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Es gibt eine sichere
Methode herauszufinden, wer mehr Macht in einer Beziehung besitzt,
und zwar indem man einen Streit anfängt. Einen Streit, bei dem man
das Gefühl hat, völlig im Recht und tief verletzt zu sein. Dann
kann man beobachten, ob der Partner, der sich eigentlich vor Scham
winden und entschuldigen oder wenigstens die Güte haben müsste,
aufmerksam zuzuhören, sofort in die Defensive geht, ob er einen
wegen Eindringens in die Privatsphäre und Vertrauensbruchs
attackiert und schließlich bezichtigt, die eigene Verunsicherung
auf ihn zu übertragen – oder ob er das nicht tut. Wenn man danach
versucht, das Gespräch wieder auf sein Verhalten zurückzulenken,
kann man sehen, ob der Partner mit einem Satz wie »Ich bin jetzt
einfach zu wütend, um weiterzureden« antwortet oder nicht. Wenn man
ihn schließlich nur noch von hinten sieht, weil er aufgebracht
davonstürzt, während man selbst noch tiefer verletzt und
unglücklicher als zuvor zurückbleibt, dann... ja, dann hat ganz
offensichtlich der Partner das Heft in der Hand.
Nach meiner Rückkehr aus dem Wald marschierte
ich schnurstracks in den Speicher hinauf und informierte Hunter,
dass ich die Briefe entdeckt hätte. Er gab einen gequälten
Seufzer von sich und drehte sich mir widerstrebend zu. Auf dem
Bildschirm seines Computers bemerkte ich eine Instant Message, die
er gerade erhalten hatte.
»O Gott, fängst du schon wieder an? Verdammt,
Abs, vielleicht solltest du doch nach New York zurück und wieder
für dieses Institut arbeiten. Hier scheinst du wirklich total
durchzudrehen.«
»Ich kann nicht zurück.« Meine Stimme klang
nicht lauter als ein Flüstern.
»Dann such dir was anderes. Beschäftige dich
irgendwie, bevor du uns beide in den Wahnsinn treibst, nur weil du
es nicht erträgst, den ganzen Tag über im Haus herumzuhocken und
nicht zu wissen, was du tun sollst.«
»Ich sitze gar nicht den ganzen Tag über im Haus
herum!«
»Bis heute hattest du noch nicht mal angefangen,
die Kisten auszuräumen. Du hast keinen Job, kochen tust du auch
nichts...«
»Ich suche nach einer Stelle, falls dir das noch
nicht aufgefallen sein sollte. Und gestern Abend habe ich sehr wohl
gekocht, aber du wolltest ja nicht essen...«
»Ich meine richtiges
Essen.«
Ich holte tief Luft. »Hör zu«, sagte ich. »Es
geht jetzt nicht darum, was ich tue oder nicht, sondern ich bin
hier heraufgekommen, um über diese Briefe zu sprechen. Und über
Magda.«
Hunter nickte langsam, als hätte er gerade etwas
gehört, was er schon lange vermutete. »Aha. Ich weiß genau, worum
es hier geht. Dieser plötzliche Vertrauensbruch, dieses Bedürfnis,
mir vierundzwanzig Stunden lang auf der Pelle zu hocken. Du fühlst
dich verloren, du weißt nicht, was du mit deinem Leben anfangen
sollst. Es tut mir leid, Abs, aber
dafür musst du schon selbst eine Lösung finden. Du kannst dich
nicht ständig an mich klammern und darauf hoffen, dass ich deinem
Leben einen Sinn gebe.«
»Das ist wirklich unfair, Hunter! Ich habe einen
Brief gefunden, in dem du mich bittest, unseren Steuerberater zu
kontaktieren. Was sollte das? Wolltest du die Scheidung einreichen
und dich vorher noch erkundigen, ob sich das steuerlich rechnet?
Was ist in Rumänien passiert, Hunter? Ich finde, ich habe ein
Recht, das endlich zu erfahren. Wir müssen offen miteinander
reden.«
»Gut. Du kannst ja hierbleiben und offen reden.
Ich gehe jetzt jedenfalls.« Er sicherte seine Dokumente und drückte
dann auf den Knopf, um den Laptop auszuschalten.
»Nein!«, protestierte ich. »Du gehst jetzt nicht
schon wieder zu Moondoggie’s, um mit dieser verdammten Kellnerin zu
flirten.«
Hunter wurde dunkelrot, seine Augen funkelten
gefährlich. »Du hast wirklich vor, mich stinkwütend zu machen, was,
Abra?«
»Willst du damit sagen, dass das alles meine
Schuld sein soll?«
»Mir reicht dieser ganze Scheiß.«
»Nein, mir reicht er!««
Ich rannte zur Treppe und stürmte mit wild pochendem Herzen
hinunter. Ein Teil von mir hoffte, dass er mir nacheilen und mich
aufhalten würde. Aber das tat er nicht. Vielleicht war er zu
überrascht, dass zur Abwechslung ich mal davonstürzte.
Am Fuß der Treppe hielt ich inne und blickte
nach oben. Hunter lehnte nun doch an der Brüstung und sah mich an,
als wäre ich verrückt geworden. »Abra, was zum Teufel soll
das?«
»Ich nehme den Wagen, bevor du ihn dir krallst.«
Ohne eine Jacke verließ ich das Haus. Der Wagenschlüssel steckte
bereits, wie immer auf dem Land. Im Auto war es warm und muffig,
und ich brauchte mindestens drei Anläufe, ehe es mir gelang, den
Fahrersitz so weit nach vorne zu rücken, dass ich die Pedale
erreichte. Ich fuhr hier sonst fast nie. Hunter hasste es, wenn
jemand anders die Kontrolle übernahm, und mir hatte das bisher nie
etwas ausgemacht.
Bisher hatten wir noch keine solche
Auseinandersetzung gehabt. Vor Hunters Rückkehr aus Rumänien waren
wir uns im Grunde nie in die Haare gekommen. Vermutlich war das
auch einer der Gründe gewesen, warum er sich für mich entschieden
hatte. Ich war seine stille Nonne, sein liebes Mädchen, sein
williger Nebendarsteller.
Ich ließ den Motor an und fuhr los.