13
Sobald ich es vor mir selbst zugegeben hatte, konnte ich an nichts anderes mehr denken: Meine Ehe war im Begriff, neu definiert und an einen anderen Ort verlegt zu werden. Mein Mann ließ mich ziehen, um seine eigenen Wege zu gehen. Während meine Stimmung zwischen Depression und Angst hin und her schwankte, versuchte ich nach außen hin so zu tun, als mache mir Hunters Entscheidung nichts aus.
Ich wollte ihn schließlich nicht noch mehr von mir stoßen als unbedingt nötig.
Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich meiner Wut freien Lauf gelassen hätte. Aber das traute ich mich nicht. Ich verliebte mich nicht leicht. Und auch nicht oft. Außerdem hatte ich Hunter so viel von mir preisgegeben, dass ich nicht wusste, wie viel noch von mir übrig sein würde, wenn er einmal fort war. Ich hatte nicht einmal die Möglichkeit, mich in den Schlaf zu flüchten, so wie das andere taten, wenn sie deprimiert waren. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass ich nach Hunters Weggang nächtelang wach im Wohnzimmer sitzen und den vertrauten Gegenständen in unserer Wohnung dabei zusehen würde, wie sie immer mehr verschwammen und seltsame Formen annahmen, so wie das Dinge in den Stunden nach Mitternacht manchmal zu tun scheinen. Der Gedanke an eine solche Einsamkeit war unerträglich.
Ich konnte niemandem davon erzählen. Mein Vater, der Hunter als großspurigen Einundzwanzigjährigen mit Goatee und wirren Vorstellungen vom amerikanischen Kunstfilm im Kopf kennengelernt hatte, fand ihn indiskutabel. Diese Einstellung Hunter gegenüber gehörte zu den wenigen Dingen, worüber er und meine Mutter sich noch immer einig waren, auch wenn mein Vater es für unpassend hielt, mehr zu sagen als »Du weißt ja, was ich diesbezüglich denke.« Die Art aber, wie er das sagte, klang so verächtlich, dass es mir jedes Mal die Sprache verschlug. Eine Weile versuchte meine Mutter, ihn nachzuahmen und auch nicht mehr von sich zu geben. Lange jedoch hielt sie das nicht durch.
Was meine Freundin Lilliana betraf, so wollte ich ihr mein Leid mit Hunter auf keinen Fall klagen. Zum einen kannten wir uns erst seit wenigen Monaten, und zum anderen wusste ich, dass es ihr leichter fiel, einen Mann zu finden als eine Wohnung. Für mich war das anders. Während meiner Collegezeit während des Tiermedizinstudiums, wenn die meisten Frauen am ehesten passende Partner fanden, waren mir nur drei Männer über den Weg gelaufen, die mich interessierten: ein brillanter Musik- und Mathematikstudent mit einer gering entwickelten Sozialkompetenz, ein guter Freund, der gerade eine schwere Krise durchlebte und – Hunter.
Malachy Knox, Sam oder Ofer konnte ich mich ebenfalls nicht anvertrauen. Mein früherer Chef schien selbst nicht mehr alle Tassen im Schrank zu haben, auch wenn er der Einzige war, der über Hunters Erkrankung durch den Lykanthropievirus Bescheid wusste.
Und um andere Freundschaften hatte ich mich seit langem nicht mehr gekümmert. Die wenigen, die ich im Laufe meines Lebens gepflegt hatte, waren inzwischen auch eingeschlafen.
Ich überlegte mir, was ich sonst tun konnte, um meine Stimmung zu verbessern. Hatte mir Hunter nicht vorgeschlagen, mit ihm nach Northside zu ziehen? Im Grunde stellte das keine echte Alternative dar- es sei denn, ich war gewillt, meine Ausbildung als Assistenzärztin und alles, was meinem Leben bisher einen gewissen Sinn verliehen hatte, aufzugeben.
War mir Hunter das wirklich wert?
Am Tag nach dem katastrophalen Abendessen meldete ich mich krank und ging in die Buchhandlung um die Ecke. Ich suchte nach einer einfachen Antwort auf mein höchst kompliziertes Problem, fand stattdessen aber viele unterschiedliche Lösungsvorschläge: Loslassen – Festhalten – Vertrauen ist besser als Misstrauen – Der Wunsch, sein Gegenüber zu ändern – Veränderungen und ihre Folgen – Ein Wandel in der Liebe – Wie das Alphamännchen tickt.
Ich nahm das Buch mit dem letzten Titel in die Hand, da ich beinahe davon ausging, dass es falsch eingeordnet sein musste. Alphamännchen gab es doch nur in der Tierwelt, oder etwa nicht? Oder sollte sich bereits ein Spezialgebiet für Frauen herauskristallisiert haben, die Lykanthropie-Infizierte liebten? Dem Autor des Buches zufolge waren wir sowieso alle Tiere.
IST IHR PARTNER EIN ALPHATIER?
1. Wie würde sich Ihr Partner selbst beschreiben? Als
a. teamfähig
b. einer der Jungs
c. betont unabhängig mit Führerqualitäten
d. Ihr Schoßhündchen
2. Wenn Ihr Partner mit schwierigen Situationen konfrontiert wird, wie verhält er sich dann?
a. Bittet er Sie um Rat?
b. Bittet er einen Experten um Rat?
c. Erklärt er Ihnen und dem Experten, was Sie beide falsch machen?
d. Flüchtet er sich zu Ihnen und weint sich an Ihrer Schulter aus?
3. Wenn Ihr Partner während einer Autofahrt von einem anderen Fahrer geschnitten wird, wie verhält er sich dann?
a. Flucht und schreit er?
b. Fährt er so nahe wie möglich auf den anderen Wagen auf und biegt erst in letzter Sekunde ab?
c. Packt er den kleinen Hund im Wagen des anderen Fahrers und lässt seine Wut an ihm aus?
d. Zittert er unkontrolliert und schlägt die Hände vors Gesicht?
Ich vermutete, dass sich jemand, der jeweils die Antwort D) ankreuzte, mit einem Shih-Tzu zusammengetan haben musste. Es gab noch weitere Fragen, die dazu dienen sollten herauszufinden, ob man selbst eher ein Alpha-, ein Betaoder ein Gammaweibchen war. Ich fiel gerade noch in die Kategorie Alpha, da ich angeblich ein starkes Unabhängigkeirsbesrreben hatte (was sich darin zeigte, dass ich willig war, auch mal alleine ins Kino zu gehen und den Rat meines Partners bei der Kleidungswahl nicht brauchte). Der Autor riet allerdings allen Alphaweibchen zu üben, auch ihr »Recht, sich unterzuordnen« einzufordern.
Verwechseln Sie Unterordnung nicht mit Selbstaufgabe. Verstehen Sie Unterordnung vielmehr als eine eigenständige Wahl. Eine selbstbewusste Frau weiß, dass sie stark genug ist, sich unterzuordnen, wenn es ihren Bedürfnissen entspricht. Früher waren sich Frauen darüber im Klaren, dass ihre stärkere emotionale Intelligenz, oft auch als Intuition bezeichnet, sie stärker als die Männer macht – und zwar stark genug, um nachzugeben. In jedem Tierrudel ist das Alphamännchen stärker als das Alphaweibchen – außer während der Balzzeit und nach der Geburt der Nachkommen. In diesen Perioden ordnet sich das Männchen seinem Weibchen unter. Meist benutzt das Weibchen seine ausgeprägte Sozialkompetenz, um die Familie zusammenzuhalten.
All das war natürlich pseudowissenschaftliches Geschwätz. Das Buch hatte einen absurd atavistischen Touch, der mich jedoch irgendwie faszinierte. Ich las weiter.
Wenn Sie sich also dafür entscheiden, bei einem Mann zu bleiben, um eines Tages überlebensfähigen Nachwuchs mit ihm in die Welt zu setzen, sollten Sie verstehen, dass es immer wieder Zeiten geben wird, in denen Sie sich unterordnen müssen. Wenn Sie in Zeiten wichtiger Rudelentscheidungen (wenn zum Beispiel ein neuer Jagdplatz gesucht werden soll) allein darauf aus sind, Ihren Willen durchzusetzen, positionieren Sie sich als Rivalin und nicht als Partnerin. Seien Sie sich Ihrer überlegenen Fähigkeiten bewusst, emotionale Kompromisse einzugehen, und denken Sie daran, dass es auch Zeiten geben wird (wie zum Beispiel nach der Geburt Ihrer Sprösslinge oder in Phasen erhöhter sexueller Aktivität), in denen Sie feststellen werden, dass sich Ihr Partner Ihnen unterordnet.
Ich kaufte das Buch und las zu Hause weiter. Hunter war gerade unterwegs, um einen Gebrauchtwagen zu suchen. Er kehrte erst am späten Nachmittag zurück und warf den Schlüssel und seine Tasche auf den Tisch.
»Und? Erfolgreich?«
»Ja.«
»Ich höre.«
»Ich bin jetzt stolzer Besitzer eines drei Jahre alten Ford Explorer.« Er holte den Kaufvertrag heraus und zeigte ihn mir. Das Auto hatte einen CD-Spieler, Airbags und einen außerordentlich hohen Kilometerstand.
»Der ist aber viel gefahren worden.«
»Ja, aber er ist immer noch in einem Topzustand. Außerdem hat er ein Schiebedach.««
»Das wird nicht viel nützen, wenn das Auto die meiste Zeit in der Werkstatt steht. Hast du dir den Wagen auch genau angesehen? Und gab es bei dieser Serie nicht Probleme mit den Reifen?«
»Mann, du weißt wirklich, wie man einem den ganzen Spaß verdirbt, was? Es ist nur ein verdammtes Auto, Abra! Keine Doktorarbeit!«
Ich nahm mein Buch wieder auf. »Gut. Es ist dein Auto, du fährst es – nicht ich. Mit mir hat ja sowieso nichts mehr zu tun.«
»Ach so, darum geht es also! Du willst mich dazu bringen, dass ich mich schlecht fühle, weil ich nach Northside ziehe. Hör zu. Ich habe dir bereits gesagt, dass du mitkommen kannst, wenn du willst...«
Ich legte das Buch erneut beiseite und starrte ihn an. »Was ich nicht kann, wie du sehr genau weißt,!«
Hunter wandte mir den Rücken zu und fing an, sich mit dem Kaufvertrag zu beschäftigen. »Das ist nicht meine Schuld. Offensichtlich bist du nicht gewillt, deine Arbeit aufzugeben, um mit mir zusammen zu sein. Warum sollte ich das dann für dich tun?«
Danach wechselten wir nur noch ein paar belanglose Worte darüber, was wir zum Abendessen bestellen wollten, und dann aßen wir schweigend, jeder hinter einem Berg von Papieren verschwunden. Um Mitternacht ging Hunter zu Bett. Ich nutzte die Gelegenheit, um ausführlich zu heulen, meine Beine zu rasieren und eine Gesichtsmaske aufzulegen. In den Frauenzeitschriften heißt es schließlich immer, dass man sich verwöhnen soll, wenn man sich schlecht fühlt. Dies funktionierte nur insoweit, als ich abgelenkt war.
Die Maske auf meinem Gesicht war zu brüchigen Stückchen getrocknet, und ich rieb gerade die Hornhaut von meinen Fersen, als ich merkte, dass Hunter in der Badezimmertür stand. Er trug nur seine ausgewaschene alte Pyjamahose.
»Ist dir eigentlich klar, dass es schon fast vier Uhr morgens ist?«
Ich nickte und versuchte, die abgeriebene Hornhaut zu verstecken.
»Was ist das eigentlich für ein Mist, den du da liest?« Ich hatte das Buch den ganzen Abend über mit mir herumgetragen, doch jetzt hielt er es in der Hand und las daraus vor: »Alphamännchen sind bekannt für ihren Ehrgeiz, ihre Energie, ihren Willen und ihre Promiskuität. Klingt Ihr Partner wie ein Alphamännchen? Wollen Sie wissen, wie Sie ihn halten können?« Hunter funkelte mich spöttisch an. »Ich zeige dir gern, wie du mich halten kannst, Liebling. Du benutzt ganz einfach deine rechte Hand und... nein, jetzt mal im Ernst. Warum liest du einen solchen Schund? Ein kluges Mädchen wie du... weißt du eigentlich, dass dein Gesicht abbröckelt?«
Er trat zu mir, wobei er den ausgeleierten Bund seiner Pyjamahose festhielt. Als er ein paar Zentimeter vor mir stehen blieb, fiel mir plötzlich auf, wie viel breiter und behaarter seine Brust geworden war. Ich musste an unsere ersten gemeinsamen Jahre denken. Es kam mir beinahe wie ein anderes Leben vor.
Ich schmiegte mich zögernd an ihn, und er strich mir die Haare aus dem Gesicht. »Ist es aus, Hunter?«, fragte ich leise.
Er hob mein Kinn an, um mir besser in die Augen sehen zu können. »Es ist bestimmt das Ende dieser Phase. Das ist alles, glaube ich.««
»Und nicht das Ende unserer Beziehung?«
Mit der Antwort ließ er sich Zeit. Ich dachte daran, dass ich zwar ein paar alte Kindheitsfreunde und Arbeitskollegen haben mochte, aber wirklich niemanden, an dessen Schulter ich mich ausweinen konnte. Außer Hunter hatte ich keinen echten Vertrauten.
»Ich hoffe nicht, dass es das Ende unserer Beziehung ist«, sagte er schließlich nachdenklich. »Ich möchte jedenfalls nicht, dass es das Ende ist. Abs, komm mit mir nach Northside!«
Ich schlang meine Arme um seine Taille. »Und wenn ich wirklich Ja sage?«
Er sah mich aufmerksam an. »Würdest du denn mitkommen wollen?«
Ich wusste nicht, ob er wollte, dass ich zusagte, oder ob es ihm lieber wäre, wenn ich in New York blieb. Mir fiel meine Mutter ein, die immer wieder meinen Vater für die Unterdrückung der Frauen an sich verantwortlich gemacht hatte. Meist mitten in der Nacht und zwar mit einer durchdringend schrillen Stimme.
Ich dachte an die Leere, die mir bevorstand, wenn ich nichts anderes mehr haben würde als meine Arbeit und diese riesige Stadt, in der sich niemand um einen kümmerte, selbst wenn man ausgeraubt wurde. Ich stellte mir vor, wie es war, wenn ich niemanden mehr hatte, an den ich mich nachts schmiegen konnte. Irgendwie wusste ich, dass – wenn ich Hunter jetzt verlor – es sehr lange dauern würde, bis ich wieder einem Mann erlauben würde, mich zu berühren. Ich würde zwar eine hochqualifizierte Tierärztin sein und vermutlich eines Tages einer renommierten Manhattaner Praxis beitreten. Aber ich würde niemanden haben, zu dem ich nach Hause zurückkehren konnte. Nicht einmal einen Hund.
Wenn ich das nicht wollte, dann musste ich wohl oder übel ein Opfer bringen. Denn es war offensichtlich an mir nachzugeben. Ich war schließlich diejenige mit der höher entwickelten emotionalen Intelligenz. So hieß es doch in diesem Buch, nicht wahr?
»Ja, ich möchte mitkommen. Ich möchte mit dir mitgehen, Hunter. Wenn du mich überhaupt noch haben willst.««
Plötzlich fühlte ich mich unendlich erleichtert. Süße Hingabe – wie herrlich sie sein konnte! Kein Kampf mehr, um nicht unterzugehen. Ich hatte den Anker losgemacht und überließ Hunter nun die Führung.
Er sah mich aufmerksam an. Ich glaubte, vor Glück zu strahlen. Tränen einer unendlichen Erleichterung stiegen mir in die Augen. »Ich würde dich ja gerne küssen, aber ich befürchte, dann würdest du ganz zerbröckeln.« Er warf einen Blick auf die Hornhaut, die in der Badewanne lag. »Ziemlich viel Gebröckel.«
»Ich wasche mir am besten schnell das Gesicht«, schlug ich vor.
»Und ich werde den Leichnam in der Wanne beseitigen.« Er sammelte die Stückchen tote Haut auf und warf sie in die Toilette. »Hast du das gesehen? Sogar mit bloßen Händen. Das muss wahre Liebe sein, Schatz.«
Danach machte er keine Scherze mehr. Stattdessen liebten wir uns, langsam und vorsichtig – fast wie zwei Menschen aus Glas. Schließlich schlief ich in den Armen meines Mannes selig ein.
Als ich der Institutsleitung am nächsten Tag meine Kündigung bekanntgab, begegnete man mir dort mit großer Zuvorkommenheit. Man ging offenbar davon aus, dass meine Kündigung eine Reaktion auf Malachy Knox’ Weggang war, und warnte mich, nicht darauf zu hoffen, wieder einen Platz zu bekommen, falls ich es mir doch anders überlegte.
Von meinen Kollegen zeigte sich Sam liebenswürdig verwirrt, während sich Ofer, wie es vorherzusehen gewesen war, zu dieser Entwicklung der Dinge recht sarkastisch äußerte. »Ich kann nicht glauben, dass du in die Pampa ziehst, um den Bauern zuzusehen, wie sie ihre Stiere mit bloßen Händen kastrieren«, erklärte er hochmütig.
»Du wirst mir bestimmt auch fehlen, Ofer«, entgegnete ich kühl.
Lilliana war die Einzige, die wusste, wie man richtig reagierte. »Du weißt, wie gerne ich dich mag«, sagte sie und lächelte mich traurig an. »Aber wenn es das ist, was du willst, dann freue ich mich für dich. Du wirst mir einfach nur sehr fehlen.«
Sie kam mit, als ich den Gutschein für das Wellnesshotel einlöste, den sie mir zum Geburtstag geschenkt hatte. Wir redeten an diesem Tag auch über Knox.
»Übrigens«, meinte sie, als wir nebeneinander unsere Füße massiert bekamen. »Ich habe Mad Mal vor kurzem eine Mail geschickt.«
»Ehrlich? Was hast du geschrieben?« Ich drückte auf einen Knopf, damit mein Stuhl zu vibrieren aufhörte und ich sie besser verstehen konnte.
»Ich wollte nur wissen, was er jetzt so macht. Angeblich sieht er sich nach einer Art Labor außerhalb von New York um, wo die Mieten billiger sind.« Lilliana hielt ihre Füße in einen Miniwhirlpool und lehnte sich zurück. »Hm... Falls ich jemals reich sein sollte, kaufe ich mir genau so einen Stuhl für zu Hause... He, vielleicht zieht Mad Mal ja in eure Nähe, und ihr beide könnt gemeinsam eine Tierklinik aufmachen. Für Unwölfe.«
»Garantiert nicht – vielen Dank. Außerdem sah der Gute nicht gerade gesund aus«, merkte ich an. »Er hat so gewirkt, als ob er es nicht mehr lange machen würde. Fandest du nicht?« Ich dachte an den seltsamen Anblick, den er geboten hatte, ehe ich in Ohnmacht sank. Vielleicht gelang es ihm ja, seine Krankheit in den Griff zu bekommen? Oder sie verwandelte sich in etwas anderes...
»Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Knox noch ziemlich viel Kraft in sich hat«, erwiderte meine Freundin, während die Fußpflegerin ihren rechten Fuß aus dem Wasser nahm. Meine tat es ihr nach.
»Du wirst Manhattan wahrscheinlich nie verlassen – oder, Lilli?«
Sie grinste. »Wenn ich von hier wegziehen würde, hättest du doch nichts mehr zum Übernachten, wenn du mal zu Besuch kommst. Du weißt, wie wahnwitzig teuer die Hotels in dieser Stadt sind.«
»Eine hübsche Farbe«, meinte meine Fußpflegerin, als sie begann, meine Zehennägel zu lackieren. Ich hatte den Nagellack von zu Hause mitgebracht, da ich den Namen der Farbe irgendwie passend fand: Wolfsblut.
Nach den Stunden mit Lilliana im Wellnesshotel wusste ich nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Es war das erste Mal in meinem Erwachsenenleben, dass mehrere Tage vor mir lagen, in denen ich nichts geplant hatte. Es fühlte sich geradezu unnatürlich an.
Nach dem letzten Tag im tiermedizinischen Institut verließ ich allein das Gebäude. Es war ein unangenehm heißer Septemberabend, der Beginn des Altweibersommers, wie es am Morgen im Radio geheißen hatte. Ich lief etwa einen halben Block lang die Straße hinunter, als mir auf einmal auffiel, dass ich noch immer meinen weißen Arztkittel trug. Ich zog ihn aus, faltete ihn zusammen und legte ihn mir über den Arm.
Dann drehte ich mich ein letztes Mal zum East River um. Über der Meerenge hing ein gespenstisch wirkender Halbmond, der wie ein böses Omen auf mich wirkte – fast wie in einem Stück von Shakespeare, wo die Präsenz wilder Geister oder der bevorstehende Wahnsinn eines Königs auf eine solche Weise angekündigt wurde.
Oder wie in einem zweitklassigen Gruselfilm, um zu symbolisieren, dass sich Unheimliches zusammenbraut.
Wolfstraeume Roman
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