20
Hunter trank zum Abendessen viel zu viel Alkohol und unterbrach mich immer wieder mit einer penetrant durchdringenden Stimme. So wollte Red von mir wissen, wie mir das Leben auf dem Land denn nun gefiele. Ehe ich ihm antworten konnte, meldete sich Hunter zu Wort.
»Ach, wisst ihr, Abs ist ein echtes Vorortmädchen. Für sie bedeutet Natur einen handtuchgroßen Garten und Probleme mit den Waschbären. Das hier ist alles etwas viel für dich, nicht wahr, Liebling?«
Als Jackie mir ein Kompliment über mein Chili machte, erzählte Hunter, wie viele Linsen- und Tofu-Gerichte er in den letzten Jahren hätte ertragen müssen. Er verkündete lautstark, man erführe ja nie, welche Nebenwirkungen eine angeblich gesunde Ernährung auf die Verdauung in Wahrheit hätte und wie stark die Blähungen seien, unter denen man bei einem solchen Essen zu leiden hätte. Und das solle gesund sein? Diesen Gestank einatmen zu müssen?
Nach kurzer Zeit wünschte ich mir, mich auch betrunken zu haben. Dann hätte ich zumindest nicht beschämt dasitzen und die Mienen von Jackie und Red wahrnehmen müssen, die mit jeder weiteren Minute gequälter wirkten. Ich hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen immer mehr zu verlieren und in ihrem Ansehen tief zu sinken. Ich entpuppte mich als eine Frau mit einem respektlosen und grobschlächtigen Mann.
Außerdem hatte ich mir vor lauter Aufregung und Scham den Teller mit dem Fleischchili gefüllt, was ich erst nach einer Weile merkte. Ich brach sogleich in Schweiß aus und hatte Mühe, nicht zu würgen. Totes Fleisch. Igitt, ich hatte einen Leichnam gegessen! Wahrscheinlich würde ich jetzt an Rinderwahn erkranken und als beschränkte Idiotin mit einem Schwamm als Hirn elendig eingehen. Ich schob meinen halbvollen Teller von mir.
»Ich helfe dir beim Abräumen«, bot Red an. Wir stapelten das Geschirr aufeinander und trugen es in die Küche hinaus. Nachdem das Fleisch verschwunden war, fühlte ich mich etwas besser. Hunter und Jackie unterhielten sich in der Zwischenzeit, wobei ich nur Wortfetzen wie »Schenkel«, »Brust« und »Hormone« aufschnappte sowie den Satz »Man muss es eine Weile köcheln lassen, ehe man zuschlägt«. Zuerst nahm ich an, dass sie über Fleischherstellung sprachen, doch je mehr ich hören konnte, desto stärker hatte ich den Eindruck, dass sie viel eher über Sex redeten. Auf dem Weg in die Küche fiel mir zum ersten Mal auf, dass Jackie vielleicht nicht hübsch sein mochte, aber doch ein erotisches Selbstbewusstsein ausstrahlte, das viele Männer bestimmt anziehend fanden.
»Alles in Ordnung?«, fragte Red, als ich das schmutzige Besteck ins Spülbecken legte. Er hatte bereits anfangen, den Topf mit dem angebrannten Fleischchili wie ein Wilder zu schrubben.
»Ja, alles in Ordnung. Lass das. Ich mach uns nur schnell etwas Obst zurecht.«
Red sah mich stirnrunzelnd an. »Musst du dich gleich übergeben?«
Ich war mir nicht sicher. Meine Kopfschmerzen waren zurückgekehrt, und ich schloss für einen Moment die Augen. Plötzlich spürte ich wieder Reds Hand, diesmal auf meinem Nacken.
»Okay, dir geht es offenbar nicht gut. Komm, wir gehen nach draußen.« Er führte mich auf die Veranda hinaus, wo es angenehm kühl war. Ich atmete mehrmals tief durch und fühlte mich sogleich ein wenig besser. Red rollte etwas zwischen seinen Fingern.
»Was tust du da?«
»Ich rolle dir einen Joint. Gegen die Übelkeit bewirkt der oft wahre Wunder.«
Ich hatte noch nie Marihuana geraucht. Eigentlich hatte ich sogar eine gewisse Phobie, was Drogen betraf, da ich als Kind einmal auf einer der wilden Partys meiner Eltern eine schlechte Erfahrung gemacht hatte. Aber Reds Art beruhigte mich. In seiner Gegenwart hatte ich irgendwie das Gefühl, als könnte mir nichts passieren. Außerdem schmeichelte es mir, dass er mich für jemanden hielt, der solchen Dingen offen gegenüberstand.
»Hier. Nur ein oder zwei Züge.«
»Lieber nicht.«
»Tut mir leid, Abra. Ich wollte nicht... Mist, irgendwie vergesse ich immer, dass die meisten etwas gegen Gras haben. Mein Großvater hielt dieses Zeug für wesentlich sicherer als Alkohol, solange man es nicht zu oft raucht. Er hat gefunden, dass es einem dabei helfen kann, in eine Art Trancezustand zu kommen und... na ja, auch egal. Ich mache den Joint am besten wieder aus.«
»Warte«, sagte ich und hielt ihn am Handgelenk fest. »Ist der denn sehr stark? Ich habe einmal aus Versehen eine Pille auf einer Party verschluckt, und das war schrecklich...« Bei der Erinnerung daran lief mir noch heute ein kalter Schauder über den Rücken. »Ich verliere nicht so gern die Kontrolle, weißt du.«
»Dieser Joint ist nicht stärker als ein Glas Wein. Ich habe das Marihuana selbst angebaut.« Er zündete ihn an und hielt ihn mir dann hin. Zögernd nahm ich einen Zug. Als ich den süßen Rauch einatmete, fühlte ich mich fast wie in der Schule, als wir zu viert in Josies Zimmer gesessen hatten, während ein Joint die Runde machte. Außer Josie und mir waren da noch Fred und Shawn, zwei Jungs, die gerade im Februar zuvor Haschisch entdeckt hatten. Sie erzählten uns, dass dieses Kraut alles gemächlicher und irgendwie lustiger machte und man keine Angst mehr vor den Prüfungen und dem Übertritt aufs College hatte. Josie bekam später an dem gleichen Abend einen riesigen Heißhunger.
Ich war nie in Versuchung gewesen, das Zeug zu probieren. Selbst unter den Außenseitern blieb ich deshalb als seltsam verschrien.
»He, Doc«, sagte Red und holte mich so in die Gegenwart zurück. »Alles in Ordnung?«
Ich gab ihm den Joint zurück und trat auf den Rasen hinaus. Am Himmel über mir konnte ich Tausende von Sternen sehen. Sie funkelten so hell und strahlend, dass sie beinahe falsch aussahen – wie in einem Planetarium kurz vor der Lasershow. Ich lief zu einer der großen Eichen in unserem Garten, ging in die Hocke und lehnte mich an ihren dicken Stamm. Red setzte sich neben mich.
»Woran denkst du?«
Mein Mund fühlte sich unangenehm trocken an. »Dass es hier draußen ganz schön kalt wird.«
»Das denken die Tiere auch.« Red nahm einen tiefen Zug und reichte mir den Joint erneut. Ich schüttelte den Kopf. »Leg dich doch ins Gras, wenn du willst. Das ist viel gemütlicher.«
»Nein, danke. Dafür ist es mir zu kalt.« Meine Zunge fühlte sich an, als hätte ich sie in etwas Klebriges getaucht.
»Dann leg deinen Kopf auf meinen Schoß.«
Mit pochendem Herzen kam ich seiner Einladung nach. Ich wusste, dass ich mich falsch verhielt und man so etwas eigentlich nicht machte. Doch in diesem Augenblick war mir das vollkommen egal. Red hatte gesagt, dass Jackie nicht seine Freundin war. Ihr gegenüber benahm ich mich also nicht unfair. Und hatte ich nicht auch das Recht dazu, die Gesellschaft eines anderen Mannes zumindest ein wenig zu genießen, wenn sich mein Mann schon so viel bei anderen Frauen herausgenommen hatte?
Der Mond war am Zunehmen und bereits zu drei Viertel voll. Das fehlende Viertel wurde von einem dünnen mauvefarbenen Schleier verdeckt, der mich an die Schatten erinnerte, die man manchmal unter den Augen hatte. Es zeigten sich so viele Sterne am Himmel, dass ich verschiedene Muster ausmachen konnte, auch wenn ich die Sternbilder selbst nicht kannte. Ich sah unzählige Dreiecke, seltsame Fadenspiele, geheimnisvolle Netze aus Licht.
»Welches Tier siehst du da oben? Genau dort, über dir?« Red zeigte in den Himmel hinauf. Ich betrachtete seinen Arm mit den kräftigen Muskeln, dem breiten Handgelenk und den langen Fingern. Dann sah ich zu den Sternen hoch.
»Ich weiß nicht. Einen Hund? Da ist ein Maul.« Ich zeigte nach oben und ließ den Arm wieder sinken. Ich sehnte mich danach, dass er mich an der Hand nahm und meine Finger wärmte. Irgendwie konnte ich nicht mehr so richtig klar denken. Alles verschwamm mir vor den Augen.
»Hund oder Wolf?«
»Eher Hund. Wölfe sind doch größer, oder etwa nicht?« Ich sah ihn an. Sein Gesicht, das nicht so anziehend war wie sein restlicher Körper, kam dem meinen sehr nahe.
»Meistens schon.« Er befand sich so nahe vor mir, dass sein Gesicht vor meinen Augen verschwamm. »Mein Großvater hat immer behauptet, dass das Tier, das man am Himmel sieht, dein Helfer ist.«
»Gibt es zwischen Hunden und Wölfen denn große Unterschiede?« Seine Haut schien eine unglaubliche Wärme auszustrahlen.
»Den Mohawk zufolge schon.«
»Was ist dein Tier?«
Red sah so aus, als müsste er nachdenken, wie er mir antworten sollte. »Weißt du das nicht?«
»Ein Fuchs?«
»Nein.«
Ich überlegte. Es musste ein kluges und einfallsreiches Tier sein. Und ein vertrauenswürdiges. »Mir fällt nichts ein. Du kommst mir wie eine Mischung aus allen möglichen Tieren vor.« In Fabeln waren Tiere meist entweder schlau oder ehrlich. Es kam selten vor, dass man beide Eigenschaften in einem einzigen Tier vereint fand.
»Das hat mein Großvater auch immer gesagt.« Ich konnte Reds längliches Gesicht mit den hohen Wangenknochen kaum mehr erkennen. Im nächtlichen Licht wirkte es seltsam anders. Seine Nase kam mir von meinem Blickwinkel aus ungewöhnlich groß vor, was ich ihm auch sagte.
»Wirklich?« Er nahm meine Hand. »Was fällt dir sonst noch auf?«
Ich blickte in seine fast dreieckigen, tiefliegenden Augen, die in dem schwachen Licht, das von der Veranda kam, haselnussbraun, ja beinahe golden schimmerten. Auf seinen Wangen sah ich einen leichten Flaum. Wenn ich die Augen schmal machte, wirkte er so, als würde er eine Tiermaske tragen. »Mhm«, murmelte ich, obwohl ich eigentlich mehr sagen wollte. Wie zum Beispiel: »Mein Gott, der Joint hat eine ganz schön heftige Wirkung auf mich.« Oder etwas Ähnliches. Ich hatte das Gefühl, in einer kühlen Nacht neben einem überraschend warmen Körper zu schweben, während ein Hundesternbild verschwörerisch über mir funkelte. Reds Brust hob und senkte sich. Ich konnte deutlich hören, wie er atmete.
»Und was wird das hier genau, wenn ich fragen darf?«, fragte auf einmal Hunter.
Ich blickte auf und entdeckte eine große bärenartige Gestalt, die über mir aufragte. Vor Schreck stieß ich unwillkürlich einen leisen Schrei aus.
»Mein Gott, ich glaube, ich bin eingeschlafen«, sagte ich, was beinahe der Wahrheit entsprach. Mir war klar, wie peinlich die ganze Situation für uns alle war. Jackies Miene wirkte verschlossen und bitter, während Hunter eigentlich amüsiert zu sein schien: als hätte er mich bei einem Kinderstreich erwischt. Sein Dreitagebart war so dunkel, dass er aussah, als ob er innerhalb weniger Minuten einen richtigen Bart bekommen hätte.
»Ich habe gerade zu Jackie gesagt, dass ihr euch wahrscheinlich in den Armen liegt. Hab ich doch, nicht wahr, Jackie?« Sie nickte unglücklich, während Hunter die Hand ausstreckte, um mir aufzuhelfen.
»Ihr habt uns gerade noch rechtzeitig erwischt, ehe wir zu Leidenschaftlicherem übergegangen – und vielleicht herumgerollt – wären«, erklärte Red.
Jackie schnaubte verächtlich. »Träum weiter, Red. Abra ist viel zu klug, um sich auf einen solchen räudigen Köter wie dich einzulassen«, meinte sie.
Red grinste mich verschmitzt an. »Komisch. Die glauben mir nicht.«
Ich zwang mich dazu, ebenfalls zu lächeln. »Merkwürdig. Warum wohl?« Natürlich klang es ziemlich unwahrscheinlich. Aber doch nicht unmöglich. Wären wir hier tatsächlich herumgerollt? Reds betont entspannte Haltung signalisierte mir deutlich, dass er die Antwort zu wissen schien. Aber wusste ich sie auch?
Hunter legte mir den Arm um die Schultern. »Komm«, sagte er. »Verabschieden wir uns von den netten Leuten, und dann bringen wir dich ins Bett.«
Ich bekam nicht mehr mit, dass die beiden gingen. Ich merkte auch nicht, wie ich nach oben ins Schlafzimmer gebracht wurde. Im Nachhinein konnte ich mich nur noch verschwommen daran erinnern, was als Nächstes geschah: Ich lag im dunklen Schlafzimmer nackt auf unserem Bett. Hunter kniete vor mir auf dem Boden. Seine Haare fühlten sich zwischen meinen Fingern kühl und seltsam rau an, und sein Rücken schien sich unter meinen Händen zu verwandeln und irgendwie gebogener zu werden. Seine Zähne kratzten an der Innenseite meiner Schenkel entlang, sein Mund machte ein Versprechen von heißer Intimität. Er rieb sein Gesicht wie ein Tier an mir, das mich mit seinem Geruch markieren wollte, ehe er an mir hochglitt, in mich eindrang und sich dann wieder aus mir herauszog, um erneut in die Hocke zu gehen. Er wollte mich verschlingen, getrieben von einem rasenden Hunger, der ihm keine Ruhe ließ.
Betrunken und bekifft, war ich noch immer in einem Schwebezustand und vergaß, darüber nachzudenken, ob Hunter zur Abwechslung auch einmal an mich denken würde. Ich vergaß auch, Angst zu haben, dass ich ihn abstoßen oder verärgern könnte. Zum ersten Mal seit unserem Umzug liebten wir uns. Ich drängte mich an ihn und ritt auf den Wellen der Lust dahin, bis sie immer höher und höher stiegen und schließlich über mir zusammenschlugen.
Ehe ich einschlief, schlang ich meine Arme zärtlich um ihn. Er war noch immer in mir, und ich stellte mir vor, dass es Red oder ein Fremder war. Die Muskeln unter meinen Händen schienen in Fluss geraten zu sein und immer wieder ihre vertrauten Formen zu verändern, als hätte der Sex Hunter bis ins Innerste gelöst.
In meinen Träumen tauchte er wieder und wieder in mich ein.
Wolfstraeume Roman
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