21
Am nächsten Tag behauptete Hunter, es süß gefunden zu haben, dass ich am Abend zuvor zu viel getrunken und Gras geraucht hatte. Wie ein echter Bohemien, wie er grinsend meinte und sogar mehrmals wiederholte.
Als es Zeit fürs Abendessen war, hatte sich der Witz dann abgenutzt. »Ich kann noch immer nicht fassen, dass du auf einem Gast eingeschlafen bist«, erklärte er schon wieder. »Auch wenn Red nicht allzu viel dagegen gehabt zu haben schien. Ich muss mir doch keine Sorgen machen – oder?« Wir saßen wieder im Moondoggie’s und warteten auf die hübsche, rotblonde Kellnerin, die Hunters Rinderwahnsteak und mein vegetarisches Wrap bringen sollte.
»Quatsch, natürlich nicht!«, erwiderte ich in dem Moment, als Kayla an unseren Tisch zurückkehrte. Ich erinnerte mich an ihren Namen, als sie Hunter davor warnte, dass sein Teller heiß sei. Sie lächelte, er zwinkerte ihr zu, und ich hätte den beiden am liebsten den Krug mit Bier an den Kopf geworfen.
Natürlich machte sich Hunter in Wahrheit keine Sorgen. Ich kannte meinen Mann gut genug, um zu wissen, dass seine betont unbeschwerte Reaktion nur seine große Erleichterung verdecken sollte, zur Abwechslung auch einmal mich in einer kompromittierenden Situation erwischt zu haben – als könnte das seinen Betrug weniger schlimm machen.
Am liebsten hätte ich ihn mit meinen Überlegungen konfrontiert, ihm erklärt, dass ein harmloses Geplänkel schließlich etwas anderes war als konkrete Taten. Aber natürlich konnte ich das nicht, wenn ich nicht wollte, dass er mich nach meinem Verhältnis zu Red befragte. Ich hatte schließlich selbst keine Ahnung, was da eigentlich zwischen uns passierte. Und ich war mir auch nicht sicher, ob ich das überhaupt so genau wissen wollte. Solange ich meine Gefühle nicht unter die Lupe nehmen musste, konnte ich mich an dem Gedanken aufbauen, dass es im Hintergrund nun einen Mann gab, der mich begehrte. Vielleicht steckte doch etwas von meiner Mutter in mir, denn dieses neue Gefühl wollte ich nicht verlieren. Ich wollte das Ganze aber auch nicht weiterverfolgen, allerdings eben auch nicht wieder ohne einen solchen Verehrer dastehen.
Ich ging zur Toilette und betrachtete mich im Spiegel. Unter meinen Augen zeigten sich dunkle Ringe. Im Vergleich zu Kayla kam ich mir uralt vor. Ich zog meinen roséfarbenen Lippenstift nach und kehrte an unseren Tisch zurück. Dort steckte die Kellnerin meinem Mann gerade etwas zu.
Ich sagte nichts, bis wir im Wagen saßen. »Was hat dir Kayla vorhin gegeben? Ihre Telefonnummer?«
»Sie hat mir Wechselgeld gegeben.«
»Aber du hattest die Rechnung doch noch gar nicht bezahlt.«
»Mein Gott, Abs, du wirst jetzt aber wirklich langweilig! Du weißt doch, wie sehr ich solche Szenen hasse.« Hunter schaltete das Radio ein: Mick Jagger sang etwas über die Siamkatze eines Mädchens, das ihm verfallen war.
Ich blickte aus dem Fenster. Ich war verdammt wütend und Hunter offenbar auch. Der Rest der Fahrt verlief also schweigend.
Auch die restliche Woche über wechselten wir kaum ein paar Worte miteinander. Hunter war die meiste Zeit auf dem Speicher verschwunden, um sein Buch zu schreiben, und ich machte mich auf die Suche nach einer Tierarztpraxis, in der man noch nicht mit dem südlichen Ende von Kühen und Pferden in Kontakt gestanden haben musste.
»Als ich so jung war wie Sie«, erklärte mir ein wettergegerbter Tierarzt, »durfte man erst praktizieren, wenn man auch Erfahrungen mit großen Tieren gesammelt hatte. Bis vor wenigen Jahren haben wir euch Stadtpflänzchen gleich wieder hinausbefördert, wenn ihr es nicht geschafft habt, eure Hand blind in den Hintern einer Kuh zu stecken und zu bestimmen, in welchem Monat sie ist.«
Ich kam zu einem Hausbesuch mit, wo mir ein Pferd auf den Fuß trat. Keiner erkundigte sich nach meinem Befinden. Der Besitzer erklärte nur immer wieder: »Sie hatten verdammtes Glück, Schätzchen, dass es Sie nicht getreten hat.« Der Tierarzt von Northside, dessen linke Gesichtshälfte gelähmt war, murmelte irgendetwas Unverständliches, was darauf hinauslief, dass ich für seine Praxis nicht geeignet sei. Brummend fügte er hinzu, dass er mit Frauen, die bei der leisesten Erschütterung gleich umfielen, sowieso nichts anfangen könne. Ich überlegte mir kurz, ob ich ihn wegen Diskriminierung verklagen sollte, entschied mich dann aber dagegen, da ihm drei Finger der rechten Hand fehlten und er zudem ein Glasauge trug.
Als ich ging, kam gerade eine schlanke grauhaarige Frau mit einem großen Vogelkäfig in die Praxis. Der Käfig war in ein schwarzes Tuch gehüllt. Was auch immer sich darunter verbergen mochte – es gab jedenfalls seltsame Kicherlaute von sich, die eher an eine Hexe als an einen Vogel erinnerten. Die Frau warf mir einen misstrauischen Blick zu. Sobald ich draußen war, wurden die Fensterläden geschlossen. Vielleicht war es eine Eule, dachte ich. Aber die Laute hatten eigentlich nicht wie die der Eulen geklungen, die ich bisher gehört hatte.
Es lief darauf hinaus, dass meine Ausbildung am tiermedizinischen Institut von New York zwar überall als interessant, aber auch als nutzlos betrachtet wurde – fast so, als besitze ich den zweifelhaften Vorteil, ein Designer-T-Shirt zu tragen oder Italienisch zu sprechen. Kurz gesagt: Was ein Vorteil in Manhattan war, konnte in Northside sinnlos sein.
Man schlug mir vor, ehrenamtlich in einem örtlichen Tierheim zu jobben, bis sich etwas anderes ergab – zum Beispiel in Beast Castle.
»Das ist doch nicht örtlich«, protestierte ich. »Das ist ja schon fast in New York.«
In Manhattan wäre es mir leichtgefallen, mich abzulenken. Dort wäre ich herumspaziert, hätte mir Schaufenster angesehen, wäre ins Kino gegangen. Auf dem Land schienen diese Dinge zwar auch möglich zu sein, aber ich konnte mich nicht dazu aufraffen.
Nach vier Tagen voller Ablehnungen beschloss ich, mir einen Tag freizunehmen. Ich ging in den Garten hinaus und beobachtete ein paar Streifenhörnchen, die miteinander stritten. Ich trank einen Kaffee nach dem anderen und lauschte dem Wind, der in den Bäumen rauschte. Ich wollte Lilliana anrufen. Doch als ich den Hörer abhob, war ein Besetztzeichen zu hören. Ein Elektriker und ein Mann von der Telefonfirma waren zwar inzwischen da gewesen, doch nun war Hunter ständig im Internet, um irgendwelche Nachforschungen anzustellen. Jedes Mal, wenn ich auf den Speicher kam, klappte er allerdings hastig seinen Laptop zu.
Ich ging in die Küche und beobachtete eine Viertelstunde lang die Staubpartikel, die durch die Luft tanzten. Dann entschloss ich mich, etwas Sinnvolleres mit meinem Tag anzufangen – wie zum Beispiel auszupacken.
Bisher hatte ich es erst geschafft, einige Klamotten und Kosmetikartikel aus den Kisten und Koffern zu ziehen. Alles andere war noch nicht herausgeholt worden. Ich hatte mich nicht dazu überwinden können, obwohl wir nun bereits seit fast einem Monat in diesem Haus lebten. Jetzt verstand ich, warum manche Menschen in wahren Labyrinthen aus Zeitschriften und leeren Flaschen hausten. Ich hatte keine Lust, die Bücher, Kleider, Uni-Unterlagen und die anderen Dinge, die Hunter eingepackt hatte, aus den Zeitungspapieren und der Luftpolsterfolie herauszuziehen.
Während unserer letzten Wochen in New York hatte mein Mann, während ich bei der Arbeit war, unser Appartement derart gründlich aufgeräumt, als erwartete er einen Besuch der Geheimpolizei. Leider hatte er dabei meine medizinischen Bücher mit seinen Krimis und meine Unterwäsche mit seinen Turnschuhen zusammengeworfen. Die Jungs von Samson Movers hatten nach einem Hilferuf Gnade vor Recht walten lassen und uns etwas unter die Arme gegriffen. So wurden zumindest die Teller in Papier gewickelt, ehe man sie verstaute, und nicht einfach mit anderem Krimskrams in eine Kiste gesteckt.
Während der ersten Wochen in Northside hatte ich nur in einige wenige Kisten geschaut und mich dabei meist in alte Seminararbeiten und Kinderfotos vertieft. So verbrachte ich zahlreiche Stunden damit, in melancholischen Erinnerungen zu schwelgen.
Aber ich hatte eine Entscheidung gefällt: Ich war mit Hunter hierher umgezogen und hatte beschlossen, mein altes Leben hinter mir zu lassen. Nun war es an der Zeit, hier auch wirklich anzukommen. Natürlich deprimierte es mich, keine Stelle zu finden und auch in nächster Zukunft keine in Aussicht zu haben. Aber trotzdem musste ich mich endlich zusammenreißen und weitermachen. Es war entwürdigend, voller Selbstmitleid herumzuhängen und wie ein Flüchtling aus ein paar Koffern zu leben. Außerdem erinnerte mich mein Verhalten unangenehm an das meiner Mutter. Ich war Abra Barrow: zupackend, vernunftgesteuert, pragmatisch.
Ich machte mich also daran, die Umzugskisten im Gästezimmer in Angriff zu nehmen.
Als Erstes sortierte ich alles in drei Gruppen: Dinge zum Wegwerfen, Dinge zum Aufheben und solche, bei denen ich Hunter erst fragen musste, was damit geschehen sollte. Nach einer Weile stieß ich auf eine Mappe, auf deren Deckblatt ich früher einmal >Briefe von Hunter< geschrieben hatte. Interessiert klappte ich sie auf und las.
Mein süßes Nönnchen,
ich male mir gerade aus, wie Du in der Bibliothek sitzt, sauber und ordentlich wie immer, in einem Kleid mit vielen Knöpfen, die bis oben hin geschlossen sind. Du sitzt in einem großen Ledersessel und liest konzentriert in einem Anatomiebuch, während wahre Horden von nervösen Erstsemestern aus der Ferne nach Dir schmachten. Wie gerne würde ich Dich jetzt von Deinen Studien ablenken!
Stattdessen finde ich gerade auf schmerzhafte Weise heraus, weshalb es sinnvoll ist, neue Wanderschuhe erst einmal einzulaufen, ehe man damit auf die große Reise geht. Wusstest Du übrigens, dass Zecken es sich besonders gern in den Schamhaaren gemütlich machen? In der ersten Nacht hielt ich sie noch für ein paar Leberflecke, die ich einfach früher nie bemerkt hatte.
Meine frische Tulpe, vergiss nicht die Creme zu verwenden, die ich Dir für deine kleinen Hände und Füße gegeben habe. Und dann massiere gleich auch noch deine wunderbar festen Brüste und stell Dir vor, wie ich das tue.
Leider werde ich in nächster Zeit stattdessen Blasen anstechen und mir wünschen, dass ich Dich anrufen könnte.
 
In Liebe, Dein Hunter
 
P. S. Es ist übrigens wirklich seltsam, die ganze Zeit über allein zu sein. Man merkt gar nicht, wie viel Zeit und Aufmerksamkeit man anderen Menschen widmet, mögen diese nun real oder fiktional sein (wie in Büchern oder im Fernsehen), bis man sich auf einmal mit echter Stille auseinandersetzen muss.
Als ich den Brief in die Mappe zurücklegte, fiel mir ein weiterer Brief auf, der dem Datum nach in Rumänien geschrieben worden sein musste. Allerdings hatte Hunter ihn mir nie geschickt.
Abra,
diese Reise ist eine der unglaublichsten, herzzerreißendsten und wunderbarsten Erfahrungen, die ich jemals gemacht habe. Ich wünschte, ich wüsste, wie ich Dir verständlich machen könnte, welche Veränderungen Transsylvanien und die Karpaten in mir bewirkt haben. Aber wie kann ich von einer Verwandlung sprechen, wenn diese noch nicht abgeschlossen ist? Magda, die Wolfsforscherin, die ich hier kennengelernt habe, hat mir erklärt, dass das Fieber, unter dem ich momentan leide, wieder sinken wird. Aber in meinem Herzen weiß ich: Ich kann niemals mehr in die Banalität des Lebens zurückkehren, das ich bis vor wenigen Monaten noch in New York geführt habe.
Was mich zu der schwierigen Entscheidung führt, Dich zu bitten, unseren Steuerberater
Mir fiel noch ein Stück Papier in den Schoß, auf das jemand mit einer kraftvollen, europäisch anmutenden Schrift notiert hatte:
Vergiss nicht: Du darfst nichts überstürzen. Warte den Herbst ab. Vielleicht sogar den Winter. Und ruf mich erst an, wenn Du Dir ganz sicher bist.
Ich brauchte keine Unterschrift, um zu wissen, wer das geschrieben hatte: Magda. Es stammte von der anderen Frau in Hunters Lebens, die, wie er mir versichert hatte, nichts mit seinen seltsamen Stimmungen oder dem plötzlichen Wunsch, aufs Land zu ziehen, zu tun hatte. Diese andere Frau in seinem Leben, die meinen Mann in ihren Bann gezogen hatte und das ganz offenbar noch immer tat.
Ruf mich erst an, wenn Du Dir ganz sicher bist.
Er hatte sich also nicht für mich entschieden. Er hatte sich nicht einmal fürNorthside statt für Rumänien entschieden. Diese Magda hatte ihm vielmehr befohlen abzuwarten, vermutlich bis sie beurteilen konnte, wie stark er sich in einen Wolf verwandelt hatte oder nicht. Und wie es sich für einen gehorsamen Hund gehörte, wartete er brav ab.
Mit heftig pochendem Herzen legte ich die Briefe in die Mappe zurück. Diese warf ich wieder in die Kiste, aus der ich sie herausgeholt hatte, und stand auf. Mir war schwindlig. Ich lief in den Garten hinaus, wo der Herbst bereits seinen Höhepunkt erreichte. In der Nacht zuvor hatte ein starker Wind die roten und gelben Ahornblätter von den Bäumen gerissen. Ich rannte in den Wald und stieg den Hügel hinauf, vorbei an dem beschädigten Stacheldraht. In meinem leichten Pulli wurde mir kühl. Kletten blieben an meinem schwarzen Wollrock hängen, als ich mich durch hohes Gras kämpfte und die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Je höher ich stieg, desto weiter kam mir der bewölkte Himmel vor.
Ich hatte schon immer ein Gespür für Richtungen besessen, auch wenn ich es oft vor mir selbst nicht zugab, dass ich genau wusste, wo ich war. Meine Füße fanden wie von allein den Pfad, den Red uns gezeigt hatte. Diesmal war es heller Tag, und die Bäume verloren ihr Laub. Ich stapfte über den Teppich aus Blättern und Fichtennadeln, bis ich die Blockhütte sah, die wir an jenem Abend nicht erreicht hatten. Es handelte sich um ein Haus aus unbehandelten halben Baumstämmen, das auf kurzen Pfosten stand. Bitte sei zu Hause, dachte ich. Red war der Einzige, bei dem ich mich nicht wie eine Idiotin fühlen musste, wenn ich erzählte, was ich soeben herausgefunden hatte. Da war ich mir sicher. Wenn man jemanden begehrt, hält man diesen Menschen nicht für einen Idioten – so einfach war das.
Ich blieb vor der Haustür stehen und klopfte. Niemand antwortete. Ich klopfte erneut. »Hallo?« Dann drehte ich am Türknauf. Die Tür war unverschlossen. Als ich eintrat, sah ich sogleich, dass er tatsächlich nicht zu Hause war.
Man erfährt viel über einen Menschen, wenn man sieht, wie er wohnt. Hunters Zimmer im Studentenwohnheim war so leer gewesen, als hätte dort niemand gelebt. Das hatte er im Grunde ja auch nicht. Er hatte sich in den Zimmern anderer häuslich eingerichtet. In Reds Hütte war es ganz ähnlich. Es handelte sich um das Zuhause eines Junggesellen, das kaum eingerichtet war. Auch Red schien vor allem irgendwo anders zu wohnen. Er hatte ein Bett mit einer indianischen Decke, einen schlichten Kieferntisch und zwei Stühle. Auf der Tischplatte war eine Patience ausgelegt. Außerdem gab es einen Teppich aus Schafsfell, einen kleinen CD-Spieler, einen umgedrehten Getränkekasten, auf dem ein paar zerfledderte Elmore-Leonard-Western lagen, einen winzigen Camping-Kocher und einige Dosen Bohnen. Ich schaltete den CD-Spieler an. J. J. Cale sang mit seiner heiseren Stimme, dass er auf einmal weder lesen noch schreiben könne, sondern mich die ganze Nacht über lieben wolle. Klang nicht übel.
Ich hörte etwas hinter mir und drehte mich hastig um. Doch es war niemand da. Nur die knarzende Tür wurde vom Wind hin und her gestoßen. Ich setzte mich auf Reds Bett. Ein modriger Geruch nach alter Wolle stieg mir in die Nase, wobei ich nicht wusste, ob er von der Decke oder dem Schafsfell auf dem Boden stammte. Seltsam, wie feuchte Wolle nach Hund riechen kann.
Ich wünschte mir, Red wäre da. Vermutlich wollte ich getröstet werden. Oder seinen Rat hören. Mein Ego ein wenig streicheln lassen. Ich wollte begehrt werden. Aber Red war nicht da. Entweder kümmerte er sich irgendwo um wilde Tiere oder er beglückte gerade Jackie.
Ich beugte mich zur Seite, um die Bücher auf dem Getränkekasten zu betrachten. Außer den Western gab es dort auch noch einen Band über nordamerikanische medizinische Kräuter, Ruf der Wildnis und eine Ausgabe des Cosmopolitan. Hm. Ich schlug die Zeitschrift auf – es war die Seprember-Ausgabe – und stellte fest, dass der Artikel >Warum brave Mädchen böse Jungs mögen< mit einem Lesezeichen versehen war. Der Untertitel, den Red mit Leuchtstift rot hervorgehoben hatte, lautete: >Er ist liebenswert, ehrlich und will sich binden – warum langweilt er Sie trotzdem zu Tode?<
Armer Red. Die Antwort lag direkt daneben – in der mit vielen Eselsohren markierten Ausgabe von Jack London, dem Kräuterbuch und zahlreichen vergilbten >Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss<-Romanen. Red gehörte zum Typus Dörrfleisch und weiße Unterhosen. Auch wenn ich wusste, dass ich selbst nicht übermäßig kultiviert war, so kannte ich doch den Unterschied zwischen einem Single-Malt und einem Tennessee-Whiskey, zwischen einem Essay und einer Kolumne oder einer eleganten Überleitung und einer hastig gefundenen Lösung. Ich wollte geliebt werden. Aber ich wollte auch einen Mann, dem man nicht das Ende eines Films erklären muss, wenn der Held zur Abwechslung einmal nicht in den Sonnenuntergang hineinreitet, die bösen Jungs besiegt werden und das Mädchen seiner Träume ihm bis ans Ende der Welt folgt.
Red gehörte eindeutig zur Kategorie Jack Daniel’s, also zu Kolumnen über aufregende Sportarten wie Angeln und Sonnenuntergängen in Filmen, wo die Welt noch in Ordnung war. Wenn er in Hunters Alter oder sogar noch jünger gewesen wäre, hätte ich ihn vielleicht anders beurteilt. Dann hätte er noch Zeit gehabt, sich zu ändern und auf andere Weise zu reifen. Doch trotz der überraschend jungenhaften Art, die er manchmal an den Tag legte, kam er mir eher wie Ende dreißig, ja möglicherweise sogar noch älter vor. Er hielt sich mit dem Erlegen von Schädlingen über Wasser und lebte ohne Strom. Solche Hindernisse ließen sich nicht einmal durch Cosmopolitan aus dem Weg räumen – das wusste ich mit absoluter Sicherheit.
Ich legte die Zeitschrift wieder an ihren Platz zurück, als mir einige Pfeile und Bögen auffielen, die da in einer Ecke lehnten. Die Pfeile hatten Metallspitzen und sahen gefährlich aus, so als würde man damit nicht auf eine Zielscheibe, sondern auf ein Tier schießen. Ansonsten konnte ich weder eine Falle noch Gift entdecken, was mich stutzig machte. Wie konnte Red davon leben, wenn er nur mit Pfeil und Bogen gegen die Schädlinge ausrückt?
Ich sah mich ein letztes Mal um und fand noch etwas, das meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Patience war in einer Art Schildmuster ausgelegt, und auf den Karten waren Tierköpfe abgebildet. Sie sahen genauso aus wie die Karten, die meine Mutter benutzt hatte. Ich konnte einige der Tiere entdecken, die sie auch für mich gelegt hatte: Eule, Kojote, Wolf und etwas, das wie ein wilder Truthahn aussah. Gütiger Himmel, ich hoffte, dass er die Karten nicht für mich gelegt hatte. Was hatte meine Mutter nochmal gesagt? Eule, Kojote, Wolf... Magisches, das sich mir nähern sollte, etwas über den Kojoten als Betrüger und den Wolf als Führer?
War das nicht typisch? Offenbar entpuppte sich der erste Mann, der mit mir flirtete, als genauso durchgeknallt wie meine Mutter.
Ich wollte Reds Hütte nicht wieder verlassen, ohne ihm eine Nachricht zu schreiben. Sonst würde das zu sehr nach einem Spionieren aussehen. Doch ich konnte nirgendwo ein Stück Papier entdecken. Also suchte ich eine Hundekarte aus dem Kartenstapel und legte sie auf Reds Kissen, ehe ich die Decke glatt strich. Ich konnte nur hoffen, dass Red nichts gegen meinen Besuch einzuwenden hatte. Zumindest hatte ich so ein Zeichen hinterlassen und war nicht einfach wieder heimlich verschwunden.
Mein Gott, wie ich Heimlichkeiten hasste! Ich lief den Hügel hinunter und fühlte mich jetzt stark genug, Hunter mit den Briefen zu konfrontieren.
Wolfstraeume Roman
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