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Am Sonntag, den.
Oktober, ließ es sich nicht länger leugnen. Da ich nicht arbeitete,
gab es auch nichts, womit ich mich ablenken konnte. Ich musste der
Tatsache ungeschminkt ins Auge blicken, dass ich an diesem Tag
dreißig Jahre alt wurde. Wie alle Geburtstage, die mit einer Null
enden, verlangte auch dieser nach einer gewissen Aufmerksamkeit.
Ich betrat nun das Jahrzehnt, in dem wichtige Entscheidungen
gefällt werden. Meine Mutter meinte immer: »Mit zwanzig Jahren kann
man einen ersten Beruf und einen ersten Mann wählen, die sich
später möglicherweise beide als völlig unbrauchbar erweisen. Aber
mit Dreißig schafft man sich sein Erwachsenenleben. Natürlich kann
man vieles auch noch mit Vierzig wieder rückgängig machen, aber
trotzdem...« Dreißig Jahre alt zu werden, stellte für mich also ein
wichtiges Datum dar.
Von Hunter erwartete ich nichts Großes.
Er hatte schon früh in unserer Beziehung
klargestellt, dass Geburtstage und Weihnachten etwas für Kinder
wären, während sich Erwachsene damit überraschten, persönlichere
und originellere Tage zu feiern. Was er zugegebenermaßen manchmal
auch durchaus tat. So brachte er mir einmal einen Strauß roter
Rosen mit, um unser erstes Jahr
mit geteilter Miete zu feiern, und ein
anderes Mal überreichte er mir ein Seidenhöschen, nachdem er mich
in der Nacht zuvor das erste Mal betrunken erlebt hatte.
Aber Geburtstage – selbst runde und damit
schmerzhafte – vergaß Hunter meist. Wenn man kein Geschenk besorgen
muss, notiert man sich auch das Datum nicht im Kalender. So einfach
war das. Wenn ich ihn an einem solchen Tag ins Kino eingeladen
hätte, wäre er wahrscheinlich mitgekommen. Aber es kam mir
irgendwie lächerlich vor – fast so, als würde ich auf einer
Sonderbehandlung bestehen. Da erschien es mir wesentlich klüger,
das Ganze gar nicht erst zu erwähnen.
Eigentlich hatte ich geglaubt, mich inzwischen
an die Tatsache gewöhnt zu haben, dass sich mein Mann bei
Geburtstagen oder sonstigen Feierlichkeiten keine Mühe gab – oder,
wie Hunter es nannte, keine falschen Gefühle vortäuschte.
Vielleicht bildete ich es mir also nur ein, dass er an diesem
Morgen besonders gereizt erschien. Er wirkte abwesend und genervt,
als er den Kaffee aufgoss und ich ihn fragte, ob er auch einen
Toast wolle. Ich beschloss also, ihm nicht vorzuschlagen,
nachmittags mit mir ins Kino zu gehen. Offenbar plante er sowieso,
den Tag so zu verbringen, wie er auch die anderen Tage seit seiner
Rückkehr aus Rumänien verbracht hatte – auf der Suche nach obskuren
Büchern und Artikeln zum Thema Wölfe oder mit Kanadiern, die er für
seine offenbar nicht enden wollende Geschichte interviewte.
Ich hatte keine Ahnung, was es mit den Kanadiern
auf sich hatte. Möglicherweise gab es dort einfach mehr Leute als
bei uns, die sich mit Wölfen auskannten.
Meine Mutter rief mich an, um mir zum Geburtstag
zu
gratulieren. Sie wollte mit dem Zug nach New York City kommen und
mir mein Geschenk persönlich überreichen. Da ich mich in einem
schwachen Moment einmal bei ihr über Hunters seltsame Einstellung
zu Geburtstagen und dergleichen beklagt hatte, kannte sie das
Problem oder vielmehr die Theorien meines Mannes, was das Feiern
betraf. Und wenn es etwas gab, das meine Mutter – ein ehemaliger
B-Movie-Star- nicht begreifen konnte, dann war es meine
Bereitschaft, mich mit solchen Dingen abzufinden.
»Du musst dich immer so verhalten, als
erwartetest du nichts als das Beste. Sonst wird man dich wie einen
Fußabtreter behandeln.« Das hatte sie mir schon mehr als einmal
erklärt. »Wenn ich so herumdrucksen würde wie du, wäre ich
garantiert nie über die Rolle der blonden Vampirbraut Nummer drei
hinausgekommen.« Ich hatte des Öfteren das zweifelhafte Vergnügen
gehabt, die Mienen der Zuhörer beobachten zu können, wenn sich
meine Mutter zu einer ihrer Reden aufschwang, und hielt es deshalb
insgeheim für nicht allzu erstrebenswert, als Diva
aufzutreten.
Jedenfalls vertröstete ich sie auf das kommende
Wochenende. Als Nächster rief mein Vater an. Er hatte mir zum
Geburtstag einen Scheck geschickt, da er nicht wusste, was ich mir
wünschte. Er berichtete von dem angeblich wahnsinnigen Exmann
seiner Freundin Moon und lud mich dann ein, ihn doch mal wieder zu
besuchen. Hunter erwähnte er mit keinem Wort.
Meine Freunde aus dem Institut würden mir
bestimmt nicht telefonisch gratulieren, da wir uns sowieso am
nächsten Tag wiedersahen. Zu meinen früheren Freunden und Bekannten
von der Highschool und dem College hatte ich schon lange den
Kontakt verloren. In vielen Hollywoodfilmen
wurde die Heldin meist von mindestens zwei besten Freundinnen aus
der Kindheit begleitet, die immer noch etwas verrückter als sie
selbst waren. Manchmal gab es dann auch noch einen dritten Freund,
einen Schwulen, der der Gruppe Stil und ein smartes Flair verlieh,
obwohl er in Wahrheit den tragischsten Charakter darstellte. Ich
sehnte mich nach solchen Sidekicks und hatte mir schon öfter
überlegt, ob ich nicht einfach eine Anzeige aufgeben sollte:
»Hetero-Frau sucht schwulen Mann und andere Hetero-Frauen für
Spaziergänge im Park, ausländische Filme, spontane Treffen in
Cafes, liebevoll ausgesuchte Geschenke. Keine heimlichen
Rivalitäten, kein plötzliches Verschwinden, keine Langweiler
erwünscht.«
Natürlich konnte ich mir auch einen Hund
anschaffen. Hunde wachten jedenfalls nicht eines Morgens auf und
stellten fest, dass die Beziehung doch nicht mehr die richtige für
sie war. Hunde logen einen nicht an und erfanden auch nicht
irgendwelche Geschichten darüber, was sie angeblich getan hatten,
während sie sich nach Alternativen umgesehen hatten. So wie ihre
Verwandten, die Wölfe, liebten auch sie ein Leben lang.
Da ich mich etwas weinerlich fühlte, beschloss
ich, entlang der Bootsanlegestelle im Riverside Park joggen zu
gehen. Ich wollte eine verstärkte Ausschüttung meiner Endorphine
anregen und so vielleicht die Unsicherheit herauslaufen, die mich
auf einmal ergriffen hatte.
»Ich gehe joggen«, erklärte ich Hunter.
»Aha«, erwiderte er und blickte nur kurz in
meine Richtung. Sobald ich die Haustür hinter mir ins Schloss
fallen hörte, merkte ich, wie schwer es mir fiel, meine Beine
überhaupt zu bewegen. Ich überlegte einen Moment lang, ob ich
nicht besser einen Bus zum Park nahm, entschied mich jedoch
dagegen. Das Bedürfnis zu laufen würde sich bestimmt einstellen,
sobald ich mich in Richtung Grünflächen auf den Weg machte.
Einige Jogger liefen auf dem Riverside Drive an
mir vorbei. Sie trugen alle eng anliegende Lycra-Anzüge und wirkten
schlank und konzentriert, während ich mich in meinem grauen
Jogginganzug ziemlich schlapp fühlte. Ein Geschäftsmann mit einer
Plastiktüte in seiner Linken wartete darauf, dass sein Mastiff
endlich sein Geschäft erledigt hatte. Es waren solche Momente, die
mich diese Stadt so lieben ließen: Nirgendwo sonst wirkte das
Natürliche so unnatürlich wie hier.
Auf der 79. Straße traf ich auf eine Frau, mit
der ich gemeinsam die Highschool besucht hatte. Sie erklärte mir
stolz, dass sie inzwischen Theaterstücke schrieb und Software
entwarf. Ihre Zehen sahen in den eleganten Sandalen perfekt
gepflegt aus, während sich mir ihr schwangerer Bauch unter einem
schicken Designerpulli keck entgegenreckte.
»Bist du verheiratet?«, fragte sie, ohne auf
eine Antwort zu warten. »Ich habe gerade einen hinreißenden Mann
aus einem kleinen Dorf in Italien geheiratet. Wir sind so
glücklich! Wir haben in der kleinen weißen Kirche geheiratet, in
der Paolo schon getauft wurde, und der ganze Ort kam zu unserer
Hochzeit. Die kleinen Mädchen haben alle Schleifen getragen.
Entzückend! Ich erinnere mich noch, dass du nie heiraten wolltest.
Irgendwie habe ich mir dich immer in einem großen coolen Loft mit
vielen Katzen vorgestellt.«
»Nein«, erwiderte ich langsam. »Die mit der
Katzenvorliebe ist meine Mutter. Ich bevorzuge Hunde.«
Mrs. Dorf-in-Italien warf den Kopf zurück und
lachte. »So habe ich dich in Erinnerung, Abra. Genau so! Mit
staubtrockenem Humor! Lass uns doch bald mal etwas trinken gehen
oder so. Hier ist meine Nummer.«
Ich steckte ihre Visitenkarte in meine Tasche
und lief weiter – vorbei an jungen Liebespärchen in ausgebleichten
Jeans, die lachten und angeregt miteinander redeten, während sie
sich immer wieder verliebt betrachteten.
Auf dem Nachhauseweg kaufte ich in einem
Bioladen etwas für unser Abendessen ein. In der Gemüseabteilung
stand neben mir eine Frau Mitte fünfzig, mit rabenschwarzen Haaren
und einer übergroßen Brille mit getönten Gläsern. Sie kam mir
irgendwie bekannt vor, auch wenn ich nicht wusste, woher. Erst als
sie auf mich zustürmte, mich umarmte und sich als Rita, die frühere
Freundin meines Vaters, vorstellte, erinnerte ich mich wieder. Wir
hatten uns seit meiner Collegezeit nicht mehr gesehen, und sie
erkundigte sich natürlich nach meinem Vater, dem alten Haudegen,
wie sie ihn nannte.
»Es geht ihm gut«, antwortete ich.
»Ist er mit jemandem zusammen? Er musste immer
mit irgendjemandem zusammen sein, dein Vater.«
»Ja, er hat eine Freundin.«
Sie schüttelte traurig den Kopf. »Ich kann Leute
einfach nicht verstehen, die um jeden Preis nicht allein bleiben
wollen.«
Dann umarmte sie mich erneut und hüllte mich
dabei in den Duft ihres schweren Parfüms ein. Sie gab mir ihre
Karte, falls ich mal einen Job oder eine gute PR-Beratung bräuchte,
und wandte sich schließlich den Zwiebeln zu.
Das Sache mit Manhattan war die: Irgendwann kam
jeder hierher, um sein Glück zu versuchen – alte Freunde und
Bekannte, Feinde, Geliebte, Dämonen. Leute, die man in Nepal
kennengelernt hatte, schlugen sich plötzlich in Manhattan mit einem
um ein Taxi. Der Klassentyrann, der einen in der Grundschule immer
»Hundeatem« genannt hatte, lief dir auf einmal in der U-Bahn über
den Weg und konnte sich noch genau daran erinnern, dass du nicht zu
seinem sechsten Geburtstag gekommen warst. Man sollte niemals nach
New York ziehen, wenn man Anonymität suchte. Diese Stadt war wie
Oz: Die Böse Hexe des Westens entpuppte sich plötzlich als die
Frau, die schon in Kansas etwas gegen deinen Hund gehabt
hatte.
Zurück in der Geborgenheit unserer Wohnung, wo
mich niemand auf meine Mankos als Ehefrau und als Mensch aufmerksam
machen konnte, bereitete ich das Abendessen vor. Hunter
konzentrierte sich weiter auf seinen Computer. Da ich spürte, wie
sich etwas in mir zusammenbraute und ich unruhiger und gereizter
wurde, gab ich mir besondere Mühe, mich auf das Essen zu
fokussieren. Ich schnitt, hackte und maß ab, ganz so wie in den
Anfangszeiten meiner Collegelaufbahn, als ich noch selten gekocht
hatte und es erst allmählich lernen musste.
Unsere Küche war im Grunde ein fensterloser
Winkel, so dass ich immer wieder gedankenversunken ins Wohnzimmer
hinüberblickte. Allerdings versuchte ich, dabei nicht den
angespannt wirkenden Rücken Hunters anzusehen, der gereizt über
seinem Artikel brütete. Nachdem ich das Gemüsechili so weit fertig
hatte, dass es nur noch vor sich hinköcheln musste, blätterte ich
mich durch vier Teile der New York Times, während ich insgeheim
darauf wartete, dass Hunter von sich aus das Schweigen bräche. Um
fünfzehn
Uhr war er noch immer in seine Arbeit vertieft. Ich beschloss, in
eine Buchhandlung zu gehen. Um neunzehn Uhr kehrte ich schließlich
von Barnes & Noble zurück, wo ich mir
gerade einige Bücher mit Titeln wie »Hilfe, meine Ehe ist am Ende«
angesehen hatte, als unsere Nachbarn von gegenüber Arm in Arm
vorbeikamen und Bücher über Gärtnern und die Toskana in Händen
hielten.
»Möchtest du ein Glas Wein, Hunter?«, fragte ich
den Hinterkopf meines Mannes.
»Mm.«
»Rot oder weiß?«
»Egal.«
»Oder hättest du vielleicht lieber ein Glas
Tippex?«
»Ha ha, sehr witzig.«
»Du hörst mir also doch zu.«
Hunter blickte von seinem Computer auf und sah
mich so grimmig an wie ein Hund, der seinen Knochen bewacht. »Ich
bin fast fertig«, sagte er. »Noch zwei Sätze, dann kann ich eine
Pause machen.«
Seinem Tonfall nach zu urteilen schien er gerade
in eine schwierige Operation vertieft zu sein, und ich hatte ihn
gebeten, den Patienten doch bitte blutend liegen zu lassen und zum
Essen zu kommen. Ich schluckte meinen Ärger hinunter und öffnete
eine Flasche Merlot.
Als Hunter seinen Stuhl zurückschob und
aufstand, blickte ich hoch. Er kam zum Esstisch. In Gedanken war er
offensichtlich immer noch Tausende von Kilometern entfernt.
»Okay, hier bin ich«, sagte er, während er noch
rasch ein Blatt mit Notizen überflog, ehe er es auf die Couch
legte. »Was gibt’s zum Abendessen?«
Ich servierte ihm das Chili, wobei ich mir die
größte Mühe gab, nicht zu zeigen, wie verletzt und verärgert ich
war. So merkte ich auch nichts von Hunters Zorn, bis er den vollen
Teller wütend über den Tisch schubste. Das Gemüsechili schwappte
über und der Teller knallte mit voller Wucht an die
gegenüberliegende Wand.
Für einen Augenblick starrte ich fassungslos auf
die Scherben. Dann blickte ich meinen Mann über die Flamme einer
dicken goldenen Kerze hinweg an. »Und was sollte das jetzt, wenn
ich fragen darf?«
Hunter stieß einen langen, gequälten Seufzer aus
und verbarg dann sein Gesicht hinter seinen Händen. Er antwortete,
ohne mich anzusehen. »Ich habe dich nie darum gebeten zu kochen,
Abra. Aber wenn du ankündigst, du würdest ein Chili machen, dann
koch verdammt nochmal auch etwas, das ich essen kann.«
»Dir ist doch noch bewusst, dass ich
Vegetarierin bin – oder?«
Hunter hob den Kopf und starrte mich
wutentbrannt an. »Und ist dir bewusst, dass ich kein verdammter
Vegetarier bin? Du sagst doch ständig, wie dünn und erschöpft ich
aussehe. Wie krank.« Das Wort >krank< presste er heraus, als
ob es sich um einen Fluch handelte. Dann wies er voller Verachtung
auf meinen vollen Teller. »Hier, Liebling, mit einer schönen großen
Tomate wirst du bestimmt wieder gesund.
Natürlich aus dem Bioladen!«
Ich blieb ruhig, während Hunter aufstand, in
seiner Jackentasche herumwühlte und schließlich eine
Zigarettenschachtel herausholte. Bisher war ich davon ausgegangen,
dass er vor über einem Jahr mit dem Rauchen aufgehört hatte. An der
offen liegenden Ziegelwand lief das Chili
langsam über einen Holzschnitt, auf dem ein Hase dargestellt
war.
»Hunter, willst du mir nicht sagen, was mit dir
los ist? Hier geht es doch nicht um das Essen.«
Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
»Dieses ständige In-der-Wohnung-Sein geht mir einfach wahnsinnig
auf die Nerven. Wie soll ich hier über die Natur schreiben können?
Ich komme mir wie ein Gefangener dieser verdammten Upper West Side
vor!«
»Und warum gehst du dann nicht öfter weg?«
Er zögerte einen Moment mit seiner Antwort, als
wüsste er nicht so recht, wie er sie für eine Idiotin wie mich am
besten formulieren sollte. »Abra, ich schreibe eine Geschichte über
wilde Natur. Natürlich weiß ich, dass ich jederzeit einen
Spaziergang im Central Park machen könnte. Aber nachdem ich den
Sommer in den Karpaten verbracht habe, ist es irgendwie nicht mehr
so anregend, an unzähligen Gap-Läden und Betonwänden
vorbeizulaufen, bis ich zu einer von Kleinkindern überlaufenen
Grünfläche komme.«
Ich sah ihn mit jener Miene an, die er mein
Nonnengesicht nannte. »Dann bist du es also überdrüssig, in
Manhattan zu wohnen, und wolltest mir das mitteilen, indem du einen
vollen Teller Essen an die Wand schleuderst?«
»Ich habe den Teller nicht geschleudert.« Hunter holte eine Zigarette aus dem
Päckchen, zündete sie an und nahm einen tiefen Zug.
»Ich würde dich bitten, hier nicht zu
rauchen.«
»Schmeckt sowieso Scheiße.« Er drückte die
Zigarette in der Butter aus.
»Ruinier die Butter nicht«, sagte ich. »Auch
wenn du Milchprodukte nicht magst.«
»Mein Gott, ich muss hier raus. Ich ersticke
hier, Abra. Merkst du das nicht?«
Das Stück hellgelbe Butter war mit dunkler Asche
bedeckt, und die Zigarette ragte wie ein Speer an der Seite heraus.
Warum machte ich mir über so etwas überhaupt Gedanken? Meine Hände
zitterten so stark, dass ich sie faltete. »Du musst hier raus? Was
meinst du damit? Willst du raus aus unserer Ehe?«
Hunter musterte seine Handflächen, als ob er
sein Schicksal darin lesen könnte. »Vielleicht. Ich weiß es nicht.
Ich brauche jedenfalls eine Veränderung.«
Ich merkte, wie mein Gesicht zu zerbröckeln
begann. Trotzdem schaffte ich es, nicht ganz die Beherrschung zu
verlieren. »Okay. Dann muss sich also etwas in deinem Leben ändern.
Aber du weißt noch nicht, was. Okay. Wenn dich etwas stört, dann
müssen wir darüber reden. Geht es vielleicht ums Schreiben, Hunter?
Oder ist etwas auf der...« Er holte seine Jacke aus dem Schrank,
ehe ich das Wort >Reise< aussprechen konnte.
»Es tut mir leid, Abs«, sagte er, während er zur
Wohnungstür ging. »Ich kann das jetzt nicht.«
Ich lehnte mich an die Wand, um nicht ins Wanken
zu geraten. »Heißt das, dass du mich verlässt?«
»Mach das Ganze nicht größer, als es ist.«
Plötzlich wünschte ich mir, ich hätte eines
dieser Selbsthilfebücher gekauft, in dem ich nur
Multiple-Choice-Kästchen ankreuzen musste. Ein Buch mit einem Titel
wie »Der Höhlenmensch an Ihrem Tisch« oder »Wie fortgeschritten ist
sein Wahnsinn?«
Leise zog er die Tür hinter sich ins Schloss.
Ich lehnte die Stirn gegen die Wand und schloss die Augen, während
ich Hunters Schritten im Treppenhaus lauschte, die sich immer
weiter entfernten.
Um Mitternacht kehrte er nach Hause zurück. Er
stank nach Zigarettenrauch.
»Wo bist du gewesen?«
»Draußen.«
Ich saß schon im Bett, trug meinen weißen
Schlafanzug und hatte eine Brille mit einem Gestell aus falschem
Schildpatt auf der Nase. Die Reste des Abendessens hatte ich schon
lange fortgeräumt. Ich war keine Frau, die eine Tomate absichtlich
nicht von der Wand entfernte, um sie als stillen Vorwurf präsent zu
lassen.
Außerdem wusste ich, dass Hunter den Fleck
bestimmt nicht wegputzen würde.
»Wo draußen?«
»Im Kino.«
Im Hintergrund lief der Fernseher. Hunter zog
sich aus, ohne mich anzusehen. Achtlos warf er die Kleidung
beiseite und stieg dann neben mir ins Bett. Diesmal war ich
geradezu erleichtert, dass er nicht das Bedürfnis verspürte zu
duschen. Louise Rosegartens »Sechs Anzeichen von Untreue« zufolge
gehörte das zu den ersten Anzeichen von Treulosigkeit. Ich war am
Nachmittag in der Buchhandlung über dieses Buch gestolpert. Die
Autorin riet außerdem, dass man auch auf den plötzlichen Wandel in
der Auswahl der Unterwäsche achten sollte, vor allem wenn der
Partner auf einmal Tangaslips bevorzugte. Hunter trug schon immer
Tangaslips – wenn er überhaupt eine Unterhose anhatte.
»Welchen Film hast du gesehen?«
Hunter strich sich eine dicke braune Locke aus
dem Gesicht. Er wirkte wie ein widerspenstiges Pferd. »Womb
Raider. Hat drei Sterne bekommen. Willst du auch noch wissen,
wann und in welchem Kino ich war?«
Ich zuckte mit keiner Wimper. »Ja.«
Er wälzte sich theatralisch aus dem Bett, ging
zum Balkon und holte die Zeitung aus dem Papierkorb. Damit kehrte
er ins Schlafzimmer zurück. Er blätterte sie laut raschelnd durch,
bis er die Seite mit den Kinoanzeigen gefunden hatte. Diese knallte
er vor mir aufs Bett. Wir starrten uns einen Augenblick lang wütend
an und brachen schließlich beide in Gelächter aus.
»Du hast dir den Film nicht wirklich angeschaut,
nicht wahr?«
Er lachte noch immer. »Wieso willst du das
wissen? Wolltest du etwa mitkommen?«
Die Spannung zwischen uns löste sich. Hunter zog
seinen zerrissenen Morgenmantel an und ging damit ins Badezimmer.
Während ich darauf wartete, dass er wieder ins Bett zurückkehrte,
schlug ich den New Yorker auf und
versuchte, einen guten Titel für eine Karikatur ohne Worte zu
finden. Auf dem Bild war ein Paar beim Paartherapeuten zu sehen.
Den beiden wurde ein Wassertank gezeigt. Als auf einmal der
typische Klingelton ertönte, der beim Einschalten des Computers im
Wohnzimmer erklang, blickte ich überrascht auf.
»Hunter?«
Keine Antwort. Eine Weile blieb ich im Bett
sitzen und überlegte mir, ob ich mir das Ganze bloß einbildete oder
ob sich Hunter mir gegenüber wirklich verändert hatte. Vielleicht
war er nur so sehr mit sich selbst und seiner Arbeit beschäftigt,
dass er nichts anderes mehr wahrnahm?
Ich stand auf und ging ins Wohnzimmer. Einen
Moment
lang beobachtete ich ihn schweigend. Es dauerte eine ganze Zeit,
ehe er sich zu mir umdrehte.
»Was ist los? Kannst du nicht schlafen?«
»Heute ist mein Geburtstag.« Ich konnte mich
nicht zurückhalten.
»Wirklich? Verdammt – welches Datum ist denn
heute?«
»Der siebte Oktober.«
»Stimmt. Mein Gott, seit meiner Rückkehr
verwechsle ich ständig die Tage. Wie alt bist du geworden?
Neunundzwanzig, oder?«
»Dreißig.«
»Wie wäre es dann mit einem
Nicht-Geburtstagsessen morgen Abend? Ich schenke dir Orchideen und
führe dich in ein fantastisches Restaurant, wo Jungfrauen das
Rindfleisch massieren, ehe sie es servieren. Wir bleiben
unvernünftig lange weg, gehen noch in eine verrauchte Jazzbar und
bezahlen den Pianisten, damit er uns >Happy Birthday< mit
extra viel Vibrato spielt.«
»Morgen ist Montag. Ich muss arbeiten.«
Hunter spielte mit seinen Haaren. »Wirklich?
Natürlich musst du arbeiten. Ach, Baby, das tut mir wirklich leid.
Dann eben an einem anderen Abend. Wie wäre es zum Beispiel mit
nächstem Freitag? Machen wir es Freitag. Das ist sogar noch besser.
Hör zu, ich bin für heute fast fertig. Gib mir noch zwei Minuten,
dann komme ich wieder ins Bett – um dir alles Gute zum Geburtstag
zu wünschen...« Er zwinkerte verführerisch und wandte sich wieder
dem Computer zu.
Ich beobachtete ihn, wie er erneut zu arbeiten
begann. Als er merkte, dass ich noch immer hinter ihm stand, warf
er mir über die Schulter einen leicht verärgerten Blick zu.
»Hunter?«
»Was gibt’s noch, Abs?« Er versuchte – und zwar
mit einem gewissen Erfolg – nicht die Geduld zu verlieren.
»Du warst mit jemand anderem zusammen, nicht
wahr?« Als er den Mund öffnete, um zu antworten, fügte ich hinzu:
»Ich meine nicht heute Abend. Ich meine in Rumänien.«
Er wirkte fast erleichtert. Zumindest kam es mir
so vor. »In Rumänien«, wiederholte er. Ich wartete, dass er
fortfuhr. Aber er sagte nichts weiter.
Ich überlegte. Wie sollte ich diese zwei Wörter
verstehen? Sie konnten entweder bedeuten: Ja, in Rumänien war ich
dir untreu, aber jetzt bin ich wieder hier und ganz bei dir. Oder:
Es gibt so vieles, wovon du keine Ahnung hast, dass ich gar nicht
weiß, wo ich anfangen soll. Außerdem konnte seine Antwort auch
bedeuten, dass er auf irgendeine Weise noch immer in Rumänien war
und sich von den Abenteuern, die er dort erlebt hatte, einfach
nicht lösen konnte.
Nein. Das war Unsinn. Ich versuchte doch nur,
mir das Ganze schönzureden. Ich wusste, was er meinte. »Wer war
es?«, fragte ich, während ich innerlich eine Liste durchging.
Magdalena lonescu, die Hauptwissenschaftlerin, die auf Wölfe
spezialisiert war, musste Mitte vierzig sein und damit
wahrscheinlich zu alt für ihn. »War es ein Mädchen in einer Bar?
Eine Prostituierte? Wer war es?« Ich hoffte beinahe, dass es sich
um eine Prostituierte handelte – ein Wunsch, den ich noch vor
wenigen Augenblicken für undenkbar gehalten hatte.
»Hör zu, Abra. Ich finde es nicht besonders
sinnvoll, das jetzt alles durchzukauen. Es würde dich nur
verletzen, und ehrlich gesagt, ich habe dafür auch nicht die
Nerven. Außerdem ist diese Vorstellung von absoluter Treue so
amerikanisch.
Hier wird jeder Fehltritt immer gleich mit einem regelrechten
Verhör geahndet.« Hunter suchte auf dem Tisch nach seinen
Zigaretten. »Und Sex stellt in unserer Beziehung doch nur einen
kleinen Teil dar. Uns verbindet so viel mehr.« Er zündete sich eine
Zigarette an und fügte dann hinzu: »Mein Gott, Frau! Jetzt steh da
nicht mit großen Augen rum. Entweder klebst du mir eine oder du
lässt es. Aber hör endlich mit diesem Opfer-Getue auf!«
Auf einmal begriff ich. Es war keine
Prostituierte gewesen. Keine zufällige Bekanntschaft in einer Bar.
»Bist du in sie verliebt?«
Hunter zog an seiner Zigarette. »Ich weiß es
nicht, Abra. Vermutlich nicht auf die Weise, die du meinst.«
In diesem Augenblick hätte ich mich ohne zu
zögern vom Balkon stürzen können. Stattdessen zwang ich mich jedoch
dazu, ins Schlafzimmer zurückzukehren, mich ins Bett zu legen und
die Brille abzusetzen. Ich schaltete das Licht aus und versuchte zu
schlafen. Doch ich starrte nur in die Dunkelheit. Tränen liefen mir
seitlich am Gesicht entlang in mein linkes Ohr.
Am liebsten hätte ich geschrien. Ich wollte
wissen, wer sie war und wie oft er mit ihr geschlafen hatte. In
gewisser Weise war der schlimmere Betrug jedoch erst durch das
passiert, was er eben gerade zu mir gesagt hatte. Er hatte nicht
das Gefühl, dass sein außerehelicher Sex bedeutungslos war, sondern
vielmehr der Sex mit mir. All unsere leidenschaftlichen Spiele
hatten für Hunter nichts anderes als eine Ablenkung dargestellt.
Und dass er sie nicht liebte, hatte er auch nicht gesagt.
Ich war nicht mutig genug gewesen, ihn zu
fragen, ob er mich noch liebte. Es kam mir so vor, als ob mir
mitgeteilt
worden wäre, dass ich an einer möglicherweise tödlichen Krankheit
litt, und ich hatte nicht gefragt, ob es noch Hoffnung auf Rettung
gab.
Aus dem Wohnzimmer war Hunters stetiges Tippen
auf der Tastatur zu hören. Wenn ich die Augen schloss, stiegen noch
mehr Tränen in mir hoch. Ich hörte immer wieder die eindringliche
Stimme meiner Mutter, die mich warnte, was alles in meiner Ehe
schieflaufen würde, sobald der erste Glanz einmal abgegangen
war.
Also setzte ich die Brille wieder auf und
tastete nach der Fernbedienung. Auf Kanal vierundfünfzig fand ich
schließlich, wonach ich gesucht hatte: meine Mutter, deren perfekt
geformter, üppig weiblicher Körper in einem engen Raumanzug steckte
und die gerade dabei war, einer billigen Ausgabe von Steve McQueen
den Kopf zu verdrehen.
»Ich bin nicht so, wie ich scheine«, warnte sie
ihn, während sie ihre Arme um ihn schlang.
»Kleines, so wie ich mich im Augenblick fühle,
wäre es mir sogar egal, wenn du ein fünfköpfiges Schlangenmonster
aus dem Sumpfland der Venus wärst.«
»Wenn das so ist... dann küss mich.«
Ich machte es mir bequem, während meine Mutter
ihr Opfer verschlang.