38
Voller Panick warf ich mich zwischen die beiden, wobei ich in der Hast die Spritze beiseite schleuderte. Ich verfluchte meine Dummheit, während ich Red meine Hand ins Maul schob, um ihn aufzuhalten. Für einen Moment schienen wir alle zu erstarren: meine Mutter still und erschreckend kalt unter mir, Red als achtzig Kilo schwerer Wolf auf mir. Dann drehte er den Kopf, um sich meinem Griff zu entwinden, und ich verpasste ihm einen solchen Schlag auf die Nase, dass er zur Seite flog und auf allen vieren neben dem Bett landete.
Für einen Augenblick befürchtete ich, dass er sich gleich auf mich stürzte. Doch seine Augen signalisierten mir etwas anderes. Er erkannte mich zwar nicht, ihm fehlte aber die Bösartigkeit. Er war wie ein Hund, der eine bestimmte Fährte aufgenommen hatte, vor Aufregung zitterte und nicht mehr in der Lage war, etwas anderes wahrzunehmen.
In diesem Fall führte ihn die Fährte direkt zu meiner Mutter.
Ich blickte Red direkt in die Augen, um so seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Da hörte ich die beiden anderen hinter mir.
»Schau nur, wie süß!«, sagte Hunter. Ich drehte mich zu ihm um. Sein Mund und sein Bart waren voller Blut. »Der kleine Red und die Schwiegermama.«
Magda, die noch immer das Kleid meiner Mutter trug, lachte auf diese schrecklich künstliche Art, wie das manche Frauen in Gegenwart von Männern tun. Dann wandte sie sich uns zu, und ich bemerkte, dass sie etwas in den Armen hielt, was zur Hälfte unter ihrem üppigen Busen verborgen war.
Ich hielt Red am Nacken fest. Doch seine Aufmerksamkeit war schon auf ein neues Opfer gerichtet. Erst jetzt sah ich, was Magda in den Armen hielt. Es war der Chihuahua Pimpernell, der sich wie ein Säugling an die Wolfsfrau schmiegte. Froh über die Ablenkung warf ich Red das Kleid meiner Mutter über. Er zitterte und verwandelte sich wieder in einen Mann. Schlotternd und bleicher als zuvor blieb er zu meinen Füßen hocken – ein geschlagener Mann in einem weiten Paisleykleid.
»Red? Alles in Ordnung?« Als ich in seine geweiteten Pupillen blickte, konnte ich den wölfischen Schimmer darin erkennen.
»Nein, nichts ist in Ordnung, Abs«, erklärte Hunter und grinste. »Zum einen sieht er wie ein lausiger Penner aus, und zum anderen hat er Hunger. Er giert nur so nach Blut.«
»Warum tust du das, Hunter? Wenn du mich verlassen wolltest, warum bist du dann nicht einfach gegangen? Was nützt es, so grausam zu sein?«
Er sah mich kalt an. »Abs, du hast die letzten zehn Jahre damit verbracht, dein Opfergetue zu vervollkommnen. Aber jetzt funktioniert das nicht mehr. Meine Zeit mit Magda hat mir gezeigt, welches Spiel du mit mir treibst. Du hast immer nur so getan, als ob du unabhängig wärst und nichts gegen meine Arbeit hättest. Ich habe nie verstanden, warum ich latent immer unter Schuldgefühlen gelitten habe. In Wahrheit hast du nur versucht, mich festzubinden, mich zu einem Leben zu zwingen, das ich hasse. Selbst als ich dir offen erklärt habe, dass ich so nicht länger leben kann, hast du dich an mich geklammert und es mir unmöglich gemacht, einen klaren Schnitt zu setzen, ohne wie ein Arschloch dazustehen. Doch das reicht mir jetzt.«
Deutlich konnte ich Magda aus diesen Worten heraushören. Doch es war auch etwas Wahres an dem, was er mir vorwarf. Zum ersten Mal in unserer Beziehung begriff ich, dass Hunter von einer ätzenden Wut befallen war, die jegliche Gefühle, die er einmal für mich empfunden haben mochte, nach und nach weggefressen hatte.
»Dann hast du also jetzt nichts mehr dagegen, als Arschloch dazustehen. Gut. Ausgezeichnet, Hunter. Aber wie willst du damit umgehen, zum Mörder zu werden?«
»Sei doch nicht so melodramatisch«, mischte sich Magda ein und schüttelte angewidert den Kopf. Für einen Augenblick wirkte sie fast wie eine respektable Wissenschaftlerin. »So weit ich sehen kann, befindet sich nur deine Mutter in Gefahr. Und der Einzige, der sie umbringen möchte, ist ja wohl dein kleiner Freund hier.«
Ich bemerkte, dass Red aufgestanden war und angefangen hatte, am verletzten Handgelenk meiner Mutter interessiert zu schnüffeln.
»Ihr habt die Hunde und die Katzen umgebracht. Wir haben verstanden, was ihr uns damit zeigen wolltet. Jetzt könnt ihr zumindest meine Mutter aus dem Spiel lassen.«
»Wir haben die Hunde freigelassen, und sie haben uns angegriffen. Das war also reine Notwehr. Was die Katzen betrifft...« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich war noch nie eine große Katzenfreundin.«
»Ihr seid also gewillt, einen Mord in Kauf zu nehmen, ja sogar Beihilfe zu leisten?« Ich versuchte nicht panisch zu klingen. »Du kannst das doch nicht wirklich wollen, Magda.« Auf einmal fiel mir die Spritze ins Auge, die ich in der Aufregung hatte fallen lassen. Sie war neben das Bett geschlittert. Hastig sah ich woanders hin und bemühte mich, mir nichts anmerken zu lassen. »Vor kurzem hast du doch erklärt, wir alle seien zivilisierte Menschen.«
Magdas Augen wurden schmal. »Das habe ich gesagt, bevor du mich herausgefordert hast. Aber gut... du willst deine Mutter also retten? Dann mal los. Wir werden dich nicht aufhalten.«
Red kniete neben meiner Mutter und untersuchte weiter ihr Handgelenk. Meine Mutter gab ein leises Stöhnen von sich.
»Hunter! Hunter, du darfst das nicht zulassen«, rief ich. »Hörst du mich?«
»Keine Angst, Doc«, meinte Red und warf mir einen raschen Blick zu. »Ich verliere nicht die Beherrschung. Ich schaue mir nur an, wie tief die Verletzungen deiner Mutter gehen.«
Meine Mutter versuchte den Kopf zu heben. »Was soll das... he, hör auf zu lecken! Stopp...« Ihre Stimme wurde leiser, als Red ihr in die Augen sah. Sie wirkte plötzlich ruhiger. Ich musste daran denken, wie Wölfe ihre Beute hypnotisieren. Sie blicken das verletzte Opfer an, und dieses versteht instinktiv, dass es keinen Sinn mehr hat, sich zu wehren.
»Das wird sich bestimmt gut anfühlen«, fügte Red genüsslich hinzu.
»Misch dich nicht ein«, sagte Hunter zu mir und trat hinter mich, um mich an den Handgelenken zu packen. »Das Ganze macht mich ziemlich geil.«
Ich wehrte mich, aber seine Hände hielten mich wie Schraubstöcke fest. »Red! Red, hör auf! Bitte, tu ihr nicht weh. Versuch dich daran zu erinnern, wer du bist! Und denk daran, dass ich ihre Tochter bin. Bitte, Red, hör endlich auf!«
Magda wandte sich kopfschüttelnd an Hunter. »Amerikaner haben wirklich die Tendenz, alles immer so todernst zu nehmen, nicht wahr? Das ist vielleicht langweilig. Hat sie euer Sexualleben etwa auch so ernst genommen?«
Hunter lachte. »Nein, dafür war die Gute viel zu verklemmt.«
»Ich bin nicht verklemmt.« Magda hob ihr Kinn. Hunter hielt meine Handgelenke blitzschnell mit einer Hand fest und küsste seine Geliebte gierig. Der kleine Hund, der zwischen die beiden gepresst wurde, wimmerte leise.
Und dann passierte alles auf einmal.
Magda schrie auf. »Au, dieser kleiner Scheißer hat mich gebissen!« Sie ließ Pimpernell fallen, der aufjaulte und zu meiner Mutter raste. Er stellte sich mit seinen dünnen Streichholzbeinchen auf ihre Schulter und bellte Red wütend an.
Ich habe keine Ahnung, was der Hund dabei von sich gab, aber es musste überzeugend geklungen haben. Denn als Nächstes war nur noch rotbraunes Fell zu sehen. Red ließ von meiner Mutter ab, verlor seine menschliche Gestalt und stürzte sich in rasender Geschwindigkeit mit gefletschten Zähnen auf Hunter. Einen wunderbaren Moment lang behielt Hunter seinen normalen Körper und ging zu Boden.
In diesen endlosen Sekunden hatte ich Zeit, mich zu bücken und die Spritze aufzuheben.
Dann verwandelte sich auch Hunter und stand als ein wesentlich größeres und aggressiveres Tier vor Red. Er stellte die Nackenhaare auf. Auch wenn Red nicht zurückwich, war eindeutig, welcher der Wölfe der dominantere war.
»Vergiss mich nicht, Abra«, zischte Magda und verzog den Mund zu einem bösartigen Lächeln.
»Wie könnte ich dich vergessen? Die boshafteste Schlampe, der ich je begegnet bin?«
»Vorsicht, kleines Mädchen. Sonst muss ich dir beibringen, was gute Manieren sind.«
Ich konnte das Fauchen und Knurren der beiden Unwölfe hören, die sich umkreisten und immer wieder nacheinander schnappten. Wie viel Zeit blieb mir noch, bevor Hunter Red außer Gefecht setzte?
Ich richtete mich auf. Deutlich spürte ich den Blick meiner Mutter in meinem Rücken. Mach eine Szene, dachte ich. Leg eine deiner berühmten Piper-LeFever-Szenen hin. Vielleicht kannst du uns ja dadurch befreien. Doch meine Mutter sagte nichts.
»Ach, du meinst«, griff ich stattdessen Magda an, »es wäre unhöflich zu erwähnen, dass du schon etwas zu sehr in die Jahre gekommen bist, um dich noch so grotesk zu verkleiden? Oder dass du für einen Wolfswurf wirklich deutlich übers Verfallsdatum hinaus sein könntest?«
»Ich bin noch fruchtbar.«
In diesem Augenblick begriff ich, warum wir alle hier waren. Red hatte mir erklärt, dass sich nicht jeder, der von einem Lykanthrop gebissen wurde, auch infizierte. Man musste die richtigen genetischen Voraussetzungen mitbringen. Vielleicht hatte sich Magda ja schon lange nach einem passenden Partner umgesehen, um ihre gefährdete Spezies vor dem Aussterben zu bewahren. Und Hunter war der Einzige gewesen, der dafür in Frage kam.
»Wirklich? Und wie lange noch? Wie alt bist du eigentlich, Magda? Fünfundvierzig, sechsundvierzig? Vielleicht kein allzu großes Problem für eine Frau, die noch ein oder höchstens zwei Kinder möchte? Aber deine Pläne dürften etwas größer angelegt sein. Hab ich Recht?«
»Die Welt braucht nicht noch weitere kurzsichtige, zahnlückige, asthmatische Kinder, die allergisch auf Erdnussbutter reagieren und als Linkshänder Stifthalter benötigen«, entgegnete sie aufgebracht.
Ich trat einen Schritt näher. »Hm, interessant. Ich selbst war als Kind auch kurzsichtig und zahnlückig.«
»Genau das meine ich.«
»Glaubst du nicht an Penicillin? Sollten wir die Kranken deiner Meinung nach einfach sich selbst überlassen?«
Ihr höhnisches Lachen war die erste spontane Reaktion, die ich bei ihr erlebte. »Penicillin hat eine Generation von Weichlingen hervorgebracht. In deinem Beruf will man vielleicht verkümmerte Mutanten retten, wie zum Beispiel diesen hässlichen Wasserkopf da, der sich Hund schimpft. Aber echte Hunde müssen schnell und klug genug sein, um zu jagen und zu töten. Wenn sie das aber nicht sind, sollte man sie sterben lassen. Und das Gleiche gilt für die Menschen. Wir müssen das Beste aus unseren Kindern herausholen und uns nicht mit Defekten am Herzen, den Augen oder dem Gehirn zufriedengeben.«
»Dann willst du also die Starken heranzüchten, und ich will die Schwachen retten.«
»Ja. Deshalb bin ich auch...«
Mein Angriff erwischte sie völlig unvorbereitet. Ich schlug ihr zuerst auf die linke und dann noch härter auf die rechte Wange. Während sie zurückfiel, rammte ich ihr die Spritze, die ich hinter meinem Rücken versteckt hatte, in den Hals.
»Was machst... du da?«, keuchte sie.
»Ich musste einen Hund einschläfern«, erklärte ich kalt. »Es ist Sodium Hydrochlorid.«
»Wie viel?«
»Genug, um dich auszuschalten.«
»Hunter!«« Magda sackte in sich zusammen. »Hilf mir, Hunter!«
Aber Hunter war ein Wolf und verstand nicht so ganz, was der hässliche chemische Geruch bedeutete, auch wenn er ihm Angst machte. Er jaulte auf, als ich auch ihm die Spritze in die Flanke rammte. Red nutzte die Gelegenheit und stürzte sich auf ihn.
»Nein, Red! Aus!«, rief ich.
Magda versuchte meine kurze Ablenkung zu nutzen. Aber sie brachte mich nur dazu, die Spritze bis zum Anschlag herunterzudrücken.
»Oh, mein Gott«, murmelte sie mit weit aufgerissenen, angsterfüllten Augen.
»Magda...« In Wahrheit hatte die Spritze nur ein Sedativum enthalten. Ich war mir nicht sicher, wie schnell es überhaupt wirken und welchen Effekt es haben würde.
»Du wirst die Spezies der Unwölfe mit deinen minderwertigen Genen ruinieren«, sagte sie, als ihre Augen nach hinten rollten. Sie war offenbar vor Angst in Ohnmacht gefallen. Ich konnte mein Glück kaum fassen.
»Ich mag deine minderwertigen Gene, Doc«, rief Red, der sich inzwischen wieder in einen Mann verwandelt hatte. »Es wäre mir sogar eine besondere Ehre, sie mit den meinen zu mischen.«
Ich schaute demonstrativ auf das Paisley-Kleid meiner Mutter, das er noch immer um sich gewickelt hatte. »Solange du Frauenkleider trägst, kommt das nicht in Frage. Da sind mir selbst meine minderwertigen Gene zu schade.«
»Es ist mir zumindest gelungen, das wilde Tier hier zu fesseln.« Red zeigte auf Hunter, den er mit dem Fransenschal meiner Mutter gefesselt und geknebelt hatte. »Als Erstes sollten wir uns jetzt aber um deine Mutter kümmern. Wie geht es Ihnen, Ma’am?«
Meine Mutter hätte vor Schock und durch den Blutverlust eigentlich halbtot sein müssen. Aber man sprach Piper LeFever niemals mit >Ma’am< an. Sie runzelte empört die Stirn und sah an Red vorbei zu mir hin.
»Abra«, sagte sie mit einer schon wieder wesentlich kräftigeren Stimme. »Schaff auf der Stelle diesen Hinterwäldler hier raus und bring mir mein schwarzes Kleid. Und rufe um Himmels willen endlich den Notarzt, ehe ich bewusstlos werde. Verstanden?«
»Du bist wirklich unglaublich, Mom.«
»Dann tu auch etwas dafür, dass ich das noch eine Weile bleibe.«
Ich wollte ihr Leben nicht noch weiter gefährden, indem ich das letzte Wort hatte. Also rief ich den Krankenwagen. Als ich auch die Polizei rufen wollte, hielt Red mich allerdings davon ab.
Wolfstraeume Roman
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