10
Im Grunde ging kein Angestellter des Instituts freiwillig zum Essen in die Kantine des Hauses. Dort herrschte eine so düstere Atmosphäre wie im Keller, das Essen war fettig und meist halbkalt, und die langen, abgeblätterten Picknicktische wirkten eher so, als ob sie für das Sezieren von Kadavern und nicht für eine Mahlzeit aufgestellt worden wären. Aber da man als Assistenzarzt gefühlte neunzig Stunden die Woche arbeitete, blieb uns oft nichts anderes übrig, als diesen Ort des Schreckens aufzusuchen, wenn wir Hunger hatten.
»Ich bin am Verhungern, aber die Spaghetti sehen aus, als hätte man auf ihnen eine Bakterienkultur angelegt«, meinte Lilliana, die zwei Erdbeerjoghurts und einen Apfel auf ihrem Tablett platziert hatte. »Wo möchtest du sitzen, Abra?«
»Das überlasse ich dir.« Ich hatte mich für zwei große Chocolate-Chip-Cookies und einen kleinen Karton mit halbfetter Milch entschieden. Als ich die schmale Taille meiner Freundin in ihrem schicken schwarzen Rock betrachtete, fragte ich mich, ob ich nicht besser auch Joghurt hätte wählen sollen. Viel geholfen hätte es allerdings sowieso nicht. Lilliana gehörte – im Gegensatz zu mir – zu jenem Typus Frau, der immer Schuhe mit hohen Absätzen und Seidenunterwäsche trug, egal, was sie vorhatte. So sehr ich meinen Mann nicht verlieren wollte, so wusste ich doch, dass es sinnlos war, zu diesem späten Zeitpunkt damit anfangen zu wollen, mich äußerlich total verändern zu wollen.
»Dann setzen wir uns doch am besten zu den Jungs«, meinte Lilliana, während sie sich in der vollen Kantine suchend umblickte.
Ich entdeckte Sam, der uns zuwinkte. Er war gerade damit beschäftigt, Spaghetti auf seine Gabel zu drehen, die bestimmt nicht mehr al dente waren. Ofer, der immer Essen von zu Hause mitbrachte, pikste mit einem Zahnstocher ein Fleischbällchen aus einer kleinen Plastikdose und steckte es sich in den Mund. Malachy Knox saß am selben Tisch ein paar Stühle von den beiden entfernt. Er trank Tee und aß einige Kräcker, während er in einem Stapel Akten blätterte.
»Ich habe das Gerücht gehört«, flüsterte mir Lilliana zu, »dass die Institutsleitung versuchen will, ihn für immer loszuwerden.«
Ich fragte nicht, woher sie das wusste. Lilliana besaß die Gabe, selbst verschlossene Menschen zum Reden zu bringen. Es war manchmal fast unheimlich. Wenn sie in der Kantine zwei Minuten neben dem Chef der Personalabteilung stand, wusste sie mehr über ihn als seine langjährige Sekretärin. Nach einer halben Stunde hätte sie vermutlich mehr als seine Frau gewusst. Allerdings gab Lilliana auch nie ihre Quellen preis, was ihr vermutlich den Ruf einbrachte, dass man sich auf sie verlassen konnte.
»Ob man Mad Mal wohl wegen seiner angeschlagenen Gesundheit loswerden will? Was meinst du?« Ich zögerte. »Oder wird seine Gesundheit immer schlechter, weil er so kurz vor der Kündigung steht?«
Meine Freundin zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Jedenfalls sieht er ziemlich schlecht aus.« Seit einiger Zeit traten Dr. Knox’ Wangenknochen derart stark hervor, dass sein Kopf fast wie ein Totenschädel wirkte.
»Mist«, murmelte Lilliana, als wir zu unseren Kollegen stießen. »Ich habe etwas vergessen. Bin gleich wieder da, Abra.« Ich stellte mein Tablett ab, während sie zur Essenstheke zurückging.
»Ms. Barrow.« Malachy Knox nickte mir zu. »Haben Sie schon die radiologischen Befunde für den Golden Retriever bekommen?«
»Nein, noch nicht. Aber die Blutwerte sind da.« Ich trank einen Schluck Milch. »Allerdings weiß ich nicht, wie wir jetzt weitermachen sollen. Die Besitzerin hat für eine Behandlung nicht genügend Geld.«
Dr. Knox strich sich nachdenklich übers Kinn. »Also stellt eine Chemotherapie wohl keine echte Option dar – trotz der Diagnose?«
»Jedenfalls nicht bei uns. Vielleicht fällt ihrem Tierarzt eine Lösung ein.«
»Sehen Sie sich in der Lage, den Anruf zu machen?« Er klang beinahe besorgt.
»Ja, natürlich.«
Knox zog die Augenbrauen hoch. »Sie wissen, dass es sich um Mrs. Rosen handelt, nicht wahr? Die Dame, die meinte, wir sollten ihr weniger berechnen, da wir ein Lehrkrankenhaus sind.«
»Ich werde es ihr erklären.«
»Umso besser«, sagte Malachy Knox. »Dann bleibt mir wohl nur noch übrig...«
»Ihr zum Geburtstag zu gratulieren«, forderte ihn Lilliana auf, die in diesem Augenblick mit einer kleinen Schokoladentorte auf ihrem Tablett zu unserem Tisch trat. Sie war gerade groß genug für zwei Kerzen in Form einer Drei und einer Null.
»Oh, Lilliana! Vielen Dank!«« Ich blies die Kerzen aus.
»Was hast du dir gewünscht?«, wollte der neugierige Sam wissen.
»Was sich alle Frauen wünschen – wahre Liebe, Glück und eine perfekte Pediküre.«
»Einen der Wünsche kann ich dir vielleicht erfüllen«, meinte Lilliana und reichte mir einen Gutschein für einen Tag in einem Wellness-Hotel.
»Toll! Vielen Dank!«
»Ich komme natürlich auch mit«, fügte sie hinzu und begann ihren Apfel zu schälen.
»Mit einer solchen Messerfertigkeit«, meinte Malachy Knox, »würden Sie als Sozialarbeiterin wirklich Ihr Talent verschwenden.«
Ofers Geburtstagskarte zeigte einen Wolf in Frauenkleidung. Er sah wie Rotkäppchen aus, lächelte aber recht peinlich berührt. Darunter stand: >Ehrlich, es geht nicht um die Klamotten.<
»Ich hatte etwas Sorge, die Karte könnte dich vielleicht beleidigen«, erklärte Sam, als er mir seine Glückwunschkarte mit dem rasierten Oberkörper eines muskulösen Mannes übergab. Darunter stand ein geschmackloser Scherz über ältere prüde Frauen.
»Wirklich witzig, Sam. Danke.« Ich fragte mich, warum man mich so häufig für prüde hielt. Aus irgendeinem Grund musste ich an Red Mallin und unsere Begegnung auf der Institutstoilette denken. Er hatte mich jedenfalls vollkommen anders eingestuft.
Lilliana warf einen Blick auf Sams Karte. »Tut mir leid, aber das ist bestimmt kein Mann für Frauen – wenn ihr wisst, was ich meine.«
»Stimmt«, meldete sich auch Ofer zu Wort. »Echte Männer rasieren sich nicht die Brust oder ziehen irgendwelche Designerklamotten an.«
»Klar«, entgegnete Sam mit einer vor Sarkasmus triefenden Stimme. »Solche Männer nennt man auch Bären. Du weißt schon – große Holzfällertypen mit viel Pelz auf der Brust. Besonders gern in der Schwulenszene gesehen.«
Malachy Knox reichte mir seine Karte als Letzter. Sie war ganz schlicht und hatte eine getrocknete Wildblume auf der Vorderseite. Innen stand: >Wir müssen dringend miteinander sprechen.<
Ich klappte die Karte wieder zu und starrte ihn an. Mir verkrampfte sich der Magen. Hatte er vor, mir die Stelle als Assistenzärztin zu kündigen?
Dr. Knox stand auf, wobei er beinahe seine Akten fallen ließ. Ich sprang auf und hob ein paar der Papiere auf, die auf den Boden gesegelt waren.
»Danke, Ms. Barrow«, sagte er. »Könnte ich Sie vielleicht dazu überreden, die fröhliche Runde schon etwas früher zu verlassen?«
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen folgte ich meinem Teamleiter bis zum Lift. Wir wechselten kein Wort miteinander, während wir gemeinsam in den Keller hinabfuhren. Dort hatte man Dr. Knox ein kleines Büro zugeteilt, nachdem ihm seine Stelle in der renommierten Forschergruppe weggenommen worden war. Seit meinem Vorstellungsgespräch im letzten Mai hatte ich keinen Fuß mehr in sein Zimmer gesetzt.
Die Lifttüren öffneten sich. »Nach Ihnen«, sagte Malachy Knox. Ich ließ ihn in dem Flur zu seinem Büro vorangehen. Mir fiel auf, wie unsicher sein Gang geworden war. Weshalb wollte er mich wohl sprechen? Würde er mir eröffnen, dass ich die Einzige unter den Assistenzärzten war, der er genügend vertraute, um ihr mitzuteilen, dass er das Institut verließe. Oder wollte er mir verkünden, dass ich leider doch nicht in sein Team passte?
Wir gingen an mehreren Büros vorbei und bogen schließlich um eine Ecke. Erst jetzt verstand ich, dass mich Malachy Knox zu einem mir unbekannten Ort brachte. Dieser Teil des Korridors war dunkler als der vorherige. Das düstere Neonlicht flackerte, die Farbe blätterte an den Wänden ab, und in einer Ecke hatte jemand ein paar zerbrochene Stühle aufeinander gestapelt.
»Dr. Knox«, sagte ich nach einer Weile. »Wohin bringen Sie mich?«
»Hierher.« Er blieb vor einer Tür am Ende des langen Flurs stehen. Nachdem er mir die Akten in den Arm gedrückt hatte, suchte er nach dem Schlüsselbund in seiner Hosentasche.
»Ich verstehe nicht ganz, was das alles soll«, gab ich zu. »Wollen Sie mich loswerden? Muss ich die Gruppe verlassen, Dr. Knox?«
Malachy Knox fluchte leise vor sich hin, da seine Hände derart stark zitterten, dass er den Schlüssel nicht ins Schloss stecken konnte. Ich überraschte mich selbst und legte meine Hand beruhigend auf die seine. Sie fühlte sich eiskalt an.
»Bitte, Dr. Knox. Ich muss es wissen«, sagte ich. »Werfen Sie mich raus?«
Er bedachte mich mit einem verständnislosen Blick und schüttelte dann den Kopf. »Nein, ich will Sie nicht hinauswerfen, Ms. Barrow. Ich habe Sie hierher gebracht, weil ich Ihnen etwas zeigen möchte, wofür man mich hinauswerfen könnte, wenn das jemand erfährt.«
»Warum wollen Sie gerade mir so etwas zeigen?«, fragte ich verblüfft und gleichzeitig erleichtert. »Warum nicht auch den anderen?«
»Weil keiner in so engem Kontakt mit einem Menschen steht, der dem Lykanthropievirus ausgesetzt war. Verdammt!«« Malachy Knox ließ die Schlüssel fallen, die scheppernd auf dem Betonboden landeten.
Man kann nur hoffen, dass du dir von diesem Mann nicht eines Tages irgendeine Krankheit einfängst, Abra. Die Warnung meiner Mutter hallte auf einmal in meinen Ohren wider, während ich mich nach unten beugte und den Schlüsselbund aufhob. »Welcher ist es?« Meine Stimme klang künstlich angespannt und gepresst.
»Der bronzefarbene.«
Ich sperrte die Tür zu einem kleinen, schlecht beleuchteten Labor auf. In einem großen Käfig an der gegenüberliegenden Wand befand sich ein Dalmatiner, in einem anderen ein deutscher Schäferhund. Beide Hunde schienen zu schlafen. Doch da sie durch unser Eintreffen nicht aufwachten, nahm ich an, dass man sie eher betäubt hatte. In dem Raum stand noch ein dritter Käfig, der jedoch leer war. Ich musste an Pia, den Wolfshybriden, denken. In der Mitte des Labors befand sich ein OP-Tisch mit Gurten zum Festbinden der Tiere. Außerdem gab es noch einen kleinen Kühlschrank, einen Bunsenbrenner, eine Schleudermaschine, mehrere Glasfläschchen und Ampullen, ein Mikroskop sowie ein Gerät, das wie ein Mixer aussah.
»Ich dachte, Sie hätten nichts mehr mit der Forschung zu tun«, bemerkte ich so lässig wie möglich. In Wahrheit zitterte ich vor Nervosität. Meine Mutter hatte durchaus Recht gehabt, als sie mich als hypochondrisch bezeichnet hatte. Ich musste an das seltsame Verhalten meines Mannes in den letzten Wochen denken.
»Offiziell habe ich das auch nicht mehr.« Dr. Knox trat zu einem alten Computer. »Aber ich konnte doch nicht einfach meine Arbeit von Jahren wegwerfen, nur weil ein paar inkompetente Idioten das so wollten – oder?« Er tippte etwas ein. Auf dem Bildschirm erschien ein Bild – die Darstellung einer menschlichen DNS, eine doppelte Spirale. »Wussten Sie, dass das menschliche Chromosom Nummer siebzehn eine Ähnlichkeit mit dem Chromosom Nummer dreiundzwanzig der Canidae besitzt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, eigentlich nicht.« Ich wusste natürlich, dass wir alle Säugetiere waren und einen gemeinsamen Vorfahren besaßen, wenn man weit genug zurückging. Aber ich hatte mich bisher nie näher mit genetischen Fragen auseinandergesetzt.
Malachy drückte auf eine Taste, und ein Teil des DNS-Strangs löste sich, drehte sich um die eigene Achse und wurde dann wieder an anderer Stelle eingesetzt. »Das weist daraufhin, dass es irgendwann einmal eine Mutation gegeben haben muss. Vermutlich eine Umkehrung.«
Hinter mir begann der Dalmatiner zu knurren. Offenbar versuchte er, die Wirkung des Sedativs abzuschütteln. »Dr. Knox«, murmelte ich, um ihn auf das benommene Tier aufmerksam zu machen.
»Warten Sie. Sehen Sie sich erst einmal an, was passiert, wenn man weitere Gene versetzt.« Der DNS-Strang auf dem Bildschirm begann sich zu bewegen und neu zusammenzusetzen. »Hier ist sie – die DNS-Sequenz für Canidae.«
»Das geschieht ja auf der genetischen Ebene«, sagte ich, als mir klarwurde, was er meinte.
»Ganz genau«, erwiderte Malachy Knox. »Ich habe schon lange vermutet, dass der Lykanthropievirus alle Zellen betrifft und es durch eine Ansteckung sogar zu einer Veränderung der nuklearen DNS kommen könnte, wodurch sich eine Zelle wie eine andere Art verhielte. Doch erst vor kurzem habe ich begriffen, dass sich diese Veränderung in der mitochondrialen DNS abspielt.«
Ich sah Dr. Knox an. Auf einmal fragte ich mich, ob seine Krankheit wohl auch seine Fähigkeit zu denken beeinträchtigte. »Wenn Sie mir damit sagen wollen, dass mein Mann mit diesem Virus infiziert ist, hätte ich gerne gewusst, was das bedeutet.« Vor meinem inneren Auge liefen alle Werwolf-Filme ab, die ich jemals gesehen hatte, bis ich nur noch ein Bild vor mir sah: Hunter in der Rolle von Jack Nicholson.
Malachy Knox zog die Augenbrauen hoch. »Meine liebe Ms. Barrow, genau das versuche ich gerade herauszufinden. Keiner weiß genau, wie sich mitochondriale und nukleare DNS zueinander verhalten. Eines ist aber klar: Das Ganze ist höchst komplex. Bisher kann ich nur mit Sicherheit sagen, dass es einen genetischen und einen umweltspezifischen Faktor gibt. Ich glaube auf jeden Fall, dass es sinnvoll wäre, wenn mich Ihr Mann bald besuchen würde.«
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Hunter von einem solchen Vorschlag angetan wäre. »Ich glaube kaum...«, begann ich, wurde jedoch von einem lauten Klagelaut aus dem Käfig des Dalmatiners unterbrochen.
»Verdammt. Ich muss mich um ihn kümmern. Was ich brauche, ist allerdings ein reinrassiger Wolf.« Dr. Knox ließ sich mühsam vor dem Käfig auf die Knie nieder, um ihn zu öffnen. Ehe ich etwas tun konnte, stürzte der Hund zähnefletschend heraus und wollte den Veterinär am Hals packen. Ich versuchte die Hinterläufe des Tieres zu erwischen, um ihn zum Stürzen zu bringen, doch ich war nicht schnell genug. Blut floss bereits. Malachy Knox hielt sich schützend die Hände vors Gesicht, um den wild gewordenen Hund davon abzuhalten, ihn erneut zu beißen.
»Telazol!«, brüllte er. »Im Kühlschrank!«« Ich riss die kleine Kühlschranktür auf, holte eine fertige Spritze heraus und rammte sie dem Dalmatiner in die Flanke. Er drehte den Kopf nach rechts zu mir und ließ so von Knox ab. Knurrend fletschte er die Zähne, bereit, sich auf ein neues Opfer zu stürzen.
»Gütiger Himmel«, murmelte ich entsetzt. Es war eindeutig: Das Sedativum wirkte nicht.
Dann stürzte sich der Hund auf mich. Seine Vorderpfoten drückten sich fest in meine Schultern. Ich schloss verängstigt die Augen. Plötzlich hörte ich ein lautes Knacken. Entsetzt stieß ich einen Schrei aus, während das Tier mit seinem vollen Gewicht auf mich fiel und mich zu Boden riss. Als ich die Augen wieder öffnete, stand Knox über mich gebeugt. Eine verwirrende Sekunde lang sah er nicht mehr wie er selbst aus. Seine Augen glühten seltsam blaugrün, er wirkte größer, wilder und stärker als zuvor. Seine Arme schienen auf einmal grotesk dürr zu sein, als er sie ausstreckte, um dem Dalmatiner das Genick zu brechen.
Das ist unmöglich, dachte ich verwirrt, ehe ich in Ohnmacht sank.
 
»Mein Gott«, sagte jemand.
»Wurde sie verletzt?«
Ich stellte mir insgeheim dieselbe Frage, während ich langsam zu mir kam, die Augen aufmachte und feststellte, dass Lilliana, Ofer und Sam um mich herumstanden. Es fühlte sich ziemlich beunruhigend an, das Opfer eines Medizinerdramas geworden zu sein. Wenn man sich Krankenhausserien im Fernsehen ansah, identifizierte man sich meist mit den Ärzten und Krankenschwestern, also mit denjenigen, die aufrecht da standen, ihre Kleidung meist anließen und vor allem keine Verletzungen aufwiesen.
»Okay – wenn mir jetzt jemand helfen könnte, den Kerl beiseite zu schaffen und eine IV zu machen.« Ofer übernahm die Führung.
Lilliana kniete sich neben mir hin und strich mir über die Haare. »Abra, wie geht es dir?«
Ich versuchte mit den Achseln zu zucken, während Ofer gemeinsam mit einem anderen Assistenzarzt den toten Hund von meiner Brust hob.
Auch Malachy Knox kniete sich neben mich. »Es tut mir leid«, murmelte er mit einer derart leisen Stimme, dass ich Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Hat er Sie gebissen? Hat er Sie irgendwo verletzt?«
Ich blickte zu ihm auf, denn ich erinnerte mich an den eigentümlichen Anblick, den er geboten hatte, ehe ich das Bewusstsein verlor. Wahrscheinlich war es nur eine Folge des Schocks, dachte ich. Oder führte Malachy Knox vielleicht an sich selbst Versuche durch?
»Ihr Mantel ist zerrissen«, brachte ich mühsam heraus, als ich bemerkte, dass sein Laborkittel zerfetzt war. Er sah fast so aus, als ob er ihn in einem Wirbelsturm getragen hätte.
»Das ist jetzt völlig unwichtig, Ms. Barrow. Zeigen Sie mir lieber, wo er Sie verletzt hat«, erwiderte Knox. Erst jetzt merkte ich, dass ich seine Frage gar nicht beantwortet hatte.
Ich blickte ihm fest in die Augen. »Er hat mich nicht gebissen.«
Dr. Knox wirkte derart erleichtert, dass er für einen Augenblick fast wieder jugendlich aussah. Damals musste er ein weicheres, gefühlvolleres Gesicht gehabt haben. Hatte er wohl jemals Liebe erfahren? Oder war die Wissenschaft stets die einzige Leidenschaft gewesen, die ihn bewegte? Vielleicht war dieses geheime Labor im Keller der Ort, an dem am deutlichsten sein wahres Selbst zum Vorschein kam. Dann wurde mir bewusst, dass er das restliche Team gerufen hatte, um mir zu helfen. Und das bedeutete natürlich, dass dieser Ort nicht mehr geheim war.
 
Den restlichen Tag über kamen immer wieder Leute zu mir und rissen irgendwelche schlechten Dalmatiner-Witze. Möchtest du einen Pelzmantel, Abra? Sag es nur, ich kann dir einen besorgen...
Ich versuchte nicht an die umgedrehte Wolfskarte zu denken, die meine Mutter für mich gelegt hatte. Zählte auch der Angriff eines Dalmatiners als Gefahr? War das der Streich, den mir das Universum angeblich in Gestalt eines Kojoten spielen wollte? Das war das Problem beim Kartenlegen : Die Karten konnten alles und zugleich auch nichts bedeuten.
Ich begegnete Sam auf dem Gang. »Alles in Ordnung? Du siehst hoffentlich keine Punkte mehr vor den Augen?« Ich lachte gequält. Wir taten alle so, als wäre alles wie immer. Doch hinter der Fassade aus Normalität bröckelte es. Jeder aus unserem Team machte sich Sorgen um seine Zukunft. Am Abend wurde es dann zur Gewissheit: Malachy Knox war entlassen worden und gehörte nicht länger dem tiermedizinischen Institut von New York an.
Wir hatten ihn nicht mehr gesehen, seitdem die Rettungssanitäter gemeinsam mit Mr. Simcox, dem ausgezehrten Leiter der Institutsverwaltung, in sein Labor im Keller gekommen waren. Es gelang uns, die Sanitäter davon zu überzeugen, dass ich nicht in die Notfallstation gebracht werden musste. Dann rief Mr. Simcox zwei Sicherheitsleute, die Malachy Knox wegführen sollten.
Etwas an seiner Miene ließ mich vermuten, dass er es geschafft hatte, einige wichtige Dokumente in seine Aktentasche zu schieben, ehe Mr. Simcox aufgetaucht war.
»Euch wird nichts passieren«, beruhigte er uns, während er seinen zerfetzten Mantel auszog und sein Tweedjackett von einem Haken hinter der Tür nahm. Seine knochigen Arme ragten aus den abgestoßenen Hemdstulpen hervor, als wären die Ärmel geschrumpft oder die Arme gewachsen.
Als ihn die Wachleute aus dem Labor begleiteten, drehte er sich noch einmal zu uns um. »Sie werden euch alle anderen Teams zuweisen.«
»Aber Dr. Knox«, rief Sam. »Was wird mit Ihnen geschehen?«
Malachy Knox überraschte uns alle, als er breit grinste. »Ehrlich gesagt, mein Junge, ich habe keine Ahnung.«
Und mit diesen Worten verließ er uns. Er pfiff leise vor sich hin, als er beschwingten Schrittes den Gang entlang davonging.
Wolfstraeume Roman
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