26
Im dunklen und leeren
Haus suchte ich als Erstes nach einer Taschenlampe und Kerzen,
wobei ich fast über den blutigen Kadaver einer Beutelratte
gestolpert wäre. Red hatte Recht gehabt: Die toten Tiere wurden
größer. Nachdem ich zwei Kerzen angezündet hatte, wickelte ich die
Beutelratte in ein altes Geschirrtuch und warf sie durch die
Hintertür in den Garten hinaus. Dann setzte ich mich ins
Wohnzimmer, um auf Hunters Rückkehr zu warten.
Ich hatte meinen Mann betrogen. Ich hatte einen
anderen Mann in meinem Mund gehabt. Einen Wolfsmann. Ich hatte
gerade erlebt, wie sich ein Mensch in einen Wolf verwandelte. Oder
in einen Kojoten. Nein – ich hatte ihn in einen... was auch immer
verwandelt.
Und Jackie wusste davon.
Ich sehnte mich nach einer langen heißen Dusche.
Und nach gedankenlosem Fernsehen. Nach einem guten Buch. Nach
irgendeiner Art von Ablenkung. Stattdessen schossen mir unzählige
Fragen durch den Kopf: Verlor ich etwa den Verstand? Hatte mir
Jackie LSD in die Nudeln mit Käse gemischt? Ich merkte, wie mein
Herz raste, und versuchte, nicht in Panik zu geraten. Das waren
keine Drogenhalluzinationen. Das war auf einmal mein Leben.
Was mich zu einer weiteren Frage brachte: Wo war
Hunter? Wo war er in einer solchen Nacht ohne Wagen?
Instinktiv wusste ich, dass er bestimmt nicht
nach mir suchte. Er war auf der Suche nach eigenen Abenteuern.
Vielleicht im Moondoggie’s? Bei dieser
Bedienung? Jetzt hatte ich nicht einmal mehr das Recht, mich
darüber aufzuregen. Er konnte sich in diesem Augenblick in ihrem
Mund befinden oder seinen Mund zwischen ihren Beinen haben, und es
gab im Grunde nichts, was ich dagegen sagen konnte. Schließlich
hatte ich mich genauso schuldig gemacht.
Allerdings vermutete ich, dass er mir noch nie
treu gewesen war. Da hatte es nicht nur Magda gegeben. Wenn er mit
mir schlief und mich gleichzeitig mit dieser Kellnerin hinterging,
dann konnte ich getrost davon ausgehen, dass er noch nie monogam
gewesen war. Und dieses Wissen veränderte unsere gemeinsame
Vergangenheit grundsätzlich. Es machte meine Erinnerungen an unsere
Ehe zunichte oder rückte sie zumindest in ein völlig anderes
Licht.
Wenigstens gab es jetzt einen Mann, der mich
begehrte. Vielleicht hatte Red ja Recht. Vielleicht war er wirklich
der Bessere für mich.
Klar. Schließlich stellte ein Mann, der
gleichzeitig ein Hund war, den perfekten Gefährten dar. Nein, halt!
Das war doch völlig verrückt! Red hatte einfach plötzlich Angst
bekommen und war davongelaufen. Und dann hatte ich einen Kojoten
gesehen. Ganz einfach. Oder ich litt unter Halluzinationen, weil
ich zu wenig geschlafen und einen Adrenalinschock erlitten hatte.
Wahrscheinlich durchlief ich momentan einfach nur eine schwierige
Phase. Das war alles.
Red hatte Angst bekommen und war davongelaufen,
und
daraufhin war ein Kojote erschienen, der mich nach Hause begleitet
hatte. Das ergab zwar nicht viel mehr Sinn, aber zumindest musste
ich mich dann nicht morgen früh einliefern lassen. Und außerdem –
war dieses Verhalten, in letzter Sekunde Angst zu bekommen und
abzuhauen, für viele Männer nicht ganz typisch?
Als ich im dunklen Haus auf dem Sofa saß und
nachdachte, überkam mich ein wahrer Sturzbach an Erinnerungen. Ich
sah mich mit neunzehn, noch jung genug, um an magische
Verwandlungen zu glauben; noch jung genug, um den
Frauenzeitschriften zu glauben, wenn sie behaupteten, dass ein
neuer Haarschnitt, ein hübscheres Make-up, weniger Pfunde, dünnere
Schenkel und besserer Sex einen Mann wieder interessierter werden
ließen. Ich hatte Hunter in einem Alter kennengelernt, als ich noch
naiv genug gewesen war, davon überzeugt zu sein, dass ich kurz
davor stand, ein neues, glücklicheres, stärkeres Ich zu entwickeln,
dass ich mein altes Selbst problemlos zurücklassen könnte, indem
ich das richtige College, die richtige berufliche Karriere und den
richtigen Mann wählte.
Doch nun fand ich mich in diesem alten riesigen
Kasten wieder und wartete auf jemanden, der mich im Grunde gar
nicht mehr wollte und schon lange das Interesse an mir verloren
hatte. Wenn er durch diese Tür kam, war es an der Zeit, ihn zu
verlassen und mich endlich mit einem Leben ohne ihn
auseinanderzusetzen.
Kein Wunder, dachte ich, dass die meisten erst
dann in der Lage sind, ihre Partner zu verlassen, wenn ein neuer
Geliebter am Horizont erschienen ist und ihnen hilft, die Schwelle
nach draußen zu überwinden. Es hatte etwas Beruhigendes, einen
anderen Menschen im Hintergrund zu
wissen. Nur schade, dass Red in dieser Rolle auf mich nicht noch
etwas überzeugender wirkte.
Ich schlief ein, ohne es zu merken. Als die
ersten schwachen Sonnenstrahlen durch die Fenster des Wohnzimmers
fielen, kam ich wieder zu mir. Aber ich war noch zu erschöpft, um
richtig aufzuwachen oder mich zu bewegen. Plötzlich hörte ich ein
lautes Krachen und fuhr hoch. Mein Herz schlug schneller, während
mein Kopf noch eine halbe Sekunde länger brauchte, um zu
registrieren, was passiert war: Die Haustür war zugeschlagen
worden. Hunter stand vor mir. Nackt. Und blutig.
»Abra!« Er sah mich mit einem seltsamen Ausdruck
an, so als würde er sich schämen, was allerdings so gar nicht zu
seinem Charakter und den tiefen Fleischwunden auf seinen Schultern
und der Brust passte.
»Mein Gott! Was ist mit dir passiert?«
»Du bist also zurück. Schön. Sehr schön.« Er
rieb sich die Hände auf den Schenkeln ab, als wäre er gerade von
der Gartenarbeit wieder ins Haus zurückgekehrt. »Dann werde ich mal
duschen.«
»Du blutest, Hunter.«
Er blickte an sich herab. »Ah, ja... weißt du,
ich habe nach dir gesucht und...««
»Du blutest, und du hast nichts an.«
Etwas in seiner Miene veränderte sich. »Abra«,
sagte er mit einer belegt klingenden Stimme. Seine Augen wirkten
verwirrt und schmerzerfüllt.
»Was ist passiert?« Ich klang weicher, als ich
das wollte. Hastig nahm ich eine Wolldecke, die auf dem Sofa lag,
stand auf und ging zu ihm. »Hier.« Ich legte ihm die Decke um die
Schultern.
»Ich weiß es nicht.« Er schlang seine Arme um
mich, glitt an mir herab und drückte sein Gesicht gegen meinen
Bauch, wo sich vor einigen Stunden noch Reds Gesicht befunden
hatte. »Abra, ich...«
»Ich bin hier.«
»Geh nicht fort!«
»Ich bin hier, Hunter.«
Seine Arme klammerten sich an mich und hielten
mich so fest, dass ich beinahe das Gleichgewicht verlor. Ich strich
ihm über die Haare und wusste nicht, was ich sagen sollte. Mein
schlechtes Gewissen quälte mich, während es mich vor seinem Geruch
nach Schweiß, Blut und Schmutz ein wenig ekelte. Außerdem konnte
ich mich nicht erinnern, Hunter jemals vor mir auf den Knien
gesehen zu haben. Sein plötzliches Bedürfnis nach meiner Nähe hatte
etwas Verführerisches.
Trotzdem versuchte ich mich nach einer Weile von
ihm zu lösen. »Warst du... hast du etwas getrunken?«
Hunter rückte ruckartig von mir ab. »Du riechst
irgendwie komisch.«
»Ich rieche komisch?«
»Wie...« Er runzelte die Stirn. Dann sah er zu
mir hoch. »Verlässt du mich wegen ihm?«
»Wie bitte? Du hast wirklich Nerven, Hunter.«
Als ich versuchte, mich von ihm zu befreien, hielt er mich fest.
Selbst als er aufstand, wanderten seine Hände an meinen Armen hoch,
um mich nicht loslassen zu müssen. »Wo bist du die ganze Nacht
gewesen? Bei dieser Kellnerin? Und was ist mit letztem Sommer?
Möchtest du mir vielleicht noch mal von dieser ach so
faszinierenden Magda erzählen?«
Er holte so tief Luft, dass seine Nasenflügel
bebten. »Er
hat sich nicht an dich herangemacht«, erklärte er harsch. »Hast
du also ihn angemacht?«
»Nein! Was fällt dir ein!«« Ich riss mich los.
Meine Stimme klang erstaunlich gefasst und ruhig, beinahe wie eine
Computerstimme. »Wie kannst du es wagen, dich über Red aufzuregen
und in Wahrheit selbst...«
»Aber das bedeutet doch gar nichts!« Seine
Wangen waren vor Zorn gerötet, und mir wurde bewusst, dass ich noch
nie zuvor erlebt hatte, wie Hunter derart die Beherrschung verlor.
»Wenn ich mit irgendeiner Tussi bumse, während ich auf Reisen bin,
dann ist das... das ist doch nichts anderes als ein Kratzen, weil
es mich juckt. Es hat überhaupt keine Bedeutung, Abra. Das weißt du
auch, tief in deinem Inneren. Deshalb hast du dich nie darum
gekümmert, wenn...«
»Weil ich es nicht wusste!« Ich trommelte mit
meinen Fäusten auf ihn ein. Doch er packte mich an den Handgelenken
und hielt mich fest. »Ich habe es nicht gewusst, Hunter! Du bist
ein solches Arschloch! Ich habe dir vertraut, weil du schon
Tausende von Frauen flachgelegt hattest, und ich dachte, das würde
dir reichen!«
»Und das war dir egal!«
»Damals waren wir noch nicht verheiratet!« Wir
starrten uns an. Ich spürte, wie die Wut in mir brodelte. Hunter
hielt meine Fäuste fest, weshalb ich anfing, mit den Nägeln in
seinen doch ohnehin schon blutigen Schultern zu kratzen. Er zuckte
zusammen. »Was ist mit Magda? Und mit diesen Briefen, die ich
gefunden habe? Willst du behaupten, dass auch sie dir nichts
bedeutet?« Ich wartete einen Moment auf seine Antwort und stieß ihn
dann von mir, um zum Fenster zu treten und hinauszustarren. Sein
Zögern war Antwort genug.
»Mit Magda ist es etwas anderes gewesen. Das
gebe ich gerne zu. Aber nicht so, wie du denkst. Sie war meine
Lehrerin, Abs...«
Ich schluchzte so laut, dass es im ganzen Raum
widerhallte.
»Eine Weile dachte ich wirklich, dass es mehr
ist. Das stimmt. Okay?« Er trat neben mich und berührte meine
Schläfe mit seiner Stirn. »Ich dachte... sie hat mich verändert,
und ich war anders. Ich dachte, dass du und ich... dass das nicht
mehr funktionieren würde. Aber das stimmt nicht. Du bist mit mir
hierher gezogen. Du hast mir Freiraum gelassen, du gibst mir immer
den Freiraum, den ich brauche, um mich selbst besser zu
verstehen.«
Ich konnte ihn nicht ansehen. Irgendwie
bedrängte es mich, wie nahe er neben mir stand. Aber ich war nicht
in der Lage, mich zu bewegen. »Und warum bist du dann die ganze
Nacht mit jemand anderem weggewesen? Was war das? Hat es dich
einfach wieder gejuckt?«
Er seufzte. Seine Hand an meinem Hinterkopf
fühlte sich verschwitzt und heiß an. Wir waren uns so nahe, als
würden wir jeden Moment miteinander schlafen, und ich merkte, wie
der Ekel in mir aufstieg. »Abra, vergangene Nacht... ich bin
losgegangen, um nach dir zu suchen. Ich war so wütend, weil du
einfach den Wagen genommen hast. Also bin ich per Anhalter zu
Moondoggie’s gefahren und wollte mich dort betrinken. Und dann...
nein, es war kein Jucken. Es war ein Feuer. Hör auf zu weinen. Sieh
mich an. Abra, sieh mich an!«
Ich tat es. »Ich hasse dich«, sagte ich. »Und
ich will nicht mehr.«
»Das meinst du nicht ernst. Dieser Red ist doch
nur...«
»Lass Red aus dem Spiel. Das hat nichts mit ihm
zu tun. Bleib bei deiner Kellnerin. Nimm dir alle, die du kriegen
kannst. Ich gehe nach New York zurück.«
»Okay.« Er nickte, als würde er mir seine
Erlaubnis geben. »Gut, dann geh zurück. Vielleicht ist es das
Beste, etwas Zeit...«
»Nein.« Ich richtete mich auf. »Es geht hier
nicht darum, dass ich dir mal wieder Zeit und Freiraum gebe, damit
du auch als verheirateter Mann tun und lassen kannst, was du
willst. Es geht zur Abwechslung einmal um mich. Ich verlasse dich,
Hunter.«
Er rührte sich nicht. »Gut«, sagte er nach einer
Weile. »Gut.« Er wirkte so, als hätte er beschlossen, ruhig und
vernünftig zu bleiben, ganz gleich, was ich ihm noch eröffnen
würde.
»Nein, das ist nicht gut«, erwiderte ich und
weinte noch heftiger als zuvor. Die Übelkeit und der Ekel in mir
wurden stärker. Ich presste die Hand vor den Mund und rannte ins
Bad. Doch es war bereits zu spät.
Ich erbrach mich auf den Linoleumboden. Hunter
war mir gefolgt und hielt mich an den Schultern fest, bis ich
nichts anderes als nur noch Galle herauswürgte. Dann setzten wir
uns beide erschöpft auf den Boden, ich zwischen seine Beinen. Er
strich mir die Haare aus dem Gesicht, und ich betrachtete das
Erbrochene, das bis unter die Badewanne mit den komischen Füßen
geflossen war.
Meine Brüste schmerzten, und ich versuchte mich
daran zu erinnern, wann ich das letzte Mal meine Periode gehabt
hatte. Letzten Monat, dachte ich. Was heißen konnte, dass sie kurz
bevorstand. Oder auch nicht, denn weder hatte ich ja einen
regelmäßigen Zyklus noch waren meine prämenstruellen
Symptome jemals so heftig gewesen. Noch immer tobte ein
unglaublicher Zorn in mir, und der heftige Gefühlssturm drohte
alles niederzureißen, was ich mir bisher mit Hunter aufgebaur und
was mir etwas bedeutet hatte.
»O mein Gott«, sagte ich. »Hunter, ich glaube,
ich bin schwanger.«
Er zog mich noch enger an sich, ohne etwas zu
sagen. Der saure Geruch im Badezimmer wurde durchdringender.
Trotzdem machte keiner von uns beiden Anstalten aufzustehen.
Zwischen dem Apothekerschränkchen und dem Waschbecken saß eine
kleine braune Spinne in ihrem Netz. Eine winzige Ameise lief darauf
zu. Vorgänge, die man in aufrechter Haltung niemals bemerkt
hätte.
»In der... in der wievielten Woche könntest du
sein?«
Hunters Frage riss mich aus meinen
Betrachtungen. In der wievielten Woche? War es bereits ein winziger
Fisch, eine Kaulquappe, ein Salamander oder ein Ferkel? Welchen Weg
hatte das Lebewesen in meinem Bauch auf der Evolutionsskala bereits
hinter sich gebracht? Hatte es schon Daunenbewuchs oder einen
verkümmerten Schwanzansatz? Nein, der kam erst später, zusammen mit
den flatterhaften Bewegungen der Augenlider und möglicherweise
Träumen.
»Es kann noch nicht lange sein«, erwiderte ich
und dachte an Hunters jahrelange Einwände gegen ein gemeinsames
Kind – wegen seines drohenden Freiheitsverlusts, meiner
Unabhängigkeit, der Möglichkeit, dass er die schizophrenen Gene
seiner Mutter geerbt haben könnte. Jetzt lauerte die Gefahr nicht
mehr in Form einer Schizophrenie, sondern – als Lykanthropie.
»Willst du es?« Seine Hand glitt vorsichtig zu
meinem Bauch hinab.
»Willst du es?«
Seine Daumen strichen über meinen Bauch. »O ja,
auf jeden Fall.« Es hatte etwas Ergreifendes, wie er so dasaß,
seine nackten Schenkel um mich geschlungen, seine Hände auf meinem
Bauch, beschützend und fürsorglich. »Ich will mein Baby in dir,
Abra. Sehr sogar.«
»Ich auch.« Ich weinte. Hunter legte seine Hand
unter mein Kinn und hob es an. Ich ließ zu, dass er mich küsste,
während meine Tränen unsere Lippen befeuchteten. Seine Finger
streichelten über meinen Kieferknochen, und ich fühlte eine Welle
der Zärtlichkeit in uns aufsteigen. Bis ich auf einmal merkte, wie
sein Penis steif wurde und gegen mein Becken drängte. Erst jetzt
fiel mir wieder ein, dass Hunter ja völlig nackt war. Er zog sich
gerade noch rechtzeitig zurück, ehe seine Erregung meine zarten
Gefühle, die mir fast Angst machten, zu sehr störten.
»Ich liebe dich. Das weißt du, nicht wahr?«,
murmelte er.
»Ich liebe dich auch.«
Das Glücksgefühl überwältigte mich nach dem
heftigen Zornausbruch beinahe. Ich war ein solches Auf und Ab nicht
gewohnt und sehnte mich fast nach meinem früheren Mann, der
distanziert belustigt gewirkt und selbst die größten
Gefühlsausbrüche mit einem ironischen Blick betrachtet hatte.
»Also, dann machen wir hier lieber mal sauber.
Was meinst du?«
»Gut.«
Er bot mir seine Hand, um mich hochzuziehen.
Nach einem kurzen Zögern nahm ich sie.