18
»Ich hoffe, wir sind nicht zu früh dran, Doc«, sagte Red, als er durch die Haustür trat. Er musterte mich so rasch, dass ich für einen Moment glaubte, es mir nur eingebildet zu haben. Nein, sein Blick wanderte tatsächlich zu meinen Brüsten – unter einem grünen Pulli verborgen – und dann wieder zu meinen Augen. Ich trug die Haare offen und hatte mir die Wimpern getuscht. Offensichtlich gefiel ihm, was er sah.
»Nein, Sie sind genau rechtzeitig.«
Seine Augen schienen sich in die meinen zu bohren. Ich hatte das Gefühl, als müsste er sich konzentrieren, damit sie nicht wieder woanders hinwanderten. Er trug eine alte Schaffelljacke, die noch ziemlich viel Schaf an sich zu haben schien.
»Wir wollten da sein, ehe die Sonne untergeht, damit ich Ihnen die Grenzen Ihres Landes zeigen kann.« Seine Augen schossen nun unruhig hin und her, als wäre es ihm nicht mehr möglich, mich klar anzuschauen. Zu meiner Überraschung stellte ich auch fest, dass sich auf seinen Wangen rote Flecken zeigten.
Ich brachte Red offenbar zum Erröten...
»Klingt gut. Wie geht’s, Jackie?«
Galant half Red seiner Begleitung aus einer grauenvoll hässlichen Jacke mit einem Pferdemuster. Sie hatten die kalte Luft von draußen ins Haus gebracht, und Jackie roch stark nach Zigarette.
»Nicht schlecht. Hier – für den Einstand.« Sie reichte mir ein Päckchen mit Gästeseifen in der Form von Schafen.
»Oh, vielen Dank. Das ist lieb von Ihnen. Hier – ich nehme Ihnen die Jacken ab.« Der Zigarettenrauch war tief in den Wollstoff eingedrungen. Ich hielt Jackies Jacke so weit wie möglich von mir entfernt.
»Wow.« Jackie sah sich in dem alten Foyer mit dem grüngelben Glasfenster um und stieß einen leisen Pfiff aus. »Ich habe mich schon immer gefragt, wie es hier drinnen wohl aussieht. Ich kannte den alten Hausmeister, Harvey, recht gut, wissen Sie.«
»Dann wussten Sie also bereits, dass dieses Haus in Wahrheit ein Mausoleum ist... Red? Wollen Sie mir auch Ihre Jacke geben?« Er schnüffelte interessiert in die Luft, und ich fragte mich, ob das Chili wohl angebrannt war.
»Oh... ja, klar. Ich hab mich nur... haben Sie vielleicht einen Hund oder so?«
»Nein. Wieso?« Ich hängte Jackies Jacke in den Schrank im Foyer. Wollte er damit andeuten, dass wir einen Wachhund bräuchten?
»Manche sperren ihre Hunde ein, wenn Gäste kommen. Aber Jackie und ich sind echte Hundeliebhaber. Für uns ist es kein Problem, wenn man sie frei herumlaufen lässt.« Red zog seine Jacke aus. Darunter trug er ein Flanellhemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Man konnte seine kräftigen Oberarme sehen, seine Kojoten-Tätowierung war jedoch nur teilweise zu erkennen.
»Nein, hier gibt es keinen Hund«, beteuerte ich und hängte auch seine Jacke auf einen Kleiderbügel. »Ich habe bisher nie die Zeit oder auch die Räumlichkeiten dafür gehabt, um mir einen anzuschaffen und mich dann auch angemessen mit ihm zu beschäftigen. Aber ich hatte mir schon überlegt, ob ich hier nicht endlich einen haben könnte.« Ich drehte mich zu Jackie um. »Sie haben Pia noch gar nicht vorbeigebracht«, sagte ich. »Hat sie aufgehört, sich zu kratzen?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Und nachts kommt sie jetzt gar nicht mehr zur Ruhe. Ich wollte sie zuerst schon heute mitbringen. Aber sie verhält sich manchmal wirklich seltsam, wenn sie neue Orte und Leute kennenlernt. So hielt ich es dann doch für besser, sie zu Hause zu lassen.«
»Soll ich vielleicht bald mal bei Ihnen vorbeischauen und sie dort untersuchen?«
Jackie lächelte und entblößte dabei ein Fleckchen Lippenstift auf ihren Zähnen. »Wäre toll, wenn Sie das einrichten könnten.««
»Meine Fähigkeiten als Tierärztin sind jedenfalls etwas weiter entwickelt als die als Köchin. Ich hoffe, ihr beide mögt Chili.«
»Riecht gut. Sie wissen doch, dass wir Texaner Chili lieben.«
»Tut mir leid, falls es mir nicht so ganz gelungen sein sollte. Ich bin es nämlich nicht gewöhnt, mit Fleisch zu kochen. Es gibt auch eines ohne Fleisch.«
»Oh, für mich gerne mit Fleisch.« Jackie schenkte mir ein noch breiteres Lächeln. In ihrer ledernen Haut zeigten sich tiefe Falten. Es schien Red nicht zu kümmern, dass seine Freundin weder perfekt noch jung war, was ihn mir noch sympathischer machte.
»Also eine weitere Fleischesserin«, sagte ich. »Hunter wird begeistert sein. Ich geh nur schnell nach oben und sage ihm Bescheid, dass Sie da sind.«
»Soll ich währenddessen irgendetwas machen, Doc? Zum Beispiel das Chili umrühren oder so?«
»Nein, danke, Red. Nett von Ihnen. Ist aber alles unter Kontrolle.«
Jackie holte ein Päckchen Zigaretten aus ihrer Handtasche. »Wow, ich kann mich nicht erinnern, wann du mich das letzte Mal gefragt hast, ob du mir in der Küche helfen kannst.«
Red blickte bedeutungsvoll auf die Zigarette, die Jackie sich anzündete. »Vielleicht sollten wir damit lieber nach draußen gehen, Jackie.«
Sie runzelte die Stirn. »Seit wann hast du denn so gute Manieren, Red?«
»Kein Problem«, mischte ich mich hastig ein. »Draußen wird es schon kalt. Wenn Sie hier drinnen rauchen möchten, können Sie das gerne tun.««
Red sah seine Begleiterin durchdringend an. »Wir möchten nicht unhöflich sein.«
»Nein, nein, das ist schon...««
Jackie ließ mich nicht aussprechen. Sie starrte Red finster an. »O nein! Wir würden doch nicht im Traum daran denken, unhöflich zu sein.« Mit diesen Worten stürmte sie aus dem Haus und schlug donnernd die Tür hinter sich ins Schloss. Red warf mir einen entschuldigenden Blick zu und folgte ihr dann hastig. Es sah ganz so aus, als ob es ein interessanter Abend werden würde.
Ich eilte mit den Schafseifen nach oben. Hunter hatte zuvor in der Badewanne mit den Klauenfüßen gesessen und sich ausgiebig gewaschen. Doch als ich das Badezimmer jetzt betrat, war er schon wieder verschwunden. Es lag nur ein feuchtes Handtuch auf dem Toilettensitz.
»Hunter? Hunter, sie sind da!« Er hatte sich derart schlecht gelaunt gezeigt, weil Red und Jackie zum Abendessen kamen, dass ich ihn wieder auf dem Dachboden vermutete. Da ich aber keine Lust hatte, dort nachzusehen, ging ich wieder nach unten. Wenn er sich nicht zeigen wollte, dann war das seine Sache.
Doch zu meiner Erleichterung entdeckte ich Hunter unten, wo er mit Jackie auf der Veranda eine Zigarette rauchte. Wahrscheinlich war er über die Hintertreppe hinuntergegangen. Er lehnte an einem Pfosten und sah in seinem kurzärmeligen T-Shirt auffallend muskulös und attraktiv aus. Als er mich bemerkte, winkte er mir lässig zu.
»Hallo. Ich habe grade nach dir gesucht. Ist dir nicht kalt?«
Er lachte. Erst jetzt fiel mir auf, dass auch Red sein Flanellhemd ausgezogen hatte und ebenfalls nur noch ein T-Shirt trug. Vielleicht gehörte das zu einem echten Mann, dieses Macho-Gehabe. »Weißt du was, Abs?«, meinte mein Mann und zog an seiner Zigarette. »Wie wäre es mit einem Drink, um uns zu wärmen?«
»Oh, natürlich... Jackie, was möchten Sie? Wir haben Wodka und Gin... ich glaube, da ist auch noch Bier... und natürlich Rotwein...«
»Eine Bloody Mary wäre toll.«
»Ich seh mal nach, ob wir Tomatensaft haben«, erwiderte ich und wandte mich zum Gehen.
»Abra.«
Ich drehte mich wieder um und blickte Hunter an, der so breit grinste, als ob er gerade eine Wette gewonnen hätte.
»Ja?«
»Du hast vergessen, Red zu fragen, was er trinken möchte. Und ich nehme einen Gin Tonic. Danke.«
»Oh, tut mir leid, Red. Was möchten Sie?«
»Irgendein Bier, wenn Sie eins haben, Doc. Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?«
»Gerne. Wenn Sie wollen.« Ich ging mit dem schrecklichen Gefühl in die Küche, in Anwesenheit unserer Gäste von Hunter zurechtgewiesen worden zu sein – wie ein kleines Mädchen, das glaubt, die große Gastgeberin markieren zu können und prompt von Papi entlarvt wurde.
Red sah mir zu, wie ich Gin und Tonic herausholte. »Kann ich mit den Gläsern helfen?«, fragte er.
»Die sind da drüben.« Ich zeigte auf einen Küchenschrank. Er machte ihn auf, entdeckte darin aber nur Teller. »Oh, Entschuldigung. Vielleicht da drüben. Ich kenn mich hier noch nicht so gut aus.««
»Beruhigen Sie sich. Ist ja nichts passiert.« Er trat zu mir, als ob er mich in den Arm nehmen wollte. In meinem Kopf begann es leicht zu hämmern.
»Ich bin nur... es ist alles etwas viel. Der Umzug und so. Keine Sorge, ich fang jetzt nicht zu weinen an.«
»Okay.«
Ich holte Luft. Red machte eine Bewegung auf mich zu und hielt dann inne. Ich konnte deutlich sein Verlangen spüren, mich zu berühren. Er strahlte wie ein Magnetfeld, das mich an sich ziehen wollte. So ist das also, dachte ich, wenn man in den Augen eines anderen eine Bedeutung hat. Ein Gefühl, das meine Mutter so gut kannte. Und natürlich auch Hunter.
Ich holte erneut Luft. »Alles in Ordnung.«
An Reds Kiefer zuckte ein Muskel. »Ich kann nicht. Sie berühren. Er würde es merken.«
»Was meinen Sie...««
»Ich möchte Ihnen helfen.«
»Es geht mir aber wieder gut«, erwiderte ich und wandte ihm den Rücken zu. »Ich glaube, der Tomatensaft ist da drüben und...«
»Hören Sie auf, sich etwas vorzumachen. So etwas ist gefährlich.« Auf einmal umfasste er mit beiden Händen meine Schultern und drehte mich sanft zu sich um. Einen Moment lang standen wir uns schweigend gegenüber. Seine Hände fühlten sich warm, ja fast heiß an. Ich rührte mich nicht, was ungewöhnlich war, denn normalerweise mochte ich es nicht, wenn mir Leute zu nahekamen. Aber Red strahlte eine so beruhigende Sanftheit aus, und trotz der Hitze hatte ich das Gefühl, ganz einfach in ihn sinken zu können – fast wie in einen ungefährlichen See. Ich räusperte mich.
»Ich glaube, Sie bilden sich da etwas ein. Es gibt nichts. Ich mache weder Ihnen noch mir etwas vor.«
»Wirklich nicht? Dann sind die Dinge also genauso, wie sie das schon immer waren... zwischen Ihnen und Ihrem... Ihrem Hunter.«
»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.« Das war die schlechteste Antwort, die ich geben konnte. Ich hätte genauso gut sagen können, dass er mich schlug und jede Nacht im Keller einsperrte. »Hören Sie, das mag Sie vielleicht nicht überzeugen. Aber Hunter und mir geht es gut.«
»Schön.« Seine haselnussbraunen Augen lagen tief in ihren Höhlen. Auch wenn er lächelte, wirkten sie ein wenig traurig. »Das freut mich. Und Sie haben natürlich Recht – es geht mich wirklich nichts an. Aber Sie haben mir geholfen. Damals in New York.«
»Ich habe nichts Besonderes getan.«
»Das mag sein, aber trotzdem bin ich Ihnen zu Dank verpflichtet. Pia ist ein besonderes Tier.« Seine Hände lagen noch immer auf meinen Schultern. »Und ich hatte gerade den Eindruck, als steckten jetzt Sie in Schwierigkeiten. Da wollte ich zur Abwechslung einmal Ihnen helfen.«
»Red, wir haben gerade unser ganzes bisheriges Leben umgekrempelt. Vielleicht wirke ich deshalb etwas angespannt. Es tut mir leid, wenn mein Mann bei unserem letzten Treffen gereizt war, aber ihm geht es ähnlich wie mir.« Als ich den letzten Satz aussprach, begannen meine Schläfen schmerzhaft zu pochen.
»Sie wollen mir damit also sagen, dass ich völlig falschliege?« Seine Fingerkuppen glitten über meine Arme, während er nachdenklich den Kopf schüttelte. »Vielleichr.«
»Es ist nicht so, dass ich Sie nicht nett finde, Red. Es ist nur... na ja, ich bin verheiratet, und Sie... Sie haben Jackie.« Ich wollte seine Gefühle nicht verletzen. Außerdem wäre es unfair gewesen, ihm nicht auch zu sagen, dass ich ihn attraktiv fand, nachdem er mir so eindeutig zu verstehen gegeben hatte, was er für mich empfand.
»Jackie ist nicht meine Freundin. Schon seit einer ganzen Weile nicht mehr.«
Ob sie das weiß?, dachte ich. »Oh... dann sind Sie aber... eben befreundet. Was wir hoffentlich auch sind – gute Freunde, meine ich.«
Red presste die Lippen aufeinander. »Sie glauben, dass ich mich von Ihnen angezogen fühle. Oder verstehe ich Sie da falsch?«
Jetzt war es an mir, zu erröten. Ich spürte, wie meine Wangen und mein Nacken heiß wurden. »Äh, tut mir leid. Ich dachte nur...«
Red lachte. »Sie müssen nicht rot werden. Ich will damit nicht sagen, dass ich Sie nicht anziehend finde. Ich finde Sie sogar äußerst anziehend. So wie Sie mich. Aber darum geht es mir gar nicht...«
»Ich finde Sie nicht anziehend!««
Er zog spöttisch eine Augenbraue hoch.
»Ich will Sie nicht verletzten, Red, aber ich finde Sie wirklich nicht in diesem Sinne anziehend, den Sie anscheinend meinen.«
Er kam noch einen Schritt näher, senkte den Blick und holte tief Luft. »Doch«, sagte er ruhig. »Das tun Sie.«
Der Druck in meinem Kopf nahm zu. Es fiel mir zusehends schwerer, mich zu konzentrieren. »Ich habe keine Ahnung, wie Sie auf diese Idee kommen, dass ich mehr für Sie empfinden könnte als Sympathie. Es stimmt ganz einfach nicht. Sie sind ein netter Mann, aber...«
»Haben Sie Kopfweh?« Ehe ich protestieren konnte, strich mir Red durch die Haare. Seine Finger berührten dabei genau die Punkte auf meiner Kopfhaut, wo es schmerzte. Plötzlich schien meine Schädeldecke glühend heiß zu werden. Eine Sekunde später war der Schmerz verschwunden. Eine Hitzewelle durchlief mich vom Scheitel bis zu den Brüsten, dann zum Bauch und schließlich zum Schoß. Instinktiv lehnte ich mich an ihn. Seine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern, als sie in mein Ohr drang.
»Wir müssen aufhören. Er kann mich sonst riechen.«
Was sagte er da? Das ergab doch keinen Sinn. Und ich wollte nicht mehr aufhören. Fast kam es mir so vor, als ob mir Red zwei Schritte voraus wäre und meine Reaktionen kannte, ehe sie mir selbst bewusst wurden. Fühlte ich mich etwa doch von ihm angezogen? Ich konnte mich nicht dazu bringen, mich von ihm zu lösen. Seine Hände zitterten. »Sie riechen?«, fragte ich mit belegter Stimme.
Seine Finger strichen durch meine Haare. »Bekommen Sie bald Ihre Tage?«
»Was? Nein!« Ich wich nun doch einen Schritt zurück.
»Haben Sie oft Kopfschmerzen?«
War er ein Arzt oder was sollte diese Fragerei? »Nein, normalerweise nicht.«
»Leidet auch Hunter unter Kopfschmerzen?«
»Ich glaube nicht. Nein.« Würde ich es denn überhaupt erfahren, falls er es tat? »Also, vielen Dank für die Akupressur, aber ich brauche keine medizinische Beratung. Und falls doch, gehe ich zu einem echten Arzt.««
»Falls Sie das haben, was ich glaube, wird Ihnen ein Arztbesuch auch nicht weiterhelfen können.«
Jetzt wurde ich wütend. Ich stemmte die Arme in die Hüften und starrte Red finster an. »Und was habe ich Ihrer Meinung nach?«
»Nun – als Erstes einmal einen untreuen Ehemann.«
Mein Herz setzte einen Moment lang aus. Woher wusste Red das? »Er hat mit dieser Bedienung doch nur geflirtet. Sonst nichts.« Ich wandte mich ab, öffnete den Küchenschrank und holte vier Gläser heraus. »Das bedeutet doch überhaupt nichts.«
»Gut, wenn Sie wegsehen wollen«, antwortete Red. »Aber ich schwöre Ihnen, in spätestens vierzehn Tagen werden Sie mich um Hilfe bitten.«
Ich holte eine ungeöffnete Flasche Tomatensaft aus dem Speiseschrank. »Ich habe wirklich keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«
»Nur dann wird es nicht mehr so leicht sein, etwas zu unternehmen.«
Ich bedachte Red mit einem Blick, der selbst meine Mutter dazu bringen konnte, zur Abwechslung einmal den Mund zu halten. »Was wird nicht mehr so leicht sein?«
»Die Beseitigung des wilden Tieres.«
Ich brauchte einen Augenblick, um die Verbindung herzustellen. Dann fiel mir ein, dass ich Red hatte fragen wollen, was ich gegen die Besuche des Tieres tun konnte, das immer wieder seine kleinen Präsente aus Innereien auf unserer Veranda zurückließ. »Woher wissen Sie davon?«
Red sah mich aufmerksam an. »Was ist es? Sind es so winzige Tiere? Mäuse? Maulwürfe?«
»Gestern war es ein Kaninchenjunges.«
»Auch irgendetwas im Haus?« Seine Stimme klang jetzt scharf, ja beinahe zornig.
»Nein. Aber ich wollte Sie fragen, was ich dagegen unternehmen kann. Außer Fallen aufzustellen, meine ich. Ich möchte nichts umbringen.«
Red rieb sich das Kinn. »O je.« Er klang frustriert.
»Tut mir leid, aber das will ich nicht.«
»Hören Sie. Wenn Sie meine Hilfe annehmen wollen, dann können Sie keine Bedingungen daran knüpfen. Sie müssen es mir überlassen, was ich für das Beste halte.«
»Dann vergessen Sie es«, entgegnete ich und schenkte Gin in ein Glas. »Es ist ohnehin nicht so wichtig.«
»Vielleicht nicht.« Red stellte sich so hin, dass er sich mit ausgestreckten Armen an der Wand abstützte und ich dazwischen stand. »Aber vielleicht ist das Ganze auch größer oder bedrohlicher, als Sie meinen. Manchmal sind kleine Beutetiere erst der Anfang. Wie bei einem... bei einem jungen Kojoten oder einem Rotluchs, wenn sie das Jagen erlernen.«
Ich blickte Red in die Augen und verspürte ein ungewohntes Gefühl der Macht. Ich könnte mich von ihm küssen lassen, dachte ich. Ich könnte ihm erlauben, mich zu berühren, sich an mich zu drücken, ich könnte ihm alles erlauben und würde trotzdem nicht die Kontrolle verlieren.
Ohne nachzudenken beugte ich mich vor und biss ihn leicht in seinen Bizeps. Er sog hörbar die Luft durch die Zähne ein. »Ich mag weder Fallen noch Gift, Red.« Ich duckte mich unter seinem linken Arm hindurch und fasste nach einer Flasche Rotwein. »Falls wir hier ein kleines Raubtier haben sollten, lege ich mir lieber einen Hund zu.«
Ich steckte einen Korkenzieher in die Flasche und versuchte den Korken herauszuziehen. Er blieb jedoch nach der Hälfte stecken. So viel zu meinem Auftritt als gewandte, verführerische Frau, die alles unter Kontrolle hat! Plötzlich fingen meine Hände zu zittern an. Ich konnte kaum fassen, dass ich gerade einen Mann in den Arm gebissen hatte.
»Lassen Sie es mich versuchen.« Red nahm die Flasche und entkorkte sie im Handumdrehen. Er schenkte mir mit der Genauigkeit eines geübten Kellners ein Glas ein. Ob er wohl mal in einem Restaurant gearbeitet hatte? »Hören Sie, Abra. Es wird nichts nützen, sich einen Welpen ins Haus zu holen. Eines Morgens werden Sie nämlich aufwachen und statt Eichhörnchen und Mäusen liegt Fido mit aufgerissenem Bauch und ein paar Innereien weniger vor Ihrer Tür.«
Während ich die Zitrone für die Bloody Mary aufschnitt, überlegte ich, ob ich Red von Hunters Erkrankung erzählen sollte. Aber selbst wenn es Leute gab, die durch den Lykanthropievirus eine Wolfsgestalt annehmen konnten – was ich noch immer nicht so recht glauben wollte -, und sich mein Mann als einer dieser seltenen Fälle herausstellte, so war er doch trotzdem mein Mann. Ich kannte Hunter schon lange. Ich hatte ihn betrunken und nüchtern, in bester Laune und tief deprimiert erlebt, ich hatte ihn zu seinen guten und zu seinen schlechten Zeiten gesehen. Und ich wusste, dass er mir nichts antun würde – ganz gleich, wie benebelt er durch Alkohol oder die Krankheit auch sein mochte.
Mit ruhiger Stimme fragte ich: »Und warum sind Sie sich so sicher, dass es sich nicht um einen Fuchs oder eine Nachbarkatze handelt?« Ich gab einen Spritzer Tabascosauce in Jackies Drink.
»Weil es weder nach Fuchs noch nach Katze riecht. Deshalb.«
Mein Gott, dieser Mann hatte es wirklich mit Gerüchen. Ich selbst besaß keine sonderlich empfindsame Nase. Für meine Sinne roch ein Glas Wein nach Früchten und alten Socken, wie das alle Weine für mich taten, ganz egal, ob ihnen ein schwaches Pflaumenaroma, der Duft von Holz oder ein Vanillegeschmack nachgesagt wurde.
»Dann also kein Hund«, sagte ich und rührte Hunters Gin Tonic um. »Und falls sich die Kaninchenjungen in Lämmer und Rehkitze verwandeln, melde ich mich.«
Red schüttelte den Kopf. Er wollte etwas sagen, beschloss dann aber, es sein zu lassen. »Gut. Wie Sie meinen«, erwiderte er stattdessen. »Aber tun Sie mir einen Gefallen: Melden Sie sich auf jeden Fall bei mir, bevor sich hier die Leichen zu stapeln beginnen.«
Wieder hatte ich das Gefühl, dass Red wusste, wovon er sprach. Oder vielmehr, von wem er sprach. »Aber bis dahin geht es Sie nichts an. Okay?«
»Einverstanden«, erwiderte er. »Das wird allerdings nicht lange so bleiben.«
Ich schüttete eine Dose mit Nüssen in eine kleine Schale und holte für Red eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, die ich ihm gemeinsam mit Jackies Bloody Mary reichte. Er verließ mit den beiden Getränken die Küche und sah dabei in seinen engen Jeans so mickrig aus, dass ich mich beinahe schüttelte. Wie war ich nur auf die Idee gekommen, mich von einem solchen Mann verführen zu lassen? Wieso hatte ich ihn überhaupt gebissen?
Als ich ihm auf die Veranda hinaus folgte, erkannte ich erst die Melodie, die er leise vor sich hinpfiff. Es war Prokofjews Peter und der Wolf.
Wolfstraeume Roman
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