7
Am Sonntag, den. Oktober, ließ es sich nicht länger leugnen. Da ich nicht arbeitete, gab es auch nichts, womit ich mich ablenken konnte. Ich musste der Tatsache ungeschminkt ins Auge blicken, dass ich an diesem Tag dreißig Jahre alt wurde. Wie alle Geburtstage, die mit einer Null enden, verlangte auch dieser nach einer gewissen Aufmerksamkeit. Ich betrat nun das Jahrzehnt, in dem wichtige Entscheidungen gefällt werden. Meine Mutter meinte immer: »Mit zwanzig Jahren kann man einen ersten Beruf und einen ersten Mann wählen, die sich später möglicherweise beide als völlig unbrauchbar erweisen. Aber mit Dreißig schafft man sich sein Erwachsenenleben. Natürlich kann man vieles auch noch mit Vierzig wieder rückgängig machen, aber trotzdem...« Dreißig Jahre alt zu werden, stellte für mich also ein wichtiges Datum dar.
Von Hunter erwartete ich nichts Großes.
Er hatte schon früh in unserer Beziehung klargestellt, dass Geburtstage und Weihnachten etwas für Kinder wären, während sich Erwachsene damit überraschten, persönlichere und originellere Tage zu feiern. Was er zugegebenermaßen manchmal auch durchaus tat. So brachte er mir einmal einen Strauß roter Rosen mit, um unser erstes Jahr mit geteilter Miete zu feiern, und ein anderes Mal überreichte er mir ein Seidenhöschen, nachdem er mich in der Nacht zuvor das erste Mal betrunken erlebt hatte.
Aber Geburtstage – selbst runde und damit schmerzhafte – vergaß Hunter meist. Wenn man kein Geschenk besorgen muss, notiert man sich auch das Datum nicht im Kalender. So einfach war das. Wenn ich ihn an einem solchen Tag ins Kino eingeladen hätte, wäre er wahrscheinlich mitgekommen. Aber es kam mir irgendwie lächerlich vor – fast so, als würde ich auf einer Sonderbehandlung bestehen. Da erschien es mir wesentlich klüger, das Ganze gar nicht erst zu erwähnen.
Eigentlich hatte ich geglaubt, mich inzwischen an die Tatsache gewöhnt zu haben, dass sich mein Mann bei Geburtstagen oder sonstigen Feierlichkeiten keine Mühe gab – oder, wie Hunter es nannte, keine falschen Gefühle vortäuschte. Vielleicht bildete ich es mir also nur ein, dass er an diesem Morgen besonders gereizt erschien. Er wirkte abwesend und genervt, als er den Kaffee aufgoss und ich ihn fragte, ob er auch einen Toast wolle. Ich beschloss also, ihm nicht vorzuschlagen, nachmittags mit mir ins Kino zu gehen. Offenbar plante er sowieso, den Tag so zu verbringen, wie er auch die anderen Tage seit seiner Rückkehr aus Rumänien verbracht hatte – auf der Suche nach obskuren Büchern und Artikeln zum Thema Wölfe oder mit Kanadiern, die er für seine offenbar nicht enden wollende Geschichte interviewte.
Ich hatte keine Ahnung, was es mit den Kanadiern auf sich hatte. Möglicherweise gab es dort einfach mehr Leute als bei uns, die sich mit Wölfen auskannten.
Meine Mutter rief mich an, um mir zum Geburtstag zu gratulieren. Sie wollte mit dem Zug nach New York City kommen und mir mein Geschenk persönlich überreichen. Da ich mich in einem schwachen Moment einmal bei ihr über Hunters seltsame Einstellung zu Geburtstagen und dergleichen beklagt hatte, kannte sie das Problem oder vielmehr die Theorien meines Mannes, was das Feiern betraf. Und wenn es etwas gab, das meine Mutter – ein ehemaliger B-Movie-Star- nicht begreifen konnte, dann war es meine Bereitschaft, mich mit solchen Dingen abzufinden.
»Du musst dich immer so verhalten, als erwartetest du nichts als das Beste. Sonst wird man dich wie einen Fußabtreter behandeln.« Das hatte sie mir schon mehr als einmal erklärt. »Wenn ich so herumdrucksen würde wie du, wäre ich garantiert nie über die Rolle der blonden Vampirbraut Nummer drei hinausgekommen.« Ich hatte des Öfteren das zweifelhafte Vergnügen gehabt, die Mienen der Zuhörer beobachten zu können, wenn sich meine Mutter zu einer ihrer Reden aufschwang, und hielt es deshalb insgeheim für nicht allzu erstrebenswert, als Diva aufzutreten.
Jedenfalls vertröstete ich sie auf das kommende Wochenende. Als Nächster rief mein Vater an. Er hatte mir zum Geburtstag einen Scheck geschickt, da er nicht wusste, was ich mir wünschte. Er berichtete von dem angeblich wahnsinnigen Exmann seiner Freundin Moon und lud mich dann ein, ihn doch mal wieder zu besuchen. Hunter erwähnte er mit keinem Wort.
Meine Freunde aus dem Institut würden mir bestimmt nicht telefonisch gratulieren, da wir uns sowieso am nächsten Tag wiedersahen. Zu meinen früheren Freunden und Bekannten von der Highschool und dem College hatte ich schon lange den Kontakt verloren. In vielen Hollywoodfilmen wurde die Heldin meist von mindestens zwei besten Freundinnen aus der Kindheit begleitet, die immer noch etwas verrückter als sie selbst waren. Manchmal gab es dann auch noch einen dritten Freund, einen Schwulen, der der Gruppe Stil und ein smartes Flair verlieh, obwohl er in Wahrheit den tragischsten Charakter darstellte. Ich sehnte mich nach solchen Sidekicks und hatte mir schon öfter überlegt, ob ich nicht einfach eine Anzeige aufgeben sollte: »Hetero-Frau sucht schwulen Mann und andere Hetero-Frauen für Spaziergänge im Park, ausländische Filme, spontane Treffen in Cafes, liebevoll ausgesuchte Geschenke. Keine heimlichen Rivalitäten, kein plötzliches Verschwinden, keine Langweiler erwünscht.«
Natürlich konnte ich mir auch einen Hund anschaffen. Hunde wachten jedenfalls nicht eines Morgens auf und stellten fest, dass die Beziehung doch nicht mehr die richtige für sie war. Hunde logen einen nicht an und erfanden auch nicht irgendwelche Geschichten darüber, was sie angeblich getan hatten, während sie sich nach Alternativen umgesehen hatten. So wie ihre Verwandten, die Wölfe, liebten auch sie ein Leben lang.
Da ich mich etwas weinerlich fühlte, beschloss ich, entlang der Bootsanlegestelle im Riverside Park joggen zu gehen. Ich wollte eine verstärkte Ausschüttung meiner Endorphine anregen und so vielleicht die Unsicherheit herauslaufen, die mich auf einmal ergriffen hatte.
»Ich gehe joggen«, erklärte ich Hunter.
»Aha«, erwiderte er und blickte nur kurz in meine Richtung. Sobald ich die Haustür hinter mir ins Schloss fallen hörte, merkte ich, wie schwer es mir fiel, meine Beine überhaupt zu bewegen. Ich überlegte einen Moment lang, ob ich nicht besser einen Bus zum Park nahm, entschied mich jedoch dagegen. Das Bedürfnis zu laufen würde sich bestimmt einstellen, sobald ich mich in Richtung Grünflächen auf den Weg machte.
Einige Jogger liefen auf dem Riverside Drive an mir vorbei. Sie trugen alle eng anliegende Lycra-Anzüge und wirkten schlank und konzentriert, während ich mich in meinem grauen Jogginganzug ziemlich schlapp fühlte. Ein Geschäftsmann mit einer Plastiktüte in seiner Linken wartete darauf, dass sein Mastiff endlich sein Geschäft erledigt hatte. Es waren solche Momente, die mich diese Stadt so lieben ließen: Nirgendwo sonst wirkte das Natürliche so unnatürlich wie hier.
Auf der 79. Straße traf ich auf eine Frau, mit der ich gemeinsam die Highschool besucht hatte. Sie erklärte mir stolz, dass sie inzwischen Theaterstücke schrieb und Software entwarf. Ihre Zehen sahen in den eleganten Sandalen perfekt gepflegt aus, während sich mir ihr schwangerer Bauch unter einem schicken Designerpulli keck entgegenreckte.
»Bist du verheiratet?«, fragte sie, ohne auf eine Antwort zu warten. »Ich habe gerade einen hinreißenden Mann aus einem kleinen Dorf in Italien geheiratet. Wir sind so glücklich! Wir haben in der kleinen weißen Kirche geheiratet, in der Paolo schon getauft wurde, und der ganze Ort kam zu unserer Hochzeit. Die kleinen Mädchen haben alle Schleifen getragen. Entzückend! Ich erinnere mich noch, dass du nie heiraten wolltest. Irgendwie habe ich mir dich immer in einem großen coolen Loft mit vielen Katzen vorgestellt.«
»Nein«, erwiderte ich langsam. »Die mit der Katzenvorliebe ist meine Mutter. Ich bevorzuge Hunde.«
Mrs. Dorf-in-Italien warf den Kopf zurück und lachte. »So habe ich dich in Erinnerung, Abra. Genau so! Mit staubtrockenem Humor! Lass uns doch bald mal etwas trinken gehen oder so. Hier ist meine Nummer.«
Ich steckte ihre Visitenkarte in meine Tasche und lief weiter – vorbei an jungen Liebespärchen in ausgebleichten Jeans, die lachten und angeregt miteinander redeten, während sie sich immer wieder verliebt betrachteten.
Auf dem Nachhauseweg kaufte ich in einem Bioladen etwas für unser Abendessen ein. In der Gemüseabteilung stand neben mir eine Frau Mitte fünfzig, mit rabenschwarzen Haaren und einer übergroßen Brille mit getönten Gläsern. Sie kam mir irgendwie bekannt vor, auch wenn ich nicht wusste, woher. Erst als sie auf mich zustürmte, mich umarmte und sich als Rita, die frühere Freundin meines Vaters, vorstellte, erinnerte ich mich wieder. Wir hatten uns seit meiner Collegezeit nicht mehr gesehen, und sie erkundigte sich natürlich nach meinem Vater, dem alten Haudegen, wie sie ihn nannte.
»Es geht ihm gut«, antwortete ich.
»Ist er mit jemandem zusammen? Er musste immer mit irgendjemandem zusammen sein, dein Vater.«
»Ja, er hat eine Freundin.«
Sie schüttelte traurig den Kopf. »Ich kann Leute einfach nicht verstehen, die um jeden Preis nicht allein bleiben wollen.«
Dann umarmte sie mich erneut und hüllte mich dabei in den Duft ihres schweren Parfüms ein. Sie gab mir ihre Karte, falls ich mal einen Job oder eine gute PR-Beratung bräuchte, und wandte sich schließlich den Zwiebeln zu.
Das Sache mit Manhattan war die: Irgendwann kam jeder hierher, um sein Glück zu versuchen – alte Freunde und Bekannte, Feinde, Geliebte, Dämonen. Leute, die man in Nepal kennengelernt hatte, schlugen sich plötzlich in Manhattan mit einem um ein Taxi. Der Klassentyrann, der einen in der Grundschule immer »Hundeatem« genannt hatte, lief dir auf einmal in der U-Bahn über den Weg und konnte sich noch genau daran erinnern, dass du nicht zu seinem sechsten Geburtstag gekommen warst. Man sollte niemals nach New York ziehen, wenn man Anonymität suchte. Diese Stadt war wie Oz: Die Böse Hexe des Westens entpuppte sich plötzlich als die Frau, die schon in Kansas etwas gegen deinen Hund gehabt hatte.
Zurück in der Geborgenheit unserer Wohnung, wo mich niemand auf meine Mankos als Ehefrau und als Mensch aufmerksam machen konnte, bereitete ich das Abendessen vor. Hunter konzentrierte sich weiter auf seinen Computer. Da ich spürte, wie sich etwas in mir zusammenbraute und ich unruhiger und gereizter wurde, gab ich mir besondere Mühe, mich auf das Essen zu fokussieren. Ich schnitt, hackte und maß ab, ganz so wie in den Anfangszeiten meiner Collegelaufbahn, als ich noch selten gekocht hatte und es erst allmählich lernen musste.
Unsere Küche war im Grunde ein fensterloser Winkel, so dass ich immer wieder gedankenversunken ins Wohnzimmer hinüberblickte. Allerdings versuchte ich, dabei nicht den angespannt wirkenden Rücken Hunters anzusehen, der gereizt über seinem Artikel brütete. Nachdem ich das Gemüsechili so weit fertig hatte, dass es nur noch vor sich hinköcheln musste, blätterte ich mich durch vier Teile der New York Times, während ich insgeheim darauf wartete, dass Hunter von sich aus das Schweigen bräche. Um fünfzehn Uhr war er noch immer in seine Arbeit vertieft. Ich beschloss, in eine Buchhandlung zu gehen. Um neunzehn Uhr kehrte ich schließlich von Barnes & Noble zurück, wo ich mir gerade einige Bücher mit Titeln wie »Hilfe, meine Ehe ist am Ende« angesehen hatte, als unsere Nachbarn von gegenüber Arm in Arm vorbeikamen und Bücher über Gärtnern und die Toskana in Händen hielten.
»Möchtest du ein Glas Wein, Hunter?«, fragte ich den Hinterkopf meines Mannes.
»Mm.«
»Rot oder weiß?«
»Egal.«
»Oder hättest du vielleicht lieber ein Glas Tippex?«
»Ha ha, sehr witzig.«
»Du hörst mir also doch zu.«
Hunter blickte von seinem Computer auf und sah mich so grimmig an wie ein Hund, der seinen Knochen bewacht. »Ich bin fast fertig«, sagte er. »Noch zwei Sätze, dann kann ich eine Pause machen.«
Seinem Tonfall nach zu urteilen schien er gerade in eine schwierige Operation vertieft zu sein, und ich hatte ihn gebeten, den Patienten doch bitte blutend liegen zu lassen und zum Essen zu kommen. Ich schluckte meinen Ärger hinunter und öffnete eine Flasche Merlot.
Als Hunter seinen Stuhl zurückschob und aufstand, blickte ich hoch. Er kam zum Esstisch. In Gedanken war er offensichtlich immer noch Tausende von Kilometern entfernt.
»Okay, hier bin ich«, sagte er, während er noch rasch ein Blatt mit Notizen überflog, ehe er es auf die Couch legte. »Was gibt’s zum Abendessen?«
Ich servierte ihm das Chili, wobei ich mir die größte Mühe gab, nicht zu zeigen, wie verletzt und verärgert ich war. So merkte ich auch nichts von Hunters Zorn, bis er den vollen Teller wütend über den Tisch schubste. Das Gemüsechili schwappte über und der Teller knallte mit voller Wucht an die gegenüberliegende Wand.
Für einen Augenblick starrte ich fassungslos auf die Scherben. Dann blickte ich meinen Mann über die Flamme einer dicken goldenen Kerze hinweg an. »Und was sollte das jetzt, wenn ich fragen darf?«
Hunter stieß einen langen, gequälten Seufzer aus und verbarg dann sein Gesicht hinter seinen Händen. Er antwortete, ohne mich anzusehen. »Ich habe dich nie darum gebeten zu kochen, Abra. Aber wenn du ankündigst, du würdest ein Chili machen, dann koch verdammt nochmal auch etwas, das ich essen kann.«
»Dir ist doch noch bewusst, dass ich Vegetarierin bin – oder?«
Hunter hob den Kopf und starrte mich wutentbrannt an. »Und ist dir bewusst, dass ich kein verdammter Vegetarier bin? Du sagst doch ständig, wie dünn und erschöpft ich aussehe. Wie krank.« Das Wort >krank< presste er heraus, als ob es sich um einen Fluch handelte. Dann wies er voller Verachtung auf meinen vollen Teller. »Hier, Liebling, mit einer schönen großen Tomate wirst du bestimmt wieder gesund. Natürlich aus dem Bioladen!«
Ich blieb ruhig, während Hunter aufstand, in seiner Jackentasche herumwühlte und schließlich eine Zigarettenschachtel herausholte. Bisher war ich davon ausgegangen, dass er vor über einem Jahr mit dem Rauchen aufgehört hatte. An der offen liegenden Ziegelwand lief das Chili langsam über einen Holzschnitt, auf dem ein Hase dargestellt war.
»Hunter, willst du mir nicht sagen, was mit dir los ist? Hier geht es doch nicht um das Essen.«
Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Dieses ständige In-der-Wohnung-Sein geht mir einfach wahnsinnig auf die Nerven. Wie soll ich hier über die Natur schreiben können? Ich komme mir wie ein Gefangener dieser verdammten Upper West Side vor!«
»Und warum gehst du dann nicht öfter weg?«
Er zögerte einen Moment mit seiner Antwort, als wüsste er nicht so recht, wie er sie für eine Idiotin wie mich am besten formulieren sollte. »Abra, ich schreibe eine Geschichte über wilde Natur. Natürlich weiß ich, dass ich jederzeit einen Spaziergang im Central Park machen könnte. Aber nachdem ich den Sommer in den Karpaten verbracht habe, ist es irgendwie nicht mehr so anregend, an unzähligen Gap-Läden und Betonwänden vorbeizulaufen, bis ich zu einer von Kleinkindern überlaufenen Grünfläche komme.«
Ich sah ihn mit jener Miene an, die er mein Nonnengesicht nannte. »Dann bist du es also überdrüssig, in Manhattan zu wohnen, und wolltest mir das mitteilen, indem du einen vollen Teller Essen an die Wand schleuderst?«
»Ich habe den Teller nicht geschleudert.« Hunter holte eine Zigarette aus dem Päckchen, zündete sie an und nahm einen tiefen Zug.
»Ich würde dich bitten, hier nicht zu rauchen.«
»Schmeckt sowieso Scheiße.« Er drückte die Zigarette in der Butter aus.
»Ruinier die Butter nicht«, sagte ich. »Auch wenn du Milchprodukte nicht magst.«
»Mein Gott, ich muss hier raus. Ich ersticke hier, Abra. Merkst du das nicht?«
Das Stück hellgelbe Butter war mit dunkler Asche bedeckt, und die Zigarette ragte wie ein Speer an der Seite heraus. Warum machte ich mir über so etwas überhaupt Gedanken? Meine Hände zitterten so stark, dass ich sie faltete. »Du musst hier raus? Was meinst du damit? Willst du raus aus unserer Ehe?«
Hunter musterte seine Handflächen, als ob er sein Schicksal darin lesen könnte. »Vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich brauche jedenfalls eine Veränderung.«
Ich merkte, wie mein Gesicht zu zerbröckeln begann. Trotzdem schaffte ich es, nicht ganz die Beherrschung zu verlieren. »Okay. Dann muss sich also etwas in deinem Leben ändern. Aber du weißt noch nicht, was. Okay. Wenn dich etwas stört, dann müssen wir darüber reden. Geht es vielleicht ums Schreiben, Hunter? Oder ist etwas auf der...« Er holte seine Jacke aus dem Schrank, ehe ich das Wort >Reise< aussprechen konnte.
»Es tut mir leid, Abs«, sagte er, während er zur Wohnungstür ging. »Ich kann das jetzt nicht.«
Ich lehnte mich an die Wand, um nicht ins Wanken zu geraten. »Heißt das, dass du mich verlässt?«
»Mach das Ganze nicht größer, als es ist.«
Plötzlich wünschte ich mir, ich hätte eines dieser Selbsthilfebücher gekauft, in dem ich nur Multiple-Choice-Kästchen ankreuzen musste. Ein Buch mit einem Titel wie »Der Höhlenmensch an Ihrem Tisch« oder »Wie fortgeschritten ist sein Wahnsinn?«
Leise zog er die Tür hinter sich ins Schloss. Ich lehnte die Stirn gegen die Wand und schloss die Augen, während ich Hunters Schritten im Treppenhaus lauschte, die sich immer weiter entfernten.
Um Mitternacht kehrte er nach Hause zurück. Er stank nach Zigarettenrauch.
»Wo bist du gewesen?«
»Draußen.«
Ich saß schon im Bett, trug meinen weißen Schlafanzug und hatte eine Brille mit einem Gestell aus falschem Schildpatt auf der Nase. Die Reste des Abendessens hatte ich schon lange fortgeräumt. Ich war keine Frau, die eine Tomate absichtlich nicht von der Wand entfernte, um sie als stillen Vorwurf präsent zu lassen.
Außerdem wusste ich, dass Hunter den Fleck bestimmt nicht wegputzen würde.
»Wo draußen?«
»Im Kino.«
Im Hintergrund lief der Fernseher. Hunter zog sich aus, ohne mich anzusehen. Achtlos warf er die Kleidung beiseite und stieg dann neben mir ins Bett. Diesmal war ich geradezu erleichtert, dass er nicht das Bedürfnis verspürte zu duschen. Louise Rosegartens »Sechs Anzeichen von Untreue« zufolge gehörte das zu den ersten Anzeichen von Treulosigkeit. Ich war am Nachmittag in der Buchhandlung über dieses Buch gestolpert. Die Autorin riet außerdem, dass man auch auf den plötzlichen Wandel in der Auswahl der Unterwäsche achten sollte, vor allem wenn der Partner auf einmal Tangaslips bevorzugte. Hunter trug schon immer Tangaslips – wenn er überhaupt eine Unterhose anhatte.
»Welchen Film hast du gesehen?«
Hunter strich sich eine dicke braune Locke aus dem Gesicht. Er wirkte wie ein widerspenstiges Pferd. »Womb Raider. Hat drei Sterne bekommen. Willst du auch noch wissen, wann und in welchem Kino ich war?«
Ich zuckte mit keiner Wimper. »Ja.«
Er wälzte sich theatralisch aus dem Bett, ging zum Balkon und holte die Zeitung aus dem Papierkorb. Damit kehrte er ins Schlafzimmer zurück. Er blätterte sie laut raschelnd durch, bis er die Seite mit den Kinoanzeigen gefunden hatte. Diese knallte er vor mir aufs Bett. Wir starrten uns einen Augenblick lang wütend an und brachen schließlich beide in Gelächter aus.
»Du hast dir den Film nicht wirklich angeschaut, nicht wahr?«
Er lachte noch immer. »Wieso willst du das wissen? Wolltest du etwa mitkommen?«
Die Spannung zwischen uns löste sich. Hunter zog seinen zerrissenen Morgenmantel an und ging damit ins Badezimmer. Während ich darauf wartete, dass er wieder ins Bett zurückkehrte, schlug ich den New Yorker auf und versuchte, einen guten Titel für eine Karikatur ohne Worte zu finden. Auf dem Bild war ein Paar beim Paartherapeuten zu sehen. Den beiden wurde ein Wassertank gezeigt. Als auf einmal der typische Klingelton ertönte, der beim Einschalten des Computers im Wohnzimmer erklang, blickte ich überrascht auf.
»Hunter?«
Keine Antwort. Eine Weile blieb ich im Bett sitzen und überlegte mir, ob ich mir das Ganze bloß einbildete oder ob sich Hunter mir gegenüber wirklich verändert hatte. Vielleicht war er nur so sehr mit sich selbst und seiner Arbeit beschäftigt, dass er nichts anderes mehr wahrnahm?
Ich stand auf und ging ins Wohnzimmer. Einen Moment lang beobachtete ich ihn schweigend. Es dauerte eine ganze Zeit, ehe er sich zu mir umdrehte.
»Was ist los? Kannst du nicht schlafen?«
»Heute ist mein Geburtstag.« Ich konnte mich nicht zurückhalten.
»Wirklich? Verdammt – welches Datum ist denn heute?«
»Der siebte Oktober.«
»Stimmt. Mein Gott, seit meiner Rückkehr verwechsle ich ständig die Tage. Wie alt bist du geworden? Neunundzwanzig, oder?«
»Dreißig.«
»Wie wäre es dann mit einem Nicht-Geburtstagsessen morgen Abend? Ich schenke dir Orchideen und führe dich in ein fantastisches Restaurant, wo Jungfrauen das Rindfleisch massieren, ehe sie es servieren. Wir bleiben unvernünftig lange weg, gehen noch in eine verrauchte Jazzbar und bezahlen den Pianisten, damit er uns >Happy Birthday< mit extra viel Vibrato spielt.«
»Morgen ist Montag. Ich muss arbeiten.«
Hunter spielte mit seinen Haaren. »Wirklich? Natürlich musst du arbeiten. Ach, Baby, das tut mir wirklich leid. Dann eben an einem anderen Abend. Wie wäre es zum Beispiel mit nächstem Freitag? Machen wir es Freitag. Das ist sogar noch besser. Hör zu, ich bin für heute fast fertig. Gib mir noch zwei Minuten, dann komme ich wieder ins Bett – um dir alles Gute zum Geburtstag zu wünschen...« Er zwinkerte verführerisch und wandte sich wieder dem Computer zu.
Ich beobachtete ihn, wie er erneut zu arbeiten begann. Als er merkte, dass ich noch immer hinter ihm stand, warf er mir über die Schulter einen leicht verärgerten Blick zu.
»Hunter?«
»Was gibt’s noch, Abs?« Er versuchte – und zwar mit einem gewissen Erfolg – nicht die Geduld zu verlieren.
»Du warst mit jemand anderem zusammen, nicht wahr?« Als er den Mund öffnete, um zu antworten, fügte ich hinzu: »Ich meine nicht heute Abend. Ich meine in Rumänien.«
Er wirkte fast erleichtert. Zumindest kam es mir so vor. »In Rumänien«, wiederholte er. Ich wartete, dass er fortfuhr. Aber er sagte nichts weiter.
Ich überlegte. Wie sollte ich diese zwei Wörter verstehen? Sie konnten entweder bedeuten: Ja, in Rumänien war ich dir untreu, aber jetzt bin ich wieder hier und ganz bei dir. Oder: Es gibt so vieles, wovon du keine Ahnung hast, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Außerdem konnte seine Antwort auch bedeuten, dass er auf irgendeine Weise noch immer in Rumänien war und sich von den Abenteuern, die er dort erlebt hatte, einfach nicht lösen konnte.
Nein. Das war Unsinn. Ich versuchte doch nur, mir das Ganze schönzureden. Ich wusste, was er meinte. »Wer war es?«, fragte ich, während ich innerlich eine Liste durchging. Magdalena lonescu, die Hauptwissenschaftlerin, die auf Wölfe spezialisiert war, musste Mitte vierzig sein und damit wahrscheinlich zu alt für ihn. »War es ein Mädchen in einer Bar? Eine Prostituierte? Wer war es?« Ich hoffte beinahe, dass es sich um eine Prostituierte handelte – ein Wunsch, den ich noch vor wenigen Augenblicken für undenkbar gehalten hatte.
»Hör zu, Abra. Ich finde es nicht besonders sinnvoll, das jetzt alles durchzukauen. Es würde dich nur verletzen, und ehrlich gesagt, ich habe dafür auch nicht die Nerven. Außerdem ist diese Vorstellung von absoluter Treue so amerikanisch. Hier wird jeder Fehltritt immer gleich mit einem regelrechten Verhör geahndet.« Hunter suchte auf dem Tisch nach seinen Zigaretten. »Und Sex stellt in unserer Beziehung doch nur einen kleinen Teil dar. Uns verbindet so viel mehr.« Er zündete sich eine Zigarette an und fügte dann hinzu: »Mein Gott, Frau! Jetzt steh da nicht mit großen Augen rum. Entweder klebst du mir eine oder du lässt es. Aber hör endlich mit diesem Opfer-Getue auf!«
Auf einmal begriff ich. Es war keine Prostituierte gewesen. Keine zufällige Bekanntschaft in einer Bar. »Bist du in sie verliebt?«
Hunter zog an seiner Zigarette. »Ich weiß es nicht, Abra. Vermutlich nicht auf die Weise, die du meinst.«
In diesem Augenblick hätte ich mich ohne zu zögern vom Balkon stürzen können. Stattdessen zwang ich mich jedoch dazu, ins Schlafzimmer zurückzukehren, mich ins Bett zu legen und die Brille abzusetzen. Ich schaltete das Licht aus und versuchte zu schlafen. Doch ich starrte nur in die Dunkelheit. Tränen liefen mir seitlich am Gesicht entlang in mein linkes Ohr.
Am liebsten hätte ich geschrien. Ich wollte wissen, wer sie war und wie oft er mit ihr geschlafen hatte. In gewisser Weise war der schlimmere Betrug jedoch erst durch das passiert, was er eben gerade zu mir gesagt hatte. Er hatte nicht das Gefühl, dass sein außerehelicher Sex bedeutungslos war, sondern vielmehr der Sex mit mir. All unsere leidenschaftlichen Spiele hatten für Hunter nichts anderes als eine Ablenkung dargestellt. Und dass er sie nicht liebte, hatte er auch nicht gesagt.
Ich war nicht mutig genug gewesen, ihn zu fragen, ob er mich noch liebte. Es kam mir so vor, als ob mir mitgeteilt worden wäre, dass ich an einer möglicherweise tödlichen Krankheit litt, und ich hatte nicht gefragt, ob es noch Hoffnung auf Rettung gab.
Aus dem Wohnzimmer war Hunters stetiges Tippen auf der Tastatur zu hören. Wenn ich die Augen schloss, stiegen noch mehr Tränen in mir hoch. Ich hörte immer wieder die eindringliche Stimme meiner Mutter, die mich warnte, was alles in meiner Ehe schieflaufen würde, sobald der erste Glanz einmal abgegangen war.
Also setzte ich die Brille wieder auf und tastete nach der Fernbedienung. Auf Kanal vierundfünfzig fand ich schließlich, wonach ich gesucht hatte: meine Mutter, deren perfekt geformter, üppig weiblicher Körper in einem engen Raumanzug steckte und die gerade dabei war, einer billigen Ausgabe von Steve McQueen den Kopf zu verdrehen.
»Ich bin nicht so, wie ich scheine«, warnte sie ihn, während sie ihre Arme um ihn schlang.
»Kleines, so wie ich mich im Augenblick fühle, wäre es mir sogar egal, wenn du ein fünfköpfiges Schlangenmonster aus dem Sumpfland der Venus wärst.«
»Wenn das so ist... dann küss mich.«
Ich machte es mir bequem, während meine Mutter ihr Opfer verschlang.
Wolfstraeume Roman
titlepage.xhtml
cover.html
shec_9783641044015_oeb_toc_r1.html
shec_9783641044015_oeb_fm1_r1.html
shec_9783641044015_oeb_ata_r1.html
shec_9783641044015_oeb_fm2_r1.html
shec_9783641044015_oeb_ack_r1.html
shec_9783641044015_oeb_p01_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c01_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c02_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c03_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c04_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c05_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c06_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c07_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c08_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c09_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c10_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c11_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c12_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c13_r1.html
shec_9783641044015_oeb_p02_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c14_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c15_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c16_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c17_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c18_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c19_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c20_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c21_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c22_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c23_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c24_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c25_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c26_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c27_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c28_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c29_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c30_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c31_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c32_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c33_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c34_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c35_r1.html
shec_9783641044015_oeb_p03_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c36_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c37_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c38_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c39_r1.html
shec_9783641044015_oeb_c40_r1.html
shec_9783641044015_oeb_cop_r1.html