29
Ich saß im Untersuchungszimmer, als Red hereinstürmte. Seine Augen nahmen die Situation blitzschnell wahr: die steril wirkenden hellgrünen Krankenhauswände; die grellen Neonlampen an der Decke, die alles – sogar eine Geburt – um so vieles schlimmer erscheinen ließen; und dann mich in meinem zerknitterten und verbrannten Hexe-von-Camelot-Kleid mit wilden Haaren und verkohlten Händen. Für einen Moment sah er aus, als würde er in Tränen ausbrechen. Dann eilte er zu mir und kniete sich neben mich.
»Mein Gott, Doc. Wie geht es dir?«, fragte er voll zärtlicher Besorgnis.
Ich blickte in Reds haselnussbraune Augen, die wesentlich offener und besser zu lesen waren als die dunkleren Hunters. Der Assistenzarzt, der meine Hände versorgte, wandte sich ab. »Nicht so gut«, erwiderte ich. »Ich habe meine Hände verbrannt.«
»Ja, ich weiß.«
»Ich sollte mich um die Tiere meiner Mutter kümmern, während sie nicht da ist.«
»Du musst dich erst mal um dich selbst kümmern, Abra. Das weißt du doch, nicht wahr?«
Der Assistenzarzt, der meine Hände inzwischen begutachtete, hielt auf einmal inne. »Wie alt sind Ihre Verbrennungen genau?«
»Keine Ahnung. Eine halbe Stunde. Oder vielleicht eine Stunde.« Ich schniefte wie eine Sechsjährige. »Wann komme ich denn in den OP?« Red legte mir mitfühlend eine Hand auf die Schulter.
»Lady, diese Verbrennungen sind schon mindestens eine Woche alt. Wer hat Sie denn ursprünglich behandelt?«
Ich starrte den Assistenzarzt an. Er hatte ein kreisrundes Gesicht mit großen Poren und eine einzige dicke Braue über beiden Augen, was ihm einen leicht irritierten und verblüfften Ausdruck verlieh. »Die Sanitäter haben mich vor etwa einer halben Stunde behandelt. Wovon reden Sie? Eine Woche sollen die alt sein? Man kann doch das Fettgewebe sehen, es gibt Verkohlungen...«
»Sind Sie Ärztin?« Das teigige Gesicht des Mannes wirkte noch irritierter als zuvor.
»Ich bin Tierärztin.«
»Na also.« Er hielt mir meine Hände vor die Nase, als würde es sich bei ihnen um wichtige Beweisstücke handeln. Die Haut meiner Handflächen schimmerte hellrosa und sah schrecklich aus, aber lange nicht mehr so schrecklich und stark verkohlt wie noch vor wenigen Augenblicken. »Diese Wunden sind schon deutlich am Verheilen. Würden Sie mir da zustimmen? Deutlich stärker verheilt jedenfalls, als das nach einer Stunde der Fall wäre.«
Fassungslos betrachtete ich meine neue, noch roh wirkende Haut. »Das verstehe ich nicht. Ich schwöre Ihnen, dass ich mich erst vor circa einer Dreiviertelstunde verbrannt habe. Länger nicht.«
»Hören Sie, Lady. Wir müssen gar nicht weiterreden. Ich werde Ihnen einen sterilen Trockenverband anlegen und Ihnen noch ein paar Verbände mit nach Hause geben. Sie werden beim Wechseln der Verbände allerdings Hilfe brauchen.«
»Ich brauche keine Hilfe.« Meine Stimme klang klein und verdruckst, was mir peinlich war. Ich hatte das Gefühl, von dem Assistenzarzt nicht ernst genommen zu werden, und das verstörte mich.
»Abra, wo ist Hunter?« Ich wandte mich dem texanischen Singsang zu und fühlte mich besser. Red, der meine Hand nicht nehmen konnte, hatte mir stattdessen den Arm um die Schultern gelegt. Ich konnte sein Gesicht zwar nicht sehen, dafür aber seine Brust hinter meinem Kopf spüren.
»Zu Hause.« Der Arzt wickelte den Verband um meine Hand und schnitt dann ein Stück Pflaster ab.
»Und du bist...«
Ich war froh, ihn nicht ansehen zu müssen. »Bei meiner Mutter in Beast Castle.«
Red reagierte nicht auf die Neuigkeit, dass meine Mutter die frühere Vampirqueen Piper LeFever war, die hier in der Gegend jeder kannte. Er holte nur tief Luft und sagte: »Verstehe.« Dann hielt er mich fester als zuvor, und ich merkte, dass ich weinte.
»So«, sagte der Arzt. »Das hätten wir.« Er wandte sich an Red. »Sie bringen Ms. Barrow nach Hause? Dann muss ich Ihnen noch ein paar Anweisungen mitgeben.«
Ich starrte auf das Ohr des Mannes, denn er würdigte mich nun keines Blickes mehr. »Einen Moment, bitte. War’s das schon? Ich brauche also keine intravenösen Antibiotika oder etwas Ähnliches?«
»Lady, die haben Sie vielleicht vor einer Woche gebraucht, aber jetzt nicht mehr.«
Ich sah Red an. »Aber ich hatte Verkohlungen, alle meine Hautschichten waren betroffen, ich habe schon nichts mehr gespürt...«
»Am besten sprechen Sie mit dem Arzt, der Sie schon behandelt hat. Sie können sich auch gerne unser Schaubild ansehen. Es handelt sich eindeutig um Verbrennungen zweiten Grades.« Er zog seine Latexhandschuhe aus. »Also, wollen Sie jetzt die Anweisungen hören, oder nicht?«
Red legte eine Hand auf meine Schulter. »Wir wollen die Anweisungen, ja. Wenn Sie diese Freundlichkeit noch aufbringen können...«
Ich hörte nicht hin, als der Assistenzarzt Red mit säuerlicher Miene erklärte, wie meine verletzten Hände zu behandeln waren. Als wir gehen wollten, kam eine große Frau in einem tomatenroten Jackett auf mich zugeeilt. Ihre blonden Haare hatte sie zu einer Frisur aufgetürmt, die an einen Truthahn erinnerte. Ich fragte mich, ob sie sich für Thanksgiving absichtlich so frisiert hatte.
»Sind Sie Ms. Barrow? Es tut mir leid, aber wir konnten keine Nummer zu dem Namen finden, den Sie mir gegeben haben.« Sie sah in ihrer Akte nach. »Red Mallin. Kann ich vielleicht jemand anderen für Sie kontaktieren?«
Verwirrt wandte ich mich an Red. »Aber irgendjemand muss ihn angerufen haben.«
»Nein«, erwiderte die Frau, nachdem sie noch einmal in ihren Akten nachgesehen hatte. »Wir haben es versucht, aber die Auskunft konnte uns keine Nummer für ihn geben. Tut mir leid.«
»Schon in Ordnung«, meldete sich Red zu Wort und lächelte die Frau freundlich an. »Ich bin jedenfalls da, und das ist ja das Einzige, was zählt. Am besten bringe ich die Lady jetzt nach Hause.«
Die Blondine mit dem roten Jackett sah uns stirnrunzelnd nach, während Red mir den Arm um die Schultern legte und mich zum Ausgang führte. Sein Körper war dem meinen ganz nahe, und so spürte ich die Kraft, die in ihm steckte.
Er half mir beim Einsteigen in seinen Pick-up und ging dann um das Auto herum zur Fahrertür.
»Du stehst aber nicht unter Schock, oder?«, fragte er, nachdem er sich neben mich gesetzt hatte.
»Eigentlich sollte ich es. Das waren Verbrennungen dritten Grades.«
Red rückte auf der breiten Bank des Wagens näher zu mir hin, legte die Hand unter mein Kinn und brachte mich so dazu, ihn anzusehen.
»Ich weiß, dass sie das waren. Doch als sich dieser Idiot die Verbrennungen angeschaut hat, waren sie bereits am Verheilen.«
»Aber das ist doch nicht möglich.«
»Ich hätte die verbrannte Haut gerochen, wenn es so starke Verbrennungen gewesen wären, wie du meinst. Du wirst deine Hände für eine Weile nicht benutzen können, und der ganze Heilungsprozess wird noch etwas länger dauern, aber Verbrennungen dritten Grades sind das nicht mehr. Da kannst du ganz ruhig sein.«
»Red, Verbrennungen heilen aber nicht so einfach ab. Vor allem nicht so tiefe. Die verschwinden doch nicht von einer Minute auf die andere.«
Red strich mit dem Daumen über mein Kinn. »Doch, das tun sie, wenn dir dein Mann eine Dosis von dem verpasst hat, was er dir verpasst hat.«
Auf einmal begriff ich, warum Red in jener Nacht nicht mit mir hatte schlafen wollen. Natürlich – er wusste es. Ich sah ihn an. »Du hast es die ganze Zeit gewusst, nicht wahr? Du weißt, dass er sich mit dem Lykanthropievirus angesteckt hat?« Red nickte. »Aber er hat behauptet, dass ich ihn nicht bekommen kann. Es muss angeblich die richtige genetische Disposition dafür vorhanden sein, um sich damit anzustecken. Das hat Hunter gesagt.«
Er lehnte seine Stirn gegen die meine. »Dann musst du wohl eine solche Disposition haben.«
»Das verstehe ich nicht. In all den Filmen, die ich gesehen habe, kann man den Virus immer nur von einem Werwolf in Wolfsform bekommen.«
Red ließ den Motor an. »Das stimmt auch... mehr oder weniger.«
»Aber Hunter hat sich nie... ich habe nie gesehen, wie er sich in einen Wolf verwandelt hat, und gebissen hat er mich auch nicht.«
Red sah so aus, als wäre ihm die Unterhaltung allmählich ein wenig unangenehm. »Nun«, sagte er und schaltete die Scheinwerfer an. »Es muss keine Übertragung durch Blut gewesen sein. Und wenn du eines Nachts vielleicht müde... oder etwas angeheitert warst...« Er beendete den Satz nicht, aber ich verstand, worauf er hinauswollte.
Er meinte jene Nacht, in der ich zuerst Wein getrunken und dann mit Red Gras geraucht hatte. Damals schien sich Hunters Rücken unter meinen Händen zu verwandeln, und seine Haare hatten sich seltsam rau angefühlt.
Ich zog die Knie hoch, schlang die Arme um meinen Oberkörper und wandte den Kopf in Richtung Fenster. »Bring mich einfach nach Hause.«
Es war bereits dunkel. Die Scheinwerfer warfen nur einen schwachen Lichtstrahl auf die Straße, aber Red schien den Weg genau zu kennen. Mir fiel ein, dass ich ihn gar nicht gefragt hatte, woher er eigentlich wusste, dass er ins Krankenhaus kommen musste, und weshalb jemand mit einem Tierbeseitigungsservice keine Telefonnummer hatte, die bei der Auskunft zu erfragen war. Doch noch ehe ich meinen Mund öffnete, nickte ich ein. Als ich wieder aufwachte, fühlte ich mich wie ein Kind, das von seinem Vater ins Bett getragen wird. Red trug mich vorsichtig ins Haus.
Er ist wirklich stark, dachte ich, während er mich langsam auf ein Bett legte und dabei rasch die Decke unter mir fortzog.
»Ich leide unter Schlaflosigkeit. Weißt du noch? Ich werde nicht einfach so einschlafen.«
Red schaltete das Licht aus. »Seit wann kannst du eigentlich nicht mehr schlafen?«
Ich gähnte. »Schon seit einigen Jahren. Ich weiß nicht, wann es angefangen hat.«
Die Matratze gab unter seinem Gewicht nach. »Hilft irgendwas? Hypnose, Übungen, Massagen, Sex?«
»Nichts.«
»Vielleicht gehörst du ja zu den Menschen, die eigentlich nachts auf sein sollten und besser während des Tages schlafen.«
Ich lehnte mich zurück und stellte fest, dass ich dabei meinen Kopf auf Reds Arm legte. Wie warm er sich anfühlte. »Aber ich will jetzt schlafen. Ich weiß nur einfach, dass es nicht klappen wird.«
»Mach es dir einfach bequem, und ich streichle dir den Rücken.«
»Das funktioniert bestimmt auch nicht.«
Red strich über meine Beine, bis er zu meinem Bauch kam. »Dreh dich um«, sagte er.
Ich tat ihm den Gefallen. Er zog mir das Kleid zur gleichen Zeit über den Kopf, während er mich mit der Decke zudeckte. Dann begann er auf meiner nackten Haut irgendwelche Buchstaben nachzufahren.
»Das ist sinnlos, Red.«
»Still. Versuch einfach, dich zu entspannen. Atme tief ein und aus, und entspann dich.«
Ich schloss die Augen und folgte den Spuren seines Fingers, wie er fremde Buchstaben bis zum Rand meines Slips nachzeichnete.
»Ich habe versucht, dich zu erreichen. Nach dieser Sturmnacht«, sagte er.
»Ich weiß. Es tut mir leid, Red.« Ich holte tief Luft und zwang mich, es auszusprechen. »Ich habe herausgefunden, dass ich von Hunter schwanger bin.«
Red antwortete nicht. Aber seine Hand hielt für einen Moment inne, ehe er fortfuhr, mich zu streicheln. Seine Berührung hatte etwas Beruhigendes, und ich ertappte mich dabei zu wünschen, dass seine Hand weiter nach unten wandern möge. Das müssen die Hormone sein, dachte ich, nicht meine Schuld...
Nach einer Weile verließen wir das Zimmer und fanden uns in einem Wald wieder. Red war auf einmal ein Wolf, der vor mir herlief.
»Warte«, rief ich. »Nicht so schnell.« Aber er roch ein Kaninchen oder etwas Ähnliches und sprang in großen Sätzen davon. Als ich ihn einholte, war er von einem Stinktier besprüht worden und hatte seinen Schweif zwischen die Hinterläufe geklemmt.
»Du bist so was von dämlich, Red.«
»Jetzt wirst du nie mit mir schlafen«, erwiderte er. Ich legte meinen Arm um ihn und dachte: Ach, zum Teufel mit meinen Vorsätzen! Zumindest hüpft er nicht von einem Bett ins andere – so wie Hunter.
Wolfstraeume Roman
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