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Für einer unendlich
langen Augenblick hoffte ich entgegen aller Vernunft, dass Hunter
nur dabei war, ein spätes Abendessen oder ein sehr kräftiges
Frühstück zu kochen. Da stand mein Mann – zwar mit einem wilden
Bart im Gesicht, aber auch mit einem eleganten burgunderroten Hemd
und einer schwarzen Jeans angetan – und schnitt Fleisch auf einem
Brett, während auf dem Gasherd hinter ihm etwas in einem Topf leise
vor sich hinköchelte.
»Hunter.« Meine Stimme klang hysterisch. Er
lächelte kalt.
»Du hast aber lange gebraucht.« Er ging
erstaunlich geschickt und schnell mit dem Messer um, wenn man
bedachte, dass er nur selten kochte. Zuerst hielt ich das, was er
da zerschnitt, für Hühnerfleisch. Doch dann sah ich es mir genauer
an. Vielleicht war es auch Kaninchen. Oder Katze.
»Was tust du da, Hunter?« Ich wusste nicht so
recht, wie ich mich verhalten sollte.
Ein erneuter Schrei ließ mich zusammenzucken und
nach hinten in den Gang blicken. Hunter hob gelassen das schwere
französische Messer und durchschnitt einen Knöchel, der vor ihm auf
dem Brett lag.
»Was war das?«
Als er aufblickte, zeigten seine Augen das
hässlichste Gelb, das ich jemals gesehen hatte. »Das war ein
Schrei. Und was ich hier mache? Das ist doch ziemlich eindeutig.
Oder findest du nicht? Ich richte mich hier häuslich ein. Das hier
hätte schon immer mein Zuhause sein sollen. Und jetzt ist es das
auch endlich.«
Inzwischen hatte ich genügend Zeit gehabt, um
das getigerte Fell zu bemerken, das von dem Kadaver abgezogen
worden war. Und das Blut, das in das alte Holzbrett eindrang. »Du
widerliches Arschloch«, zischte ich atemlos vor Wut. »Warum tust du
das?«
Er hieb mit dem Messer auf ein weiteres Gelenk
ein. »Weil du mir etwas schuldest.«
»Ich schulde dir etwas?«
Hunters Lippen verzogen sich zu einem boshaften
Grinsen. »Genau, Abra. Du schuldest mir etwas. Die ganzen Jahre
über hat mein Vater deine verdammte Ausbildung bezahlt, während
deine Mutter ihr Geld für diese widerwärtigen kranken Katzen
verschleudern musste. Du schuldest mir also ziemlich viel, würde
ich sagen, wenn man alles so zusammenrechnet. Aber nicht nur das.
Du schuldest mir auch etwas dafür, dass du mich jahrelang in diesem
dumpfen Leben festgehalten und dich geweigert hast, eine Änderung
unserer Lebensumstände auch nur in Betracht zu ziehen, obwohl
gerade dies für meine Karriere und mich sehr wichtig gewesen wäre.
Auch dafür schuldest du mir etwas. Und zwar nicht zu knapp,
Liebling.«
Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Welche
Änderung meinte er? Meinte er damit seinen Wunsch, sich in einen
Wolf zu verwandeln? Und was hatte Hunter jemals von mir gefordert,
was ich ihm verweigert hatte?
»Hunter«, sagte ich so ruhig wie möglich. »Ich
verstehe überhaupt nichts. Was willst du damit sagen? Wirfst du mir
etwa vor, dass ich meine Mutter nie um Geld für uns gebeten hätte –
oder was?«
Hunter kam um den Tisch herum auf mich zu. Jetzt
befand sich nichts mehr zwischen uns. Es gab nur noch ihn, mich und
das riesige Messer in seiner Hand. »Du solltest auch deinen Vater
nicht vergessen, Liebling. Bist du jemals auf die Idee gekommen,
ihn zu fragen, ob er mir vielleicht mit seinen Kontakten beruflich
weiterhelfen könnte? Hast du irgendetwas unternommen, um mir zu
helfen? Damit ich richtig Karriere machen kann?«
»Mein Vater hat dich nie gemocht. Und meine
Mutter sowieso nicht. Was sollte ich denn tun, Hunter...«
Sein Messer flog an meiner Wange vorbei und
bohrte sich neben meinem Kopf in die Wand hinter mir. Hunter trat
noch einen Schritt näher. Er stützte die Arme so an der Wand ab,
dass ich dazwischen gefangen war. Dann kam er so nahe, dass er mich
anspuckte, als er weiterredete.
»Vielleicht hast du mich nicht genügend vor
ihnen verteidigt. Vielleicht hat es dir ja ganz gut in den Kram
gepasst, dass Mami und Papi auf der einen Seite standen und ich auf
der anderen. Oder vielleicht hast du auch nie an jemand anderen als
an dich selbst gedacht.«
Diesmal brach der erneute Schrei plötzlich ab.
Ich riss das Knie hoch und traf Hunter mit voller Wucht zwischen
den Beinen. Als er sich vor Schmerz wand, duckte ich mich unter
seinem Arm hindurch und rannte aus der Küche.
Im Foyer stürzte ich die Treppe hinauf, wobei
ich drei Stufen auf einmal nahm. Für einen Moment verlor ich fast
das Gleichgewicht, fing mich aber gerade noch rechtzeitig
und stieß dann die Tür zum Schlafzimmer meiner Mutter so heftig
auf, dass der Knauf laut gegen die gegenüberliegende Wand
knallte.
»Mom!«
Es war nicht meine Mutter, es war Magda. Sie saß
vor der Spiegelkommode und trug ein hinten offenes, lilafarbenes
Bob-Mackie-Paillerrenkleid, das meine Mutter in den achtziger
Jahren oft angehabt hatte. Ihre kurzgeschnittenen dunklen Haare mit
der weißen Strähne passten eigentümlich gut zu dem auffälligen
Kleid. Sie sah wie eine böse Hexe aus einem Disney-Film aus, bereit
für ihren großen Auftritt.
»Oh, hallo, Abra. Gut, dass du kommst. Ich
brauche jemanden, der mir den Reißverschluss zumacht.« Magda drehte
sich zu mir und lächelte. In einem Winkel ihres schönen Mundes war
der Lippenstift verschmiert. Beim näheren Hinsehen stellte ich
fest, dass es nicht Lippenstift war. Es war Blut. Das hat sie alles
für mich inszeniert, dachte ich. Das ist ihr großer Auftritt, sie
ist der Star.
»Wo ist meine Mutter?« Ich zitterte, als ich sie
so in den Sachen meiner Mutter sah.
»Meinst du diese schwerfällige Blondine? Die ist
deine Mutter? Tut mir leid, aber dein Freund ist gerade dabei, sie
zu verspeisen.« Magda zeigte auf das Bett hinter ihr, wo ein Haufen
Kleidungsstücke lag. Als ich genauer hinschaute, entdeckte ich
eines der alten Filmkostüme meiner Mutter, das blutdurchtränkt
war.
»Wo ist sie?«
»Manche Männer verlieren einfach die Kontrolle,
wenn sie sich verwandeln. Ist dir das noch nicht aufgefallen? Oder
bist du so naiv, dass du das alles für ein vergnügliches Ficken
gehalten hast?«
Sie stand auf und trat zu mir. Ihr Atem roch
nach rohem Fleisch. Ich ließ mich auf das Bett fallen. Tränen
stiegen mir in die Augen, ich rang nach Luft.
»Hunter ist jetzt ziemlich wütend auf dich,
was?«, fuhr Magda fort. »Der Wolf in ihm ist erst nach und nach
erwacht. Aber weißt du was? Tief in seinem Inneren, wo Leidenschaft
und Instinkte herrschen, da hat er dich schon seit langem verachtet
und gehasst.«
Ich atmete so heftig, dass ich mich beinahe
verschluckte. Doch trotz meiner Panik und dem Schock meldete sich
meine nüchterne kleine Nonnenseite zu Wort, die auch jetzt noch in
der Lage war, praktisch und klar zu denken. Sie macht das alles
absichtlich, dachte die Nonne. Das ist nur ein Theater, das für
dich aufgeführt wird.
Ich sah Magda durch einen Schleier aus Tränen
und wahnsinnigem Hass an. »Beantworte endlich meine Frage. Wo ist
meine Mutter?«
»Keine Ahnung, wohin sie dein Kojote geschleppt
hat. Am besten folgst du der Blutspur. Oder funktioniert dein
Geruchssinn noch nicht so gut?«
Sie trat wieder an den Spiegel und betrachtete
bewundernd den Stoff, der ihre Brüste umspielte. »Glaubst du, ich
darf das behalten? Was meinst du? In Rumänien gibt es nicht viele
Gelegenheiten, sich herzurichten. Aber ich könnte mir gut
vorstellen, dass dein Mann und ich jetzt öfter weggehen, solange
wir hier sind.«
Ich sah sie an und verspürte einen solchen Zorn
in mir, dass meine Wolfssinne endlich zum Leben erwachten. Jetzt
konnte ich den Geruch ihrer Erregung wahrnehmen. Sie legte es
darauf an, dass ich sie angriff. Sie wollte mich ein für alle Mal
ausschalten.
Aber ich konnte nun auch die Blutspur meiner
Mutter riechen. Meine geschärften Sinne nahmen sie auf dem dunklen
Holzboden wahr. Ich musste meine verletzte Mutter finden, musste
den Spuren an den Wänden und den Dielen folgen. Ohne ein weiteres
Wort zu verlieren sprang ich auf und verließ eilig das
Zimmer.
Ich entdeckte meine Mutter in meinem alten
Kinderzimmer. Sie lag nackt auf dem Bett. Ihre Haut sah viel zu
bleich aus. Jemand hatte ihr rechtes Handgelenk notdürftig
verbunden, sie selbst presste sich die Hand gegen die Brust.
Red kauerte in einer Ecke, die so weit wie
möglich von meiner Mutter entfernt war. Er trug ihr weites
Paisley-Kleid und ein Tuch, das er sich um die Stirn gewickelt
hatte. Sonst hatte er nichts an.
»Mom! Red! Mein Gott, was ist...« Ich vermochte
kaum weiterzusprechen.
»Abra.« Die Stimme meiner Mutter klang so
schwach, dass sie kaum wiederzuerkennen war. »Er hat es versucht.
Er hat versucht, mir zu helfen.«
Ich wandte mich an Red. »Sie steht unter Schock.
Ich muss sie sofort hier wegbringen. Hilf mir.«
Red schüttelte den Kopf, als würde er eine
Fliege verscheuchen. »Doc, sie hat mir meine Kleidung weggenommen.
Das ganze Haus stinkt nach Blut, und ich habe mich heute Nacht
bereits zweimal verwandelt.«
»Aber du hast mir doch gesagt, dass du ein
Metamorph bist. Das heißt, du kannst deine Verwandlungen
kontrollieren. Ich brauche dich, Red.«
»Er kann dir nicht helfen.«
Ich drehte mich zu meiner Mutter um. Zum ersten
Mal in meinem Leben wusste ich, dass sie weder übertrieb noch
wie sonst üblich die Hysterische markierte. Besorgt legte ich den
Finger auf ihren sehr schwachen Puls. »Wie meinst du das, Mom?«,
fragte ich.
»Er ist weder mein Geliebter noch mein
Verwandter. Im Augenblick stelle ich für ihn nur Frischfleisch dar.
Wenn er aufsteht, wirst du gegen ihn kämpfen müssen, damit er mich
nicht umbringt.«
Ich sah Red an, der bleich und zittrig wie ein
Junkie wirkte. »Stimmt das?«
Er lächelte schwach, und für einen Moment
blitzte fast sein typisch reumütiges Grinsen auf. »Deine Mutter hat
sich gut auf ihre Rollen vorbereitet. Sie weiß einiges über Wölfe
und Männer.«
»Aber du hast doch behauptet, du wärst ein
Gestaltwandler und dass der Mond keinen Einfluss auf dich hätte.
Ich verstehe das nicht!«
Meine Mutter hob langsam ihre unverletzte Hand.
Es war deutlich, wie sehr sie allein diese Bewegung anstrengte.
»Meine Tochter«, sagte sie matt, »glaubt nicht an halbe
Wahrheiten.«
Red lachte laut auf. Es war ein heiseres Lachen,
das sich in einen trockenen Husten verwandelte. »Sie haben mir
meine Kleider abgenommen und mich am Blut deiner Mutter lecken
lassen, Doc. Dann haben sie uns hier zusammen eingesperrt. Ich kann
mich eine Weile recht gut beherrschen, aber vollkommen bin ich
nicht. Verdammt«, sagte er und schüttelte sich. »Es ist ganz schön
heiß hier.«
Voller Entsetzen beobachtete ich, wie er begann,
sich das Kleid von den Schultern zu ziehen. »Lass das an! Hörst du
mich, Red? Hör auf!«
»Ich verbrenne.«
»Red, zieh das nicht aus! Sonst verwandelst du
dich.« Ich riss die Tür meines Kinderschranks auf und wühlte darin
herum. Zuerst durchsuchte ich eine Tasche mit altem Spielzeug,
schleuderte dann ein Poster von Duran Duran beiseite und
schließlich ein Paar hochhackige Stiefel, die ich nie getragen
hatte.
»Abra«, presste meine Mutter mühsam heraus und
versuchte zu lächeln. »Jetzt ist wirklich nicht die passende Zeit,
deinen Schrank aufzuräumen.«
»Mein Gott, Mom! Was denkst du von mir?« Endlich
war ich bis zu meinem kleinen Tresor vorgestoßen und gab die
Zahlenkombination ein. »Ich suche nur nach dem Telazol, das ich
hier versteckt habe.« Mit zitternden Fingern begann ich das starke
Sedativum zusammenzumischen.
»Das ist doch wieder typisch. Wenn du nicht eine
solche dämliche Drogenphobie hättest, müsstest du jetzt auch nicht
so viel Zeit damit verschwenden, das Medikament
zusammenzumischen... Abra, dein Freund ist schon wieder dabei,
seine Kleidung auszuziehen.«
»Red, bitte!« Ich drehte mich zu ihm um, wobei
ich mit einer Hand die Sedativmischung schüttelte und gleichzeitig
versuchte, mit meinen Zähnen die Kappe von einer Injektionsnadel zu
zerren.
»Keine Angst. Jetzt geht es mir besser.«
Halbnackt und haariger, als ich ihn in Erinnerung hatte, saß Red da
und hechelte wie ein Hund. »Ich konnte schon einen Moment lang gar
nicht mehr atmen. Weißt du was? Ich öffne einfach das Fenster einen
Spalt breit.«
»Nein!«, rief meine Mutter. »Abra, du musst ihn
davon abhalten!«
Doch es war schon zu spät. Mir blieb kaum Zeit,
die kalte
Morgenluft einzuatmen, als ich den zunehmenden Mond am heller
werdenden Himmel sah. Verdammt – Mondlicht! Ich drehte mich zu
meiner Mutter um und wollte ihr etwas zurufen, doch die Worte
blieben mir im Halse stecken.
Red stürzte sich bereits auf sie. Und seine
Gestalt war nicht mehr die eines Menschen.