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Voller Panick warf ich
mich zwischen die beiden, wobei ich in der Hast die Spritze
beiseite schleuderte. Ich verfluchte meine Dummheit, während ich
Red meine Hand ins Maul schob, um ihn aufzuhalten. Für einen Moment
schienen wir alle zu erstarren: meine Mutter still und erschreckend
kalt unter mir, Red als achtzig Kilo schwerer Wolf auf mir. Dann
drehte er den Kopf, um sich meinem Griff zu entwinden, und ich
verpasste ihm einen solchen Schlag auf die Nase, dass er zur Seite
flog und auf allen vieren neben dem Bett landete.
Für einen Augenblick befürchtete ich, dass er
sich gleich auf mich stürzte. Doch seine Augen signalisierten mir
etwas anderes. Er erkannte mich zwar nicht, ihm fehlte aber die
Bösartigkeit. Er war wie ein Hund, der eine bestimmte Fährte
aufgenommen hatte, vor Aufregung zitterte und nicht mehr in der
Lage war, etwas anderes wahrzunehmen.
In diesem Fall führte ihn die Fährte direkt zu
meiner Mutter.
Ich blickte Red direkt in die Augen, um so seine
Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Da hörte ich die beiden anderen
hinter mir.
»Schau nur, wie süß!«, sagte Hunter. Ich drehte
mich zu
ihm um. Sein Mund und sein Bart waren voller Blut. »Der kleine Red
und die Schwiegermama.«
Magda, die noch immer das Kleid meiner Mutter
trug, lachte auf diese schrecklich künstliche Art, wie das manche
Frauen in Gegenwart von Männern tun. Dann wandte sie sich uns zu,
und ich bemerkte, dass sie etwas in den Armen hielt, was zur Hälfte
unter ihrem üppigen Busen verborgen war.
Ich hielt Red am Nacken fest. Doch seine
Aufmerksamkeit war schon auf ein neues Opfer gerichtet. Erst jetzt
sah ich, was Magda in den Armen hielt. Es war der Chihuahua
Pimpernell, der sich wie ein Säugling an die Wolfsfrau schmiegte.
Froh über die Ablenkung warf ich Red das Kleid meiner Mutter über.
Er zitterte und verwandelte sich wieder in einen Mann. Schlotternd
und bleicher als zuvor blieb er zu meinen Füßen hocken – ein
geschlagener Mann in einem weiten Paisleykleid.
»Red? Alles in Ordnung?« Als ich in seine
geweiteten Pupillen blickte, konnte ich den wölfischen Schimmer
darin erkennen.
»Nein, nichts ist in Ordnung, Abs«, erklärte
Hunter und grinste. »Zum einen sieht er wie ein lausiger Penner
aus, und zum anderen hat er Hunger. Er giert nur so nach
Blut.«
»Warum tust du das, Hunter? Wenn du mich
verlassen wolltest, warum bist du dann nicht einfach gegangen? Was
nützt es, so grausam zu sein?«
Er sah mich kalt an. »Abs, du hast die letzten
zehn Jahre damit verbracht, dein Opfergetue zu vervollkommnen. Aber
jetzt funktioniert das nicht mehr. Meine Zeit mit Magda hat mir
gezeigt, welches Spiel du mit mir treibst. Du hast immer nur so
getan, als ob du unabhängig wärst
und nichts gegen meine Arbeit hättest. Ich habe nie verstanden,
warum ich latent immer unter Schuldgefühlen gelitten habe. In
Wahrheit hast du nur versucht, mich festzubinden, mich zu einem
Leben zu zwingen, das ich hasse. Selbst als ich dir offen erklärt
habe, dass ich so nicht länger leben kann, hast du dich an mich
geklammert und es mir unmöglich gemacht, einen klaren Schnitt zu
setzen, ohne wie ein Arschloch dazustehen. Doch das reicht mir
jetzt.«
Deutlich konnte ich Magda aus diesen Worten
heraushören. Doch es war auch etwas Wahres an dem, was er mir
vorwarf. Zum ersten Mal in unserer Beziehung begriff ich, dass
Hunter von einer ätzenden Wut befallen war, die jegliche Gefühle,
die er einmal für mich empfunden haben mochte, nach und nach
weggefressen hatte.
»Dann hast du also jetzt nichts mehr dagegen,
als Arschloch dazustehen. Gut. Ausgezeichnet, Hunter. Aber wie
willst du damit umgehen, zum Mörder zu werden?«
»Sei doch nicht so melodramatisch«, mischte sich
Magda ein und schüttelte angewidert den Kopf. Für einen Augenblick
wirkte sie fast wie eine respektable Wissenschaftlerin. »So weit
ich sehen kann, befindet sich nur deine Mutter in Gefahr. Und der
Einzige, der sie umbringen möchte, ist ja wohl dein kleiner Freund
hier.«
Ich bemerkte, dass Red aufgestanden war und
angefangen hatte, am verletzten Handgelenk meiner Mutter
interessiert zu schnüffeln.
»Ihr habt die Hunde und die Katzen umgebracht.
Wir haben verstanden, was ihr uns damit zeigen wolltet. Jetzt könnt
ihr zumindest meine Mutter aus dem Spiel lassen.«
»Wir haben die Hunde freigelassen, und sie haben
uns
angegriffen. Das war also reine Notwehr. Was die Katzen
betrifft...« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich war noch nie eine
große Katzenfreundin.«
»Ihr seid also gewillt, einen Mord in Kauf zu
nehmen, ja sogar Beihilfe zu leisten?« Ich versuchte nicht panisch
zu klingen. »Du kannst das doch nicht wirklich wollen, Magda.« Auf
einmal fiel mir die Spritze ins Auge, die ich in der Aufregung
hatte fallen lassen. Sie war neben das Bett geschlittert. Hastig
sah ich woanders hin und bemühte mich, mir nichts anmerken zu
lassen. »Vor kurzem hast du doch erklärt, wir alle seien
zivilisierte Menschen.«
Magdas Augen wurden schmal. »Das habe ich
gesagt, bevor du mich herausgefordert hast. Aber gut... du willst
deine Mutter also retten? Dann mal los. Wir werden dich nicht
aufhalten.«
Red kniete neben meiner Mutter und untersuchte
weiter ihr Handgelenk. Meine Mutter gab ein leises Stöhnen von
sich.
»Hunter! Hunter, du darfst das nicht zulassen«,
rief ich. »Hörst du mich?«
»Keine Angst, Doc«, meinte Red und warf mir
einen raschen Blick zu. »Ich verliere nicht die Beherrschung. Ich
schaue mir nur an, wie tief die Verletzungen deiner Mutter
gehen.«
Meine Mutter versuchte den Kopf zu heben. »Was
soll das... he, hör auf zu lecken! Stopp...« Ihre Stimme wurde
leiser, als Red ihr in die Augen sah. Sie wirkte plötzlich ruhiger.
Ich musste daran denken, wie Wölfe ihre Beute hypnotisieren. Sie
blicken das verletzte Opfer an, und dieses versteht instinktiv,
dass es keinen Sinn mehr hat, sich zu wehren.
»Das wird sich bestimmt gut anfühlen«, fügte Red
genüsslich hinzu.
»Misch dich nicht ein«, sagte Hunter zu mir und
trat hinter mich, um mich an den Handgelenken zu packen. »Das Ganze
macht mich ziemlich geil.«
Ich wehrte mich, aber seine Hände hielten mich
wie Schraubstöcke fest. »Red! Red, hör auf! Bitte, tu ihr nicht
weh. Versuch dich daran zu erinnern, wer du bist! Und denk daran,
dass ich ihre Tochter bin. Bitte, Red, hör endlich auf!«
Magda wandte sich kopfschüttelnd an Hunter.
»Amerikaner haben wirklich die Tendenz, alles immer so todernst zu
nehmen, nicht wahr? Das ist vielleicht langweilig. Hat sie euer
Sexualleben etwa auch so ernst genommen?«
Hunter lachte. »Nein, dafür war die Gute viel zu
verklemmt.«
»Ich bin nicht verklemmt.« Magda hob ihr Kinn.
Hunter hielt meine Handgelenke blitzschnell mit einer Hand fest und
küsste seine Geliebte gierig. Der kleine Hund, der zwischen die
beiden gepresst wurde, wimmerte leise.
Und dann passierte alles auf einmal.
Magda schrie auf. »Au, dieser kleiner Scheißer
hat mich gebissen!« Sie ließ Pimpernell fallen, der aufjaulte und
zu meiner Mutter raste. Er stellte sich mit seinen dünnen
Streichholzbeinchen auf ihre Schulter und bellte Red wütend
an.
Ich habe keine Ahnung, was der Hund dabei von
sich gab, aber es musste überzeugend geklungen haben. Denn als
Nächstes war nur noch rotbraunes Fell zu sehen. Red ließ von meiner
Mutter ab, verlor seine menschliche Gestalt und stürzte sich in
rasender Geschwindigkeit mit gefletschten
Zähnen auf Hunter. Einen wunderbaren Moment lang behielt Hunter
seinen normalen Körper und ging zu Boden.
In diesen endlosen Sekunden hatte ich Zeit, mich
zu bücken und die Spritze aufzuheben.
Dann verwandelte sich auch Hunter und stand als
ein wesentlich größeres und aggressiveres Tier vor Red. Er stellte
die Nackenhaare auf. Auch wenn Red nicht zurückwich, war eindeutig,
welcher der Wölfe der dominantere war.
»Vergiss mich nicht, Abra«, zischte Magda und
verzog den Mund zu einem bösartigen Lächeln.
»Wie könnte ich dich vergessen? Die boshafteste
Schlampe, der ich je begegnet bin?«
»Vorsicht, kleines Mädchen. Sonst muss ich dir
beibringen, was gute Manieren sind.«
Ich konnte das Fauchen und Knurren der beiden
Unwölfe hören, die sich umkreisten und immer wieder nacheinander
schnappten. Wie viel Zeit blieb mir noch, bevor Hunter Red außer
Gefecht setzte?
Ich richtete mich auf. Deutlich spürte ich den
Blick meiner Mutter in meinem Rücken. Mach eine Szene, dachte ich.
Leg eine deiner berühmten Piper-LeFever-Szenen hin. Vielleicht
kannst du uns ja dadurch befreien. Doch meine Mutter sagte
nichts.
»Ach, du meinst«, griff ich stattdessen Magda
an, »es wäre unhöflich zu erwähnen, dass du schon etwas zu sehr in
die Jahre gekommen bist, um dich noch so grotesk zu verkleiden?
Oder dass du für einen Wolfswurf wirklich deutlich übers
Verfallsdatum hinaus sein könntest?«
»Ich bin noch fruchtbar.«
In diesem Augenblick begriff ich, warum wir alle
hier waren. Red hatte mir erklärt, dass sich nicht jeder, der von
einem Lykanthrop gebissen wurde, auch infizierte. Man musste die
richtigen genetischen Voraussetzungen mitbringen. Vielleicht hatte
sich Magda ja schon lange nach einem passenden Partner umgesehen,
um ihre gefährdete Spezies vor dem Aussterben zu bewahren. Und
Hunter war der Einzige gewesen, der dafür in Frage kam.
»Wirklich? Und wie lange noch? Wie alt bist du
eigentlich, Magda? Fünfundvierzig, sechsundvierzig? Vielleicht kein
allzu großes Problem für eine Frau, die noch ein oder höchstens
zwei Kinder möchte? Aber deine Pläne dürften etwas größer angelegt
sein. Hab ich Recht?«
»Die Welt braucht nicht noch weitere
kurzsichtige, zahnlückige, asthmatische Kinder, die allergisch auf
Erdnussbutter reagieren und als Linkshänder Stifthalter benötigen«,
entgegnete sie aufgebracht.
Ich trat einen Schritt näher. »Hm, interessant.
Ich selbst war als Kind auch kurzsichtig und zahnlückig.«
»Genau das meine ich.«
»Glaubst du nicht an Penicillin? Sollten wir die
Kranken deiner Meinung nach einfach sich selbst überlassen?«
Ihr höhnisches Lachen war die erste spontane
Reaktion, die ich bei ihr erlebte. »Penicillin hat eine Generation
von Weichlingen hervorgebracht. In deinem Beruf will man vielleicht
verkümmerte Mutanten retten, wie zum Beispiel diesen hässlichen
Wasserkopf da, der sich Hund schimpft. Aber echte Hunde müssen
schnell und klug genug sein, um zu jagen und zu töten. Wenn sie das
aber nicht sind, sollte man sie sterben lassen. Und das Gleiche
gilt für die Menschen. Wir müssen das Beste aus unseren Kindern
herausholen und uns nicht mit Defekten am Herzen, den Augen oder
dem Gehirn zufriedengeben.«
»Dann willst du also die Starken heranzüchten,
und ich will die Schwachen retten.«
»Ja. Deshalb bin ich auch...«
Mein Angriff erwischte sie völlig unvorbereitet.
Ich schlug ihr zuerst auf die linke und dann noch härter auf die
rechte Wange. Während sie zurückfiel, rammte ich ihr die Spritze,
die ich hinter meinem Rücken versteckt hatte, in den Hals.
»Was machst... du da?«, keuchte sie.
»Ich musste einen Hund einschläfern«, erklärte
ich kalt. »Es ist Sodium Hydrochlorid.«
»Wie viel?«
»Genug, um dich auszuschalten.«
»Hunter!«« Magda sackte in sich zusammen. »Hilf
mir, Hunter!«
Aber Hunter war ein Wolf und verstand nicht so
ganz, was der hässliche chemische Geruch bedeutete, auch wenn er
ihm Angst machte. Er jaulte auf, als ich auch ihm die Spritze in
die Flanke rammte. Red nutzte die Gelegenheit und stürzte sich auf
ihn.
»Nein, Red! Aus!«, rief ich.
Magda versuchte meine kurze Ablenkung zu nutzen.
Aber sie brachte mich nur dazu, die Spritze bis zum Anschlag
herunterzudrücken.
»Oh, mein Gott«, murmelte sie mit weit
aufgerissenen, angsterfüllten Augen.
»Magda...« In Wahrheit hatte die Spritze nur ein
Sedativum enthalten. Ich war mir nicht sicher, wie schnell es
überhaupt wirken und welchen Effekt es haben würde.
»Du wirst die Spezies der Unwölfe mit deinen
minderwertigen Genen ruinieren«, sagte sie, als ihre Augen nach
hinten rollten. Sie war offenbar vor Angst in Ohnmacht gefallen.
Ich konnte mein Glück kaum fassen.
»Ich mag deine minderwertigen Gene, Doc«, rief
Red, der sich inzwischen wieder in einen Mann verwandelt hatte. »Es
wäre mir sogar eine besondere Ehre, sie mit den meinen zu
mischen.«
Ich schaute demonstrativ auf das Paisley-Kleid
meiner Mutter, das er noch immer um sich gewickelt hatte. »Solange
du Frauenkleider trägst, kommt das nicht in Frage. Da sind mir
selbst meine minderwertigen Gene zu schade.«
»Es ist mir zumindest gelungen, das wilde Tier
hier zu fesseln.« Red zeigte auf Hunter, den er mit dem
Fransenschal meiner Mutter gefesselt und geknebelt hatte. »Als
Erstes sollten wir uns jetzt aber um deine Mutter kümmern. Wie geht
es Ihnen, Ma’am?«
Meine Mutter hätte vor Schock und durch den
Blutverlust eigentlich halbtot sein müssen. Aber man sprach Piper
LeFever niemals mit >Ma’am< an. Sie runzelte empört die Stirn
und sah an Red vorbei zu mir hin.
»Abra«, sagte sie mit einer schon wieder
wesentlich kräftigeren Stimme. »Schaff auf der Stelle diesen
Hinterwäldler hier raus und bring mir mein schwarzes Kleid. Und
rufe um Himmels willen endlich den Notarzt, ehe ich bewusstlos
werde. Verstanden?«
»Du bist wirklich unglaublich, Mom.«
»Dann tu auch etwas dafür, dass ich das noch
eine Weile bleibe.«
Ich wollte ihr Leben nicht noch weiter
gefährden, indem ich das letzte Wort hatte. Also rief ich den
Krankenwagen. Als ich auch die Polizei rufen wollte, hielt Red mich
allerdings davon ab.