, wer da in das Appartement eingedrungen war. Die Luft war von seinem Geruch erfüllt. Trotzdem vermochte ich es nicht so recht zu fassen, als ich Red entdeckte – in Lillianas Sessel sitzend. Auf seinem Gesicht zeigte sich sein mir so vertrautes Lächeln.
»Hab ich lange genug gewartet, Doc?«, fragte er. »Ich wollte erst bis April durchhalten, weil ich dachte, dass du es dann auch spüren würdest. Aber du hast mir einfach zu sehr gefehlt.«
Ich starrte ihn an. Es war mir ein wenig peinlich, so verschwitzt, ohne Make-up und mit einem zerzausten Pferdeschwanz vor ihm zu stehen. »Wie bist du reingekommen?«, fragte ich.
»Über die Feuerleiter.«
»Aber die Fenster waren verriegelt.«
»Hat dir das Jackie nie erzählt? Bevor ich mit der Ausbildung bei dem Schamanen angefangen habe, war ich eine Weile mit einem Meisterdieb unterwegs.«
Ich kam näher. Er war dünner geworden, auf seinem Kinn zeigte sich ein rotgrauer Stoppelbart. Er trug eine umgedrehte Baseballmütze und ein grauenvolles grünes Sweatshirt mit dem Bild eines Hirschen. Wenn ich ihm noch nie zuvor begegnet wäre, hätte ich ihn wohl als einen Kerl eingeschätzt, der von der Ladefläche eines Pick-up aus auf wehrlose Tiere schoss.
Aber ich kannte ihn ja, und mein Bauch verkrampfte sich vor Aufregung und Angst. Ich hatte Mühe, regelmäßig zu atmen. Ganz ruhig, redete ich mir innerlich zu.
»Ich habe dich oft angerufen, Red. Aber du hast nie zurückgerufen, und Jackie hat immer nur gemeint, du wärst nicht in Northside.«
Er schwang die Beine von der Sessellehne und stand auf. »Ich weiß. Jackie hat mir nach meiner Rückkehr aus Kanada erzählt, dass du sie ein paarmal angerufen hast.«
»Seit wann bist du wieder da?«
»Seit drei Tagen. Es war leichter, am Anfang gleich ganz weit entfernt zu sein... wenn du weißt, was ich meine. Du hast an Silvester so überzeugt geklungen, dass ich es für das Beste hielt, bis zum Frühjahr zu warten. Noch fühlt es sich zwar nicht nach Frühjahr an, aber das kommt schon noch. Man kann es doch fast riechen, nicht wahr?«
Ich berührte sein Gesicht, das von der Wintersonne noch brauner geworden war. Der Schock, den diese Berührung in mir auslöste, schoss durch meine Arme. »Und was passiert im Frühling?«, fragte ich ein wenig atemlos.
Red schlang die Arme um mich und küsste mich so leidenschaftlich, dass meine Zähne schmerzten. Dann löste er sich und lachte über den Ausdruck in meinem Gesicht, nur um mich gleich schon wieder zu küssen. Diesmal war es ein noch heftigerer Kuss, bei dem er meinen Hinterkopf mit seiner Hand umschloss.
»Hör zu. Wie klingt das in deinen Ohren? Komm und leb mit mir, sei meine Geliebte, und wenn du nicht schlafen kannst, dann gehen wir bis zum Morgengrauen Schafe jagen. Keine einsamen Nächte mehr. Was meinst du?«
»Ich habe mich bisher in puncto Männer ziemlich dämlich verhalten.«
»Und ich in puncto Frauen. Ich bin immer denen hinterher, die am schnellsten weggerannt sind.«
»Ich will aber nicht wegrennen.«
»Natürlich willst du das. Aber du willst dich auch fangen lassen.«
Er fasste mich an den Handgelenken an und hielt sie hinter meinem Rücken fest, während wir uns erneut küssten. Deutlich konnte ich das wilde Pochen seines Herzens an meiner Brust spüren.
»Bist du bereit für ein kleines Abenteuer, Doc?«
»Was für ein Abenteuer?«
»Wie wäre es zum Beispiel mit einem Abenteuer, bei dem du dich auf einem Motorrad an mich klammerst? Wir verbringen eine Weile damit, den Westen zu erkunden. Ich zeige dir, wo ich in Texas aufgewachsen bin. Und wenn es dann wirklich wärmer wird, machen wir uns auf den Weg nach Kanada, wo mein Großvater gelebt hat.«
»Und dann?«
Red fuhr zärtlich mit dem Daumen über meinen Mund. »Und dann kehren wir nach Hause zurück.« Er küsste mich erneut, und diesmal fand seine Zunge die meine.
Vielleicht gab es irgendwo zwischen völliger Selbstaufgabe und vollkommener Unabhängigkeit doch einen Mittelweg für mich. Vielleicht fand ich eine Möglichkeit, mir eine Karriere als Tierärztin aufzubauen, die mich Red näherbringen und ihn nicht weiter von mir entfernen würde.
Vielleicht dachte ich auch nicht mehr rational und logisch, sondern ließ mich nur noch von meinen Gefühlen leiten.
Aber wenn man ehrlich war, so stellte Manhattan doch nicht die richtige Umgebung für ein Wesen auf vier Beinen dar. Und schon gar nicht für ein so ungebändigtes Tier wie einen Wolf.
Ich löste mich von Red, um die Worte zu formulieren, die ihm zeigten, dass alle meine Antworten auf seine Fragen »Ja« hießen.
Aber Red knurrte nun und umkreiste mich gierig. Ich gab ein nervöses Lachen von mir.
»Was soll ich jetzt tun?«, fragte ich etwas hilflos. »Oh, Großmutter, was hast du für große Zähne!«
Red lächelte, ohne zu antworten. Ich verspürte tatsächlich etwas Angst. Zum ersten Mal erlebte ich Red so, wie er war – ohne Vorsicht, ohne Zurückhaltung. Er war gar nicht mehr sanft und rücksichtsvoll, weil ich meine Metamorphose zum ersten Mal erlebte. Und auch nicht mehr verhalten, weil er befürchtete, mich durch seine Intensität erschrecken zu können. Nein, er war ein Mann, der sich seiner und meiner ganz sicher war, und während er weiterhin um mich kreiste, spürte ich, wie sich die Machtverhältnisse zwischen uns verschoben und neu anordneten.
Ich kannte weder den Namen dieses Spiels noch seine Regeln. In all den Jahren, in denen Hunter und ich miteinander schliefen, hatten wir uns nie ganz aufeinander eingelassen. Es war irgendwie klar, dass der eine diese Berührung mochte, aber eine andere nicht, dass ich ihn hier, aber nicht dort anfassen durfte. Wir waren wie zwei Menschen, die jedes Jahr zur selben Zeit an denselben Ort in die Ferien fahren, um dort im selben Hotel zu übernachten und dieselben Sehenswürdigkeiten zu besuchen. Als Hunter aus Rumänien zurückgekehrt war, hatte er begonnen, diese Grenzen hier und da zu überschreiten. Aber nur zu einem bestimmten Teil. Vielleicht hatte er geahnt, dass er jene ausgeprägte Grausamkeit in sich entdeckt hätte, wenn er sich zu weit vorgewagt hätte.
Aber das hier war etwas ganz anderes. Red war anders. Ich wich nicht zurück, als er seine Kreise immer enger um mich zog, sondern zwang mich, den Blickkontakt zu wahren – diese urtümlichste aller Intimitäten, die tiefste animalische Begierden wecken kann.
Ein Schauder lief durch meinen Körper. Ich wusste, was er bedeutete. Er war ein Zeichen für die uralte Sehnsucht danach – und zugleich die Angst davor -, sich hinzugeben und völlig der Leidenschaft zu überlassen.
Reds Zähne umfingen meine Schulter. Endlich hatte ich mein Schicksal gefunden – es fühlte sich herrlich an.
 
Lesen Sie weiter in: Alisa Sheckley: Wolfslied
Wolfstraeume Roman
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