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Im Grunde ging kein
Angestellter des Instituts freiwillig zum Essen in die Kantine des
Hauses. Dort herrschte eine so düstere Atmosphäre wie im Keller,
das Essen war fettig und meist halbkalt, und die langen,
abgeblätterten Picknicktische wirkten eher so, als ob sie für das
Sezieren von Kadavern und nicht für eine Mahlzeit aufgestellt
worden wären. Aber da man als Assistenzarzt gefühlte neunzig
Stunden die Woche arbeitete, blieb uns oft nichts anderes übrig,
als diesen Ort des Schreckens aufzusuchen, wenn wir Hunger
hatten.
»Ich bin am Verhungern, aber die Spaghetti sehen
aus, als hätte man auf ihnen eine Bakterienkultur angelegt«, meinte
Lilliana, die zwei Erdbeerjoghurts und einen Apfel auf ihrem
Tablett platziert hatte. »Wo möchtest du sitzen, Abra?«
»Das überlasse ich dir.« Ich hatte mich für zwei
große Chocolate-Chip-Cookies und einen kleinen Karton mit
halbfetter Milch entschieden. Als ich die schmale Taille meiner
Freundin in ihrem schicken schwarzen Rock betrachtete, fragte ich
mich, ob ich nicht besser auch Joghurt hätte wählen sollen. Viel
geholfen hätte es allerdings sowieso nicht. Lilliana gehörte – im
Gegensatz zu mir – zu
jenem Typus Frau, der immer Schuhe mit hohen Absätzen und
Seidenunterwäsche trug, egal, was sie vorhatte. So sehr ich meinen
Mann nicht verlieren wollte, so wusste ich doch, dass es sinnlos
war, zu diesem späten Zeitpunkt damit anfangen zu wollen, mich
äußerlich total verändern zu wollen.
»Dann setzen wir uns doch am besten zu den
Jungs«, meinte Lilliana, während sie sich in der vollen Kantine
suchend umblickte.
Ich entdeckte Sam, der uns zuwinkte. Er war
gerade damit beschäftigt, Spaghetti auf seine Gabel zu drehen, die
bestimmt nicht mehr al dente waren. Ofer,
der immer Essen von zu Hause mitbrachte, pikste mit einem
Zahnstocher ein Fleischbällchen aus einer kleinen Plastikdose und
steckte es sich in den Mund. Malachy Knox saß am selben Tisch ein
paar Stühle von den beiden entfernt. Er trank Tee und aß einige
Kräcker, während er in einem Stapel Akten blätterte.
»Ich habe das Gerücht gehört«, flüsterte mir
Lilliana zu, »dass die Institutsleitung versuchen will, ihn für
immer loszuwerden.«
Ich fragte nicht, woher sie das wusste. Lilliana
besaß die Gabe, selbst verschlossene Menschen zum Reden zu bringen.
Es war manchmal fast unheimlich. Wenn sie in der Kantine zwei
Minuten neben dem Chef der Personalabteilung stand, wusste sie mehr
über ihn als seine langjährige Sekretärin. Nach einer halben Stunde
hätte sie vermutlich mehr als seine Frau gewusst. Allerdings gab
Lilliana auch nie ihre Quellen preis, was ihr vermutlich den Ruf
einbrachte, dass man sich auf sie verlassen konnte.
»Ob man Mad Mal wohl wegen seiner angeschlagenen
Gesundheit loswerden will? Was meinst du?« Ich zögerte. »Oder wird
seine Gesundheit immer schlechter, weil er so kurz vor der
Kündigung steht?«
Meine Freundin zuckte die Achseln. »Ich weiß es
nicht. Jedenfalls sieht er ziemlich schlecht aus.« Seit einiger
Zeit traten Dr. Knox’ Wangenknochen derart stark hervor, dass sein
Kopf fast wie ein Totenschädel wirkte.
»Mist«, murmelte Lilliana, als wir zu unseren
Kollegen stießen. »Ich habe etwas vergessen. Bin gleich wieder da,
Abra.« Ich stellte mein Tablett ab, während sie zur Essenstheke
zurückging.
»Ms. Barrow.« Malachy Knox nickte mir zu. »Haben
Sie schon die radiologischen Befunde für den Golden Retriever
bekommen?«
»Nein, noch nicht. Aber die Blutwerte sind da.«
Ich trank einen Schluck Milch. »Allerdings weiß ich nicht, wie wir
jetzt weitermachen sollen. Die Besitzerin hat für eine Behandlung
nicht genügend Geld.«
Dr. Knox strich sich nachdenklich übers Kinn.
»Also stellt eine Chemotherapie wohl keine echte Option dar – trotz
der Diagnose?«
»Jedenfalls nicht bei uns. Vielleicht fällt
ihrem Tierarzt eine Lösung ein.«
»Sehen Sie sich in der Lage, den Anruf zu
machen?« Er klang beinahe besorgt.
»Ja, natürlich.«
Knox zog die Augenbrauen hoch. »Sie wissen, dass
es sich um Mrs. Rosen handelt, nicht wahr? Die Dame, die meinte,
wir sollten ihr weniger berechnen, da wir ein Lehrkrankenhaus
sind.«
»Ich werde es ihr erklären.«
»Umso besser«, sagte Malachy Knox. »Dann bleibt
mir wohl nur noch übrig...«
»Ihr zum Geburtstag zu gratulieren«, forderte
ihn Lilliana auf, die in diesem Augenblick mit einer kleinen
Schokoladentorte auf ihrem Tablett zu unserem Tisch trat. Sie war
gerade groß genug für zwei Kerzen in Form einer Drei und einer
Null.
»Oh, Lilliana! Vielen Dank!«« Ich blies die
Kerzen aus.
»Was hast du dir gewünscht?«, wollte der
neugierige Sam wissen.
»Was sich alle Frauen wünschen – wahre Liebe,
Glück und eine perfekte Pediküre.«
»Einen der Wünsche kann ich dir vielleicht
erfüllen«, meinte Lilliana und reichte mir einen Gutschein für
einen Tag in einem Wellness-Hotel.
»Toll! Vielen Dank!«
»Ich komme natürlich auch mit«, fügte sie hinzu
und begann ihren Apfel zu schälen.
»Mit einer solchen Messerfertigkeit«, meinte
Malachy Knox, »würden Sie als Sozialarbeiterin wirklich Ihr Talent
verschwenden.«
Ofers Geburtstagskarte zeigte einen Wolf in
Frauenkleidung. Er sah wie Rotkäppchen aus, lächelte aber recht
peinlich berührt. Darunter stand: >Ehrlich, es geht nicht um die
Klamotten.<
»Ich hatte etwas Sorge, die Karte könnte dich
vielleicht beleidigen«, erklärte Sam, als er mir seine
Glückwunschkarte mit dem rasierten Oberkörper eines muskulösen
Mannes übergab. Darunter stand ein geschmackloser Scherz über
ältere prüde Frauen.
»Wirklich witzig, Sam. Danke.« Ich fragte mich,
warum
man mich so häufig für prüde hielt. Aus irgendeinem Grund musste
ich an Red Mallin und unsere Begegnung auf der Institutstoilette
denken. Er hatte mich jedenfalls vollkommen anders
eingestuft.
Lilliana warf einen Blick auf Sams Karte. »Tut
mir leid, aber das ist bestimmt kein Mann für Frauen – wenn ihr
wisst, was ich meine.«
»Stimmt«, meldete sich auch Ofer zu Wort. »Echte
Männer rasieren sich nicht die Brust oder ziehen irgendwelche
Designerklamotten an.«
»Klar«, entgegnete Sam mit einer vor Sarkasmus
triefenden Stimme. »Solche Männer nennt man auch Bären. Du weißt
schon – große Holzfällertypen mit viel Pelz auf der Brust.
Besonders gern in der Schwulenszene gesehen.«
Malachy Knox reichte mir seine Karte als
Letzter. Sie war ganz schlicht und hatte eine getrocknete Wildblume
auf der Vorderseite. Innen stand: >Wir müssen dringend
miteinander sprechen.<
Ich klappte die Karte wieder zu und starrte ihn
an. Mir verkrampfte sich der Magen. Hatte er vor, mir die Stelle
als Assistenzärztin zu kündigen?
Dr. Knox stand auf, wobei er beinahe seine Akten
fallen ließ. Ich sprang auf und hob ein paar der Papiere auf, die
auf den Boden gesegelt waren.
»Danke, Ms. Barrow«, sagte er. »Könnte ich Sie
vielleicht dazu überreden, die fröhliche Runde schon etwas früher
zu verlassen?«
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen folgte ich
meinem Teamleiter bis zum Lift. Wir wechselten kein Wort
miteinander, während wir gemeinsam in den Keller hinabfuhren. Dort
hatte man Dr. Knox ein kleines Büro zugeteilt,
nachdem ihm seine Stelle in der renommierten Forschergruppe
weggenommen worden war. Seit meinem Vorstellungsgespräch im letzten
Mai hatte ich keinen Fuß mehr in sein Zimmer gesetzt.
Die Lifttüren öffneten sich. »Nach Ihnen«, sagte
Malachy Knox. Ich ließ ihn in dem Flur zu seinem Büro vorangehen.
Mir fiel auf, wie unsicher sein Gang geworden war. Weshalb wollte
er mich wohl sprechen? Würde er mir eröffnen, dass ich die Einzige
unter den Assistenzärzten war, der er genügend vertraute, um ihr
mitzuteilen, dass er das Institut verließe. Oder wollte er mir
verkünden, dass ich leider doch nicht in sein Team passte?
Wir gingen an mehreren Büros vorbei und bogen
schließlich um eine Ecke. Erst jetzt verstand ich, dass mich
Malachy Knox zu einem mir unbekannten Ort brachte. Dieser Teil des
Korridors war dunkler als der vorherige. Das düstere Neonlicht
flackerte, die Farbe blätterte an den Wänden ab, und in einer Ecke
hatte jemand ein paar zerbrochene Stühle aufeinander
gestapelt.
»Dr. Knox«, sagte ich nach einer Weile. »Wohin
bringen Sie mich?«
»Hierher.« Er blieb vor einer Tür am Ende des
langen Flurs stehen. Nachdem er mir die Akten in den Arm gedrückt
hatte, suchte er nach dem Schlüsselbund in seiner
Hosentasche.
»Ich verstehe nicht ganz, was das alles soll«,
gab ich zu. »Wollen Sie mich loswerden? Muss ich die Gruppe
verlassen, Dr. Knox?«
Malachy Knox fluchte leise vor sich hin, da
seine Hände derart stark zitterten, dass er den Schlüssel nicht ins
Schloss stecken konnte. Ich überraschte mich selbst und
legte meine Hand beruhigend auf die seine. Sie fühlte sich eiskalt
an.
»Bitte, Dr. Knox. Ich muss es wissen«, sagte
ich. »Werfen Sie mich raus?«
Er bedachte mich mit einem verständnislosen
Blick und schüttelte dann den Kopf. »Nein, ich will Sie nicht
hinauswerfen, Ms. Barrow. Ich habe Sie hierher gebracht, weil ich
Ihnen etwas zeigen möchte, wofür man mich hinauswerfen könnte, wenn
das jemand erfährt.«
»Warum wollen Sie gerade mir so etwas zeigen?«,
fragte ich verblüfft und gleichzeitig erleichtert. »Warum nicht
auch den anderen?«
»Weil keiner in so engem Kontakt mit einem
Menschen steht, der dem Lykanthropievirus ausgesetzt war.
Verdammt!«« Malachy Knox ließ die Schlüssel fallen, die scheppernd
auf dem Betonboden landeten.
Man kann nur hoffen, dass du
dir von diesem Mann nicht eines Tages irgendeine Krankheit
einfängst, Abra. Die Warnung meiner Mutter hallte auf einmal in
meinen Ohren wider, während ich mich nach unten beugte und den
Schlüsselbund aufhob. »Welcher ist es?« Meine Stimme klang
künstlich angespannt und gepresst.
»Der bronzefarbene.«
Ich sperrte die Tür zu einem kleinen, schlecht
beleuchteten Labor auf. In einem großen Käfig an der
gegenüberliegenden Wand befand sich ein Dalmatiner, in einem
anderen ein deutscher Schäferhund. Beide Hunde schienen zu
schlafen. Doch da sie durch unser Eintreffen nicht aufwachten, nahm
ich an, dass man sie eher betäubt hatte. In dem Raum stand noch ein
dritter Käfig, der jedoch leer war. Ich musste an Pia, den
Wolfshybriden, denken. In der
Mitte des Labors befand sich ein OP-Tisch mit Gurten zum
Festbinden der Tiere. Außerdem gab es noch einen kleinen
Kühlschrank, einen Bunsenbrenner, eine Schleudermaschine, mehrere
Glasfläschchen und Ampullen, ein Mikroskop sowie ein Gerät, das wie
ein Mixer aussah.
»Ich dachte, Sie hätten nichts mehr mit der
Forschung zu tun«, bemerkte ich so lässig wie möglich. In Wahrheit
zitterte ich vor Nervosität. Meine Mutter hatte durchaus Recht
gehabt, als sie mich als hypochondrisch bezeichnet hatte. Ich
musste an das seltsame Verhalten meines Mannes in den letzten
Wochen denken.
»Offiziell habe ich das auch nicht mehr.« Dr.
Knox trat zu einem alten Computer. »Aber ich konnte doch nicht
einfach meine Arbeit von Jahren wegwerfen, nur weil ein paar
inkompetente Idioten das so wollten – oder?« Er tippte etwas ein.
Auf dem Bildschirm erschien ein Bild – die Darstellung einer
menschlichen DNS, eine doppelte Spirale. »Wussten Sie, dass das
menschliche Chromosom Nummer siebzehn eine Ähnlichkeit mit dem
Chromosom Nummer dreiundzwanzig der Canidae besitzt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, eigentlich
nicht.« Ich wusste natürlich, dass wir alle Säugetiere waren und
einen gemeinsamen Vorfahren besaßen, wenn man weit genug
zurückging. Aber ich hatte mich bisher nie näher mit genetischen
Fragen auseinandergesetzt.
Malachy drückte auf eine Taste, und ein Teil des
DNS-Strangs löste sich, drehte sich um die eigene Achse und wurde
dann wieder an anderer Stelle eingesetzt. »Das weist daraufhin,
dass es irgendwann einmal eine Mutation gegeben haben muss.
Vermutlich eine Umkehrung.«
Hinter mir begann der Dalmatiner zu knurren.
Offenbar
versuchte er, die Wirkung des Sedativs abzuschütteln. »Dr. Knox«,
murmelte ich, um ihn auf das benommene Tier aufmerksam zu
machen.
»Warten Sie. Sehen Sie sich erst einmal an, was
passiert, wenn man weitere Gene versetzt.« Der DNS-Strang auf dem
Bildschirm begann sich zu bewegen und neu zusammenzusetzen. »Hier
ist sie – die DNS-Sequenz für Canidae.«
»Das geschieht ja auf der genetischen Ebene«,
sagte ich, als mir klarwurde, was er meinte.
»Ganz genau«, erwiderte Malachy Knox. »Ich habe
schon lange vermutet, dass der Lykanthropievirus alle Zellen
betrifft und es durch eine Ansteckung sogar zu einer Veränderung
der nuklearen DNS kommen könnte, wodurch sich eine Zelle wie eine
andere Art verhielte. Doch erst vor kurzem habe ich begriffen, dass
sich diese Veränderung in der mitochondrialen DNS abspielt.«
Ich sah Dr. Knox an. Auf einmal fragte ich mich,
ob seine Krankheit wohl auch seine Fähigkeit zu denken
beeinträchtigte. »Wenn Sie mir damit sagen wollen, dass mein Mann
mit diesem Virus infiziert ist, hätte ich gerne gewusst, was das
bedeutet.« Vor meinem inneren Auge liefen alle Werwolf-Filme ab,
die ich jemals gesehen hatte, bis ich nur noch ein Bild vor mir
sah: Hunter in der Rolle von Jack Nicholson.
Malachy Knox zog die Augenbrauen hoch. »Meine
liebe Ms. Barrow, genau das versuche ich gerade herauszufinden.
Keiner weiß genau, wie sich mitochondriale und nukleare DNS
zueinander verhalten. Eines ist aber klar: Das Ganze ist höchst
komplex. Bisher kann ich nur mit Sicherheit sagen, dass es einen
genetischen und einen umweltspezifischen Faktor gibt. Ich glaube
auf jeden Fall, dass es sinnvoll wäre, wenn mich Ihr Mann bald
besuchen würde.«
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Hunter von
einem solchen Vorschlag angetan wäre. »Ich glaube kaum...«, begann
ich, wurde jedoch von einem lauten Klagelaut aus dem Käfig des
Dalmatiners unterbrochen.
»Verdammt. Ich muss mich um ihn kümmern. Was ich
brauche, ist allerdings ein reinrassiger Wolf.« Dr. Knox ließ sich
mühsam vor dem Käfig auf die Knie nieder, um ihn zu öffnen. Ehe ich
etwas tun konnte, stürzte der Hund zähnefletschend heraus und
wollte den Veterinär am Hals packen. Ich versuchte die Hinterläufe
des Tieres zu erwischen, um ihn zum Stürzen zu bringen, doch ich
war nicht schnell genug. Blut floss bereits. Malachy Knox hielt
sich schützend die Hände vors Gesicht, um den wild gewordenen Hund
davon abzuhalten, ihn erneut zu beißen.
»Telazol!«, brüllte er. »Im Kühlschrank!«« Ich
riss die kleine Kühlschranktür auf, holte eine fertige Spritze
heraus und rammte sie dem Dalmatiner in die Flanke. Er drehte den
Kopf nach rechts zu mir und ließ so von Knox ab. Knurrend fletschte
er die Zähne, bereit, sich auf ein neues Opfer zu stürzen.
»Gütiger Himmel«, murmelte ich entsetzt. Es war
eindeutig: Das Sedativum wirkte nicht.
Dann stürzte sich der Hund auf mich. Seine
Vorderpfoten drückten sich fest in meine Schultern. Ich schloss
verängstigt die Augen. Plötzlich hörte ich ein lautes Knacken.
Entsetzt stieß ich einen Schrei aus, während das Tier mit seinem
vollen Gewicht auf mich fiel und mich zu Boden riss. Als ich die
Augen wieder öffnete, stand Knox über mich gebeugt. Eine
verwirrende Sekunde lang sah er nicht mehr wie er selbst aus. Seine
Augen glühten seltsam blaugrün, er wirkte größer, wilder und
stärker als zuvor. Seine
Arme schienen auf einmal grotesk dürr zu sein, als er sie
ausstreckte, um dem Dalmatiner das Genick zu brechen.
Das ist unmöglich, dachte ich verwirrt, ehe ich
in Ohnmacht sank.
»Mein Gott«, sagte jemand.
»Wurde sie verletzt?«
Ich stellte mir insgeheim dieselbe Frage,
während ich langsam zu mir kam, die Augen aufmachte und
feststellte, dass Lilliana, Ofer und Sam um mich herumstanden. Es
fühlte sich ziemlich beunruhigend an, das Opfer eines
Medizinerdramas geworden zu sein. Wenn man sich Krankenhausserien
im Fernsehen ansah, identifizierte man sich meist mit den Ärzten
und Krankenschwestern, also mit denjenigen, die aufrecht da
standen, ihre Kleidung meist anließen und vor allem keine
Verletzungen aufwiesen.
»Okay – wenn mir jetzt jemand helfen könnte, den
Kerl beiseite zu schaffen und eine IV zu machen.« Ofer übernahm die
Führung.
Lilliana kniete sich neben mir hin und strich
mir über die Haare. »Abra, wie geht es dir?«
Ich versuchte mit den Achseln zu zucken, während
Ofer gemeinsam mit einem anderen Assistenzarzt den toten Hund von
meiner Brust hob.
Auch Malachy Knox kniete sich neben mich. »Es
tut mir leid«, murmelte er mit einer derart leisen Stimme, dass ich
Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Hat er Sie gebissen? Hat er Sie
irgendwo verletzt?«
Ich blickte zu ihm auf, denn ich erinnerte mich
an den eigentümlichen Anblick, den er geboten hatte, ehe ich das
Bewusstsein verlor. Wahrscheinlich war es nur eine Folge
des Schocks, dachte ich. Oder führte Malachy Knox vielleicht an
sich selbst Versuche durch?
»Ihr Mantel ist zerrissen«, brachte ich mühsam
heraus, als ich bemerkte, dass sein Laborkittel zerfetzt war. Er
sah fast so aus, als ob er ihn in einem Wirbelsturm getragen
hätte.
»Das ist jetzt völlig unwichtig, Ms. Barrow.
Zeigen Sie mir lieber, wo er Sie verletzt hat«, erwiderte Knox.
Erst jetzt merkte ich, dass ich seine Frage gar nicht beantwortet
hatte.
Ich blickte ihm fest in die Augen. »Er hat mich
nicht gebissen.«
Dr. Knox wirkte derart erleichtert, dass er für
einen Augenblick fast wieder jugendlich aussah. Damals musste er
ein weicheres, gefühlvolleres Gesicht gehabt haben. Hatte er wohl
jemals Liebe erfahren? Oder war die Wissenschaft stets die einzige
Leidenschaft gewesen, die ihn bewegte? Vielleicht war dieses
geheime Labor im Keller der Ort, an dem am deutlichsten sein wahres
Selbst zum Vorschein kam. Dann wurde mir bewusst, dass er das
restliche Team gerufen hatte, um mir zu helfen. Und das bedeutete
natürlich, dass dieser Ort nicht mehr geheim war.
Den restlichen Tag über kamen immer wieder Leute
zu mir und rissen irgendwelche schlechten Dalmatiner-Witze.
Möchtest du einen Pelzmantel, Abra? Sag es nur, ich kann dir einen
besorgen...
Ich versuchte nicht an die umgedrehte Wolfskarte
zu denken, die meine Mutter für mich gelegt hatte. Zählte auch der
Angriff eines Dalmatiners als Gefahr? War das der Streich, den mir
das Universum angeblich in Gestalt eines Kojoten spielen wollte?
Das war das Problem beim Kartenlegen
: Die Karten konnten alles und zugleich auch nichts bedeuten.
Ich begegnete Sam auf dem Gang. »Alles in
Ordnung? Du siehst hoffentlich keine Punkte mehr vor den Augen?«
Ich lachte gequält. Wir taten alle so, als wäre alles wie immer.
Doch hinter der Fassade aus Normalität bröckelte es. Jeder aus
unserem Team machte sich Sorgen um seine Zukunft. Am Abend wurde es
dann zur Gewissheit: Malachy Knox war entlassen worden und gehörte
nicht länger dem tiermedizinischen Institut von New York an.
Wir hatten ihn nicht mehr gesehen, seitdem die
Rettungssanitäter gemeinsam mit Mr. Simcox, dem ausgezehrten Leiter
der Institutsverwaltung, in sein Labor im Keller gekommen waren. Es
gelang uns, die Sanitäter davon zu überzeugen, dass ich nicht in
die Notfallstation gebracht werden musste. Dann rief Mr. Simcox
zwei Sicherheitsleute, die Malachy Knox wegführen sollten.
Etwas an seiner Miene ließ mich vermuten, dass
er es geschafft hatte, einige wichtige Dokumente in seine
Aktentasche zu schieben, ehe Mr. Simcox aufgetaucht war.
»Euch wird nichts passieren«, beruhigte er uns,
während er seinen zerfetzten Mantel auszog und sein Tweedjackett
von einem Haken hinter der Tür nahm. Seine knochigen Arme ragten
aus den abgestoßenen Hemdstulpen hervor, als wären die Ärmel
geschrumpft oder die Arme gewachsen.
Als ihn die Wachleute aus dem Labor begleiteten,
drehte er sich noch einmal zu uns um. »Sie werden euch alle anderen
Teams zuweisen.«
»Aber Dr. Knox«, rief Sam. »Was wird mit Ihnen
geschehen?«
Malachy Knox überraschte uns alle, als er breit
grinste. »Ehrlich gesagt, mein Junge, ich habe keine Ahnung.«
Und mit diesen Worten verließ er uns. Er pfiff
leise vor sich hin, als er beschwingten Schrittes den Gang entlang
davonging.