37
Für einer unendlich langen Augenblick hoffte ich entgegen aller Vernunft, dass Hunter nur dabei war, ein spätes Abendessen oder ein sehr kräftiges Frühstück zu kochen. Da stand mein Mann – zwar mit einem wilden Bart im Gesicht, aber auch mit einem eleganten burgunderroten Hemd und einer schwarzen Jeans angetan – und schnitt Fleisch auf einem Brett, während auf dem Gasherd hinter ihm etwas in einem Topf leise vor sich hinköchelte.
»Hunter.« Meine Stimme klang hysterisch. Er lächelte kalt.
»Du hast aber lange gebraucht.« Er ging erstaunlich geschickt und schnell mit dem Messer um, wenn man bedachte, dass er nur selten kochte. Zuerst hielt ich das, was er da zerschnitt, für Hühnerfleisch. Doch dann sah ich es mir genauer an. Vielleicht war es auch Kaninchen. Oder Katze.
»Was tust du da, Hunter?« Ich wusste nicht so recht, wie ich mich verhalten sollte.
Ein erneuter Schrei ließ mich zusammenzucken und nach hinten in den Gang blicken. Hunter hob gelassen das schwere französische Messer und durchschnitt einen Knöchel, der vor ihm auf dem Brett lag.
»Was war das?«
Als er aufblickte, zeigten seine Augen das hässlichste Gelb, das ich jemals gesehen hatte. »Das war ein Schrei. Und was ich hier mache? Das ist doch ziemlich eindeutig. Oder findest du nicht? Ich richte mich hier häuslich ein. Das hier hätte schon immer mein Zuhause sein sollen. Und jetzt ist es das auch endlich.«
Inzwischen hatte ich genügend Zeit gehabt, um das getigerte Fell zu bemerken, das von dem Kadaver abgezogen worden war. Und das Blut, das in das alte Holzbrett eindrang. »Du widerliches Arschloch«, zischte ich atemlos vor Wut. »Warum tust du das?«
Er hieb mit dem Messer auf ein weiteres Gelenk ein. »Weil du mir etwas schuldest.«
»Ich schulde dir etwas?«
Hunters Lippen verzogen sich zu einem boshaften Grinsen. »Genau, Abra. Du schuldest mir etwas. Die ganzen Jahre über hat mein Vater deine verdammte Ausbildung bezahlt, während deine Mutter ihr Geld für diese widerwärtigen kranken Katzen verschleudern musste. Du schuldest mir also ziemlich viel, würde ich sagen, wenn man alles so zusammenrechnet. Aber nicht nur das. Du schuldest mir auch etwas dafür, dass du mich jahrelang in diesem dumpfen Leben festgehalten und dich geweigert hast, eine Änderung unserer Lebensumstände auch nur in Betracht zu ziehen, obwohl gerade dies für meine Karriere und mich sehr wichtig gewesen wäre. Auch dafür schuldest du mir etwas. Und zwar nicht zu knapp, Liebling.«
Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Welche Änderung meinte er? Meinte er damit seinen Wunsch, sich in einen Wolf zu verwandeln? Und was hatte Hunter jemals von mir gefordert, was ich ihm verweigert hatte?
»Hunter«, sagte ich so ruhig wie möglich. »Ich verstehe überhaupt nichts. Was willst du damit sagen? Wirfst du mir etwa vor, dass ich meine Mutter nie um Geld für uns gebeten hätte – oder was?«
Hunter kam um den Tisch herum auf mich zu. Jetzt befand sich nichts mehr zwischen uns. Es gab nur noch ihn, mich und das riesige Messer in seiner Hand. »Du solltest auch deinen Vater nicht vergessen, Liebling. Bist du jemals auf die Idee gekommen, ihn zu fragen, ob er mir vielleicht mit seinen Kontakten beruflich weiterhelfen könnte? Hast du irgendetwas unternommen, um mir zu helfen? Damit ich richtig Karriere machen kann?«
»Mein Vater hat dich nie gemocht. Und meine Mutter sowieso nicht. Was sollte ich denn tun, Hunter...«
Sein Messer flog an meiner Wange vorbei und bohrte sich neben meinem Kopf in die Wand hinter mir. Hunter trat noch einen Schritt näher. Er stützte die Arme so an der Wand ab, dass ich dazwischen gefangen war. Dann kam er so nahe, dass er mich anspuckte, als er weiterredete.
»Vielleicht hast du mich nicht genügend vor ihnen verteidigt. Vielleicht hat es dir ja ganz gut in den Kram gepasst, dass Mami und Papi auf der einen Seite standen und ich auf der anderen. Oder vielleicht hast du auch nie an jemand anderen als an dich selbst gedacht.«
Diesmal brach der erneute Schrei plötzlich ab. Ich riss das Knie hoch und traf Hunter mit voller Wucht zwischen den Beinen. Als er sich vor Schmerz wand, duckte ich mich unter seinem Arm hindurch und rannte aus der Küche.
Im Foyer stürzte ich die Treppe hinauf, wobei ich drei Stufen auf einmal nahm. Für einen Moment verlor ich fast das Gleichgewicht, fing mich aber gerade noch rechtzeitig und stieß dann die Tür zum Schlafzimmer meiner Mutter so heftig auf, dass der Knauf laut gegen die gegenüberliegende Wand knallte.
»Mom!«
Es war nicht meine Mutter, es war Magda. Sie saß vor der Spiegelkommode und trug ein hinten offenes, lilafarbenes Bob-Mackie-Paillerrenkleid, das meine Mutter in den achtziger Jahren oft angehabt hatte. Ihre kurzgeschnittenen dunklen Haare mit der weißen Strähne passten eigentümlich gut zu dem auffälligen Kleid. Sie sah wie eine böse Hexe aus einem Disney-Film aus, bereit für ihren großen Auftritt.
»Oh, hallo, Abra. Gut, dass du kommst. Ich brauche jemanden, der mir den Reißverschluss zumacht.« Magda drehte sich zu mir und lächelte. In einem Winkel ihres schönen Mundes war der Lippenstift verschmiert. Beim näheren Hinsehen stellte ich fest, dass es nicht Lippenstift war. Es war Blut. Das hat sie alles für mich inszeniert, dachte ich. Das ist ihr großer Auftritt, sie ist der Star.
»Wo ist meine Mutter?« Ich zitterte, als ich sie so in den Sachen meiner Mutter sah.
»Meinst du diese schwerfällige Blondine? Die ist deine Mutter? Tut mir leid, aber dein Freund ist gerade dabei, sie zu verspeisen.« Magda zeigte auf das Bett hinter ihr, wo ein Haufen Kleidungsstücke lag. Als ich genauer hinschaute, entdeckte ich eines der alten Filmkostüme meiner Mutter, das blutdurchtränkt war.
»Wo ist sie?«
»Manche Männer verlieren einfach die Kontrolle, wenn sie sich verwandeln. Ist dir das noch nicht aufgefallen? Oder bist du so naiv, dass du das alles für ein vergnügliches Ficken gehalten hast?«
Sie stand auf und trat zu mir. Ihr Atem roch nach rohem Fleisch. Ich ließ mich auf das Bett fallen. Tränen stiegen mir in die Augen, ich rang nach Luft.
»Hunter ist jetzt ziemlich wütend auf dich, was?«, fuhr Magda fort. »Der Wolf in ihm ist erst nach und nach erwacht. Aber weißt du was? Tief in seinem Inneren, wo Leidenschaft und Instinkte herrschen, da hat er dich schon seit langem verachtet und gehasst.«
Ich atmete so heftig, dass ich mich beinahe verschluckte. Doch trotz meiner Panik und dem Schock meldete sich meine nüchterne kleine Nonnenseite zu Wort, die auch jetzt noch in der Lage war, praktisch und klar zu denken. Sie macht das alles absichtlich, dachte die Nonne. Das ist nur ein Theater, das für dich aufgeführt wird.
Ich sah Magda durch einen Schleier aus Tränen und wahnsinnigem Hass an. »Beantworte endlich meine Frage. Wo ist meine Mutter?«
»Keine Ahnung, wohin sie dein Kojote geschleppt hat. Am besten folgst du der Blutspur. Oder funktioniert dein Geruchssinn noch nicht so gut?«
Sie trat wieder an den Spiegel und betrachtete bewundernd den Stoff, der ihre Brüste umspielte. »Glaubst du, ich darf das behalten? Was meinst du? In Rumänien gibt es nicht viele Gelegenheiten, sich herzurichten. Aber ich könnte mir gut vorstellen, dass dein Mann und ich jetzt öfter weggehen, solange wir hier sind.«
Ich sah sie an und verspürte einen solchen Zorn in mir, dass meine Wolfssinne endlich zum Leben erwachten. Jetzt konnte ich den Geruch ihrer Erregung wahrnehmen. Sie legte es darauf an, dass ich sie angriff. Sie wollte mich ein für alle Mal ausschalten.
Aber ich konnte nun auch die Blutspur meiner Mutter riechen. Meine geschärften Sinne nahmen sie auf dem dunklen Holzboden wahr. Ich musste meine verletzte Mutter finden, musste den Spuren an den Wänden und den Dielen folgen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren sprang ich auf und verließ eilig das Zimmer.
Ich entdeckte meine Mutter in meinem alten Kinderzimmer. Sie lag nackt auf dem Bett. Ihre Haut sah viel zu bleich aus. Jemand hatte ihr rechtes Handgelenk notdürftig verbunden, sie selbst presste sich die Hand gegen die Brust.
Red kauerte in einer Ecke, die so weit wie möglich von meiner Mutter entfernt war. Er trug ihr weites Paisley-Kleid und ein Tuch, das er sich um die Stirn gewickelt hatte. Sonst hatte er nichts an.
»Mom! Red! Mein Gott, was ist...« Ich vermochte kaum weiterzusprechen.
»Abra.« Die Stimme meiner Mutter klang so schwach, dass sie kaum wiederzuerkennen war. »Er hat es versucht. Er hat versucht, mir zu helfen.«
Ich wandte mich an Red. »Sie steht unter Schock. Ich muss sie sofort hier wegbringen. Hilf mir.«
Red schüttelte den Kopf, als würde er eine Fliege verscheuchen. »Doc, sie hat mir meine Kleidung weggenommen. Das ganze Haus stinkt nach Blut, und ich habe mich heute Nacht bereits zweimal verwandelt.«
»Aber du hast mir doch gesagt, dass du ein Metamorph bist. Das heißt, du kannst deine Verwandlungen kontrollieren. Ich brauche dich, Red.«
»Er kann dir nicht helfen.«
Ich drehte mich zu meiner Mutter um. Zum ersten Mal in meinem Leben wusste ich, dass sie weder übertrieb noch wie sonst üblich die Hysterische markierte. Besorgt legte ich den Finger auf ihren sehr schwachen Puls. »Wie meinst du das, Mom?«, fragte ich.
»Er ist weder mein Geliebter noch mein Verwandter. Im Augenblick stelle ich für ihn nur Frischfleisch dar. Wenn er aufsteht, wirst du gegen ihn kämpfen müssen, damit er mich nicht umbringt.«
Ich sah Red an, der bleich und zittrig wie ein Junkie wirkte. »Stimmt das?«
Er lächelte schwach, und für einen Moment blitzte fast sein typisch reumütiges Grinsen auf. »Deine Mutter hat sich gut auf ihre Rollen vorbereitet. Sie weiß einiges über Wölfe und Männer.«
»Aber du hast doch behauptet, du wärst ein Gestaltwandler und dass der Mond keinen Einfluss auf dich hätte. Ich verstehe das nicht!«
Meine Mutter hob langsam ihre unverletzte Hand. Es war deutlich, wie sehr sie allein diese Bewegung anstrengte. »Meine Tochter«, sagte sie matt, »glaubt nicht an halbe Wahrheiten.«
Red lachte laut auf. Es war ein heiseres Lachen, das sich in einen trockenen Husten verwandelte. »Sie haben mir meine Kleider abgenommen und mich am Blut deiner Mutter lecken lassen, Doc. Dann haben sie uns hier zusammen eingesperrt. Ich kann mich eine Weile recht gut beherrschen, aber vollkommen bin ich nicht. Verdammt«, sagte er und schüttelte sich. »Es ist ganz schön heiß hier.«
Voller Entsetzen beobachtete ich, wie er begann, sich das Kleid von den Schultern zu ziehen. »Lass das an! Hörst du mich, Red? Hör auf!«
»Ich verbrenne.«
»Red, zieh das nicht aus! Sonst verwandelst du dich.« Ich riss die Tür meines Kinderschranks auf und wühlte darin herum. Zuerst durchsuchte ich eine Tasche mit altem Spielzeug, schleuderte dann ein Poster von Duran Duran beiseite und schließlich ein Paar hochhackige Stiefel, die ich nie getragen hatte.
»Abra«, presste meine Mutter mühsam heraus und versuchte zu lächeln. »Jetzt ist wirklich nicht die passende Zeit, deinen Schrank aufzuräumen.«
»Mein Gott, Mom! Was denkst du von mir?« Endlich war ich bis zu meinem kleinen Tresor vorgestoßen und gab die Zahlenkombination ein. »Ich suche nur nach dem Telazol, das ich hier versteckt habe.« Mit zitternden Fingern begann ich das starke Sedativum zusammenzumischen.
»Das ist doch wieder typisch. Wenn du nicht eine solche dämliche Drogenphobie hättest, müsstest du jetzt auch nicht so viel Zeit damit verschwenden, das Medikament zusammenzumischen... Abra, dein Freund ist schon wieder dabei, seine Kleidung auszuziehen.«
»Red, bitte!« Ich drehte mich zu ihm um, wobei ich mit einer Hand die Sedativmischung schüttelte und gleichzeitig versuchte, mit meinen Zähnen die Kappe von einer Injektionsnadel zu zerren.
»Keine Angst. Jetzt geht es mir besser.« Halbnackt und haariger, als ich ihn in Erinnerung hatte, saß Red da und hechelte wie ein Hund. »Ich konnte schon einen Moment lang gar nicht mehr atmen. Weißt du was? Ich öffne einfach das Fenster einen Spalt breit.«
»Nein!«, rief meine Mutter. »Abra, du musst ihn davon abhalten!«
Doch es war schon zu spät. Mir blieb kaum Zeit, die kalte Morgenluft einzuatmen, als ich den zunehmenden Mond am heller werdenden Himmel sah. Verdammt – Mondlicht! Ich drehte mich zu meiner Mutter um und wollte ihr etwas zurufen, doch die Worte blieben mir im Halse stecken.
Red stürzte sich bereits auf sie. Und seine Gestalt war nicht mehr die eines Menschen.
Wolfstraeume Roman
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