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Als ich so heftig
weinte, dass ich vor Tränen die Straße nicht mehr sehen konnte,
hielt ich an. Ich befand mich etwa drei Kilometer außerhalb von
Northside, am Fuße des Old Scolder Mountain. Vermutlich hatte ich
von vornherein vorgehabt, eine Runde zu laufen, aber bewusst wurde
mir das erst jetzt.
Es ist schon lustig: In der Großstadt verlässt
man einfach das Haus, wenn man spazieren gehen will, um seinen Kopf
freizubekommen. Wenn man Rasen unter den Füßen haben möchte, läuft
man in den nächsten Park. Aber hier auf dem Land, wo ich von Natur
umgeben war, wurde ich fast überall von Schildern darauf
hingewiesen, dass das Betreten für Unbefugte verboten sei.
Ich zog mir eine gefütterte Jacke, die im Wagen
lag, über den Pulli und den schwarzen Rock. Meine weichen
Lederschuhe waren zwar für eine Wanderung nicht geeignet, doch das
störte mich weniger als meine bohrenden Kopfschmerzen, die zuerst
als leichter Druck an den Schläfen begonnen hatten und sich nun
allmählich zu einer ausgewachsenen Migräne entwickelten.
Ich kletterte aus dem Auto und lief los. Erst
als ich an zwei orangefarbenen Pfeilen vorbeigekommen war, wurde
mir klar, dass ich einen Rundgang gewählt hatte, der nicht den
Berg hinaufführte. Ich kehrte also auf demselben Weg wieder zurück
und begann zwischen zwei leuchtenden roten und goldenen Ahornbäumen
mit dem Aufstieg. Die anderen Bäume waren schon zur Hälfte
entlaubt. Nach fünf Minuten geriet ich ins Keuchen. Ein junger Mann
mit Bart und Golden Retriever kam mir entgegen und lächelte mir zu,
als wir aneinander vorbeigingen.
Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr:
sechzehn Uhr. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass es schon so
spät war. Aber ich vermutete, dass mir noch zwei Stunden Tageslicht
blieben – genug Zeit, um den Gipfel zu erklimmen und wieder
abzusteigen. Jedenfalls wenn ich mich anstrengte.
Ich lief und lief, bis ich an nichts anderes
mehr dachte als daran, wohin ich den nächsten Fuß setzte: auf
diesen Stein, über diese Wurzel, zwischen Kies. Die Luft war
herbstlich klar und kühl, und ich begann allmählich durchzuatmen.
Immer wieder war Vogelgezwitscher zu hören, das abrupt abbrach, um
dann nach einer Weile erneut wieder einzusetzen. Auch ein paar
Grillen oder Zikaden zirpten. Ich roch den frischen Duft der
Fichtennadeln und nahm das Plätschern eines kleinen Baches in der
Nähe wahr. Ein leichter Wind kühlte meinen verschwitzten Nacken,
und ich hob meine Haare hoch, während ich immer weiter nach oben
stieg. Erst als ich den Wohnwagen entdeckte, wusste ich, dass ich
irgendwie vom Weg abgekommen sein musste.
Es war einer dieser unheimlich wirkenden,
verrosteten Trailer, die man manchmal mitten auf einem Feld findet.
Ich konnte mir kaum vorstellen, wie er hierher gekommen sein
mochte. Meines Wissens gab es keine Straße auf diesen
Berg, die breit genug gewesen wäre. Ich sah ihn genauer an. Es
handelte sich um ein altes Vehikel, vermutlich aus den fünfziger
Jahren, vielleicht sogar aus noch früheren Zeiten.
Der Wagen war bewohnt. Jemand lebte hier und
hatte vor die Tür sogar einen ausgehöhlten Halloween-Kürbis und ein
Plastikreh gestellt. Neben einem Laubhaufen lag ein Rechen, und um
den Wohnwagen lagen eine ganze Menge alter Autowracks und
verrosteter Waschmaschinen herum. Ich warf einen Blick auf das
»Betreten verboten«-Schild und überlegte. Sollte ich einfach
umdrehen und versuchen, den richtigen Weg zu finden, oder sollte
ich eher um Hilfe bitten? Über den Bäumen wurde der Himmel bereits
dunkler. Ich warf erneut einen Blick auf meine Uhr: Viertel vor
fünf.
Und dann hörte ich ein warnendes Knurren.
Mist. Ich drehte mich um und entdeckte einen
Hund, dem man garantiert nicht in freier Wildbahn begegnen wollte.
Es war ein mindestens fünfzig Kilo schwerer Malamute-Mischling, in
dem vermutlich noch etwas von einem Rottweiler und einem Mastiff
steckte, wenn man seine goldenen Augen, das glatte Fell und das
gewaltige Maul betrachtete.
»Braver Hund«, murmelte ich besänftigend. Aber
der Hund knurrte weiter und umkreiste mich nun mit aufgestellten
Nackenhaaren. Es heißt zwar immer, dass bellende Hunde nicht
beißen, aber das ist ja auch klar, dachte ich grimmig. Wie sollen
sie denn noch bellen, wenn sie ihre Zähne schon tief in deinen
Schenkel gebohrt haben?
Ich spürte, wie ich am ganzen Körper zitterte.
Man durfte einem Angreifer niemals zeigen, dass man Angst hatte,
doch dieser Ratschlag nützte mir herzlich wenig. Wahrscheinlich
konnte dieser Hund sowieso riechen, wie es um mich bestellt war.
Ich zwang mich dazu, mich so wenig wie möglich zu bewegen, und
konnte nur hoffen, dass bald jemand kommen und mich aus dieser Lage
befreien würde...
Da tauchten ein zweiter und ein dritter Hund
auf, die beide etwas kleiner waren und ein glatteres Fell als ihr
Vorgänger hatten, aber ebenfalls losbellten.
»Hallo? Istjemand zu Hause? Hallo?«, rief ich
verzweifelt. Als der Himmel noch dunkler wurde, tauchte ein vierter
Hund auf und stimmte in der Nähe einer Schubkarre ebenfalls in das
Gebell mit ein. Ich brauchte einen Moment, ehe ich ihn erkannte. Es
war Pia. Gütiger Himmel – alle diese Hunde sahen wie Wölfe
aus!
»Pia! Pia? Braves Mädchen. Kennst du mich nicht
mehr?« Sie legte den Kopf zur Seite und fing an zu winseln. Auf
ihrer Brust und ihren Läufen hatte sie schreckliche nackte Stellen.
Mein Gott, was machte Jackie hier? War sie dabei, ein eigenes
Wolfsrudel zu züchten? Nettes Hobby für eine Frau aus der
Unterschicht, die sich vermutlich keine Alarmanlage leisten konnte
und stattdessen auf die Hilfe einer wilden Meute setzte. Und wie
ironisch es vom Schicksal doch war, dass gerade ich ihr geholfen
hatte, Pia wieder zurückzubekommen!
Die anderen Hunde hatten inzwischen einen Kreis
um mich herum gebildet und schienen immer mehr in Rage zu geraten.
Als ich aus Versehen einem besonders wütenden Tier in die Augen
blickte, schaute ich daraufhin hastig zu Boden. Ich gab mich so
unterwürfig und harmlos wie möglich. Verdammt, wo steckte nur
Jackie? Ich malte mir bereits ihre Miene aus, wenn sie mich fand,
während ich vor ihrer Haustür verblutete. Wahrscheinlich würde sie
sich dann zumindest keine Sorgen mehr machen, ob Red an mir
interessiert war. Und Hunter konnte sich seine Scheidung auch
sparen...
Nein. Solche Gedanken waren – schlecht. Das
waren ganz schlechte Gedanken...
Der Hund, der jetzt auftauchte, war der erste,
bei dem ich mir sicher war, dass er kein Wolfshund-Hybride war.
Sondern ein Wolfskojote. Er landete in einem gewaltigen Sprung aus
dem Nichts plötzlich vor mir. Ein Hirsch oder ein Reh wäre zu einem
solchen Sprung vermutlich in der Lage gewesen, aber kein Hund. Er
hatte große Kojotenohren und ein glattes rotgraues Kojotenfell,
während sein gewaltiges Maul an einen Wolf erinnerte – zum Beispiel
an den Wolf aus dem Märchen, der von Rotkäppchen darauf hingewiesen
wird: »Ach, Großmutter, was hast du für ein großes Maul!« Obwohl er
etwas kleiner als der Malamute und auch wesentlich schlanker war,
hatte er bei dem Rudel eindeutig das Sagen. Er hielt sich nicht
lange mit Schwanzwedeln oder unsinnigem Gebelle auf, sondern warf
mir nur einen Blick zu, duckte sich und spannte alle seine Muskeln
an.
Verdammter Mist, jetzt war
es also wirklich um mich geschehen...
Ich wusste, dass ich keuchte, aber ich konnte
nichts dagegen tun. Dann beging ich auch noch den Fehler, erneut
aufzublicken. Vermutlich wollte ich instinktiv nur sehen, wann
genau mein Hals nun zerfetzt werden würde. Dabei schaute ich dem
Alphamännchen direkt in die Augen.
Und zwar genau in dem Moment, in dem mir das
Tier zuzwinkerte.