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An dem Tag, an dem wir
auszogen, überfiel mich bereits die erste Schnsucht nach meinem
bisherigen Leben in New York. Wir hatten noch zwei Wochen Miete zu
zahlen, so dass wir uns mit dem Umzug Zeit lassen konnten. Bereits
seit meinem Entschluss, Hunter aufs Land zu folgen, überkam mich
immer wieder ein Gefühl der Nostalgie, wenn ich an all das dachte,
was ich zurückließ. Am D-Day wachte ich ruckartig auf und musste
weinen, als ich einen Presslufthammer auf dem Bürgersteig vor
unserem Haus hörte.
Wenn man einmal in Manhattan gelebt hat, kommen
einem alle anderen Orte geradezu unwirklich vor. Es ist meiner
Meinung nach die solide Präsenz all der hohen Steingebäude und
nicht die der aristokratisch wirkenden Wolkenkratzer, die einen an
diesen Ort binden. Nach Manhattan sehen alle ein- und zweistöckigen
Vorstadthäuser mickrig und zerbrechlich wie Kartenhäuser aus, fast
so, als würde bereits das Knurren eines Wolfes ausreichen, um sie
zum Einstürzen zu bringen.
Außerdem zeichnet Manhattan ein solcher
Bekanntheitsgrad aus, dass es einem selbst als belgischer
Fabrikarbeiter oder Schäfer aus Lancashire vertraut erscheint. Man
kann die schmale Insel überall finden – in Zeitungen, Werbungen,
im Fernsehen oder Kino. Manhattan stellt immer die Stadt per se
dar: laut, glamourös und schmutzig, ein Dorf voller
Avantgarde-Kleinkinder, geistig verwirrter Künstler, Geschäftsleute
aus Europa, unbedeutender Schauspieler, hoffnungsvoller Immigranten
aus Haiti und Ohio, Drogendealer, Katzenfanatiker, schamlos
Erfolgreicher und tief Verletzter. Überall ergeben sich in diesem
unzivilisierten Zentrum der zivilisierten Welt unerwartete
Schnittmengen.
Ich wollte nicht zu den Reihen der Deserteure
gehören, die behaupten, die Energie und Kultur der Stadt zwar zu
lieben, sich aber von den Überfällen, komischen Kauzen,
Stromausfällen oder terroristischen Bedrohungen verscheuchen
lassen. Als gäbe es in einer Kleinstadt keine Gefahr – als könnte
in einer Sommernacht erfüllt von dem Zirpen der Grillen oder auf
dem Weg zur Dorfkirche kein Kind plötzlich verschwinden. In New
York war man zumindest nie überrascht, wenn man wieder etwas über
die Schlechtigkeit der Menschen erfuhr. Das wusste man
sowieso.
Was ist Ihre liebste Großstadtlegende? Die über
die gestohlenen Nieren? Oder die über krossgebratene Ratten? Oder
vielleicht die über nuklearverseuchte U-Bahn-Schächre? Meist stellt
man sich vor, dass solche Schauergeschichten in Manhattan
passieren, wo der Rauch aus Kanaldeckeln steigt, unhöfliche
Fußgänger einander über breite Straßen hinweg anbrüllen, überall
schmutzige Tauben herumhocken und gelbe Taxis gefährliche Manöver
fahren.
In den letzten Tagen vor unserem Umzug besuchte
ich verschiedene Museen, das Empire State Building und
Bloomingdale’s. Als ich mir im Planetarium eine
Ganzkuppel-Videoshow
ansah, mein Sitz wie in einem Raumschiff zu vibrieren begann und
sich die Milchstraße immer mehr im weiten All verlor, kamen mir auf
einmal die Tränen. Das ist mein Zuhause, dachte ich. Mein
Universum.
Über solche Dinge denkt man normalerweise nicht
nach, es sei denn, man zieht um. Da ich schon nicht mehr am
Institut arbeitete und mir so viel – schmerzhaft viel – Zeit blieb,
wurde mir auf einmal alles Mögliche bewusst. Mir wurde klar, dass
ich auf dem Land schon ein Auto brauchte, wenn mir die Zahnpasta
ausgegangen war, und dass es nie mehr so einfach sein würde,
problemlos überall hinzukommen wie hier in New York. Ich begann
mich bereits jetzt nach Manhattan zu sehnen, obwohl ich noch gar
nicht fort war. Manhattan kam mir beinahe wie ein Liebhaber vor,
den ich notgedrungen aufgeben musste, um meine Ehe zu retten.
Wie um mich zu quälen, zeigte sich Manhattan
noch einmal von seiner besten Seite: Das Laub der Ahornbäume in
unserer Straße wurde langsam gelb, und ein kühler Wind kam auf, der
in mir den Wunsch weckte, nach neuen Klamotten Ausschau zu halten.
Überall konnte man die neue Mode in wunderschönen Violett-, Orange-
und Purpurtönen bewundern. Die Farben erinnerten an schweren
Burgunder, den man nach einem Sommer voll von leichtem Weißwein
besonders genießt. Am Broadway wurden in den Schaufenstern der
Schreibwarenläden und der Drogeriemärkte bereits grinsende
Totenköpfe ausgestellt, und als ich im Supermarkt um die Ecke
einkaufen ging, konnte ich Kinder beobachten, die eins nach dem
anderen den Knopf an einer zähnefletschenden Zombiemaschine
drückten und sich halbtot lachten, als sie sich bewegte.
Während eine kleine Armee von Israelis unsere
Möbel und sonstigen Habseligkeiten in einen großen Umzugswagen der
Firma Samson Movers verstaute, aß ich zum
letzten Mal im Cafe Barney Greengrass. Ich saß allein an einem
kleinen Tisch. Neben mir diskutierten zwei alte Männer über
Politik, während sie sich über ihre Teller mit Stör und
Räucherlachs beugten. Vor einiger Zeit hatte ich meiner Ärztin
versprechen müssen, als Vegetarierin zumindest immer mal wieder
Fisch zu essen, um nicht anämisch zu werden, und so hockte ich vor
einem Salat mit Renken. Die vielen Proteine ließen mich beinahe
schwindlig werden.
»Du darfst keine Vegetarierin werden«, hatte
mein Vater, der aus Barcelona stammte, mir in jenem Sommer
eingeschärft, als ich von einem Tag auf den anderen aufhörte,
Fleisch zu essen. »Vegetarier sind öde.«
»Ich will aber keine Leichen mehr zu mir nehmen.
Verstehst du das nicht?«
»Das ist alles die Schuld deiner Mutter. In
Europa wuchsen zu meiner Zeit die meisten Kinder noch in dem
Bewusstsein auf, dass Hühner Federn haben. Man rupft sie, man kocht
das Huhn, man isst es. Hier in Amerika ist alles so furchtbar
antiseptisch und überhygienisch, dass selbst das Fleisch meistens
wie ein Stück Kaugummi aussieht. Wenn ihr Kinder dann irgendwann
kapiert, dass ihr es mit etwas Totem zu tun habt, ist der Schock
natürlich groß.««
»Ich will diese Garnelen aber nicht mehr essen,
Dad. Tut mir leid.«
»Das sind Flusskrebse.«
»Was auch immer es ist. Ich finde, es ist
falsch, etwas zu essen, das früher einmal gelebt habt – es sei
denn, du bist bereit, das Tier selbst zu töten. So wie die Indianer
das tun.««
Ich konnte mich noch gut an das Lächeln meines
Vaters erinnern. »Dann bring das Tier eben selbst um. Du brauchst
sowieso eine gewisse Brutalität, um in dieser Welt zu überleben,
mein Kind.«
Vierzehn Jahre später und schon lange nicht mehr
so sicher, ob meine Gründe, kein Fleisch zu essen, wirklich
plausibel waren, steckte ich eine letzte Gabel augen- und zahnlosen
Fischsalat in den Mund. Dann schob ich ein Stück Bagel hinterher.
Schließlich warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Es war nun
endgültig an der Zeit, mein bisheriges Leben vollkommen auf den
Kopf zu stellen.
Ich hatte mit Hunter – der alles, was mit
Schuppen versehen war, hasste – vereinbart, ihn draußen vor dem
Lokal zu treffen. Er kam mit zweiminütiger Verspätung daher und sah
in der ausgewaschenen Jeans und dem weißen Seemannspulli
fantastisch aus. Der gehetzt wirkende Ausdruck in seinem Gesicht
war verschwunden, er hatte auch wieder angefangen, sich regelmäßig
zu rasieren und zu duschen. In den letzten Tagen hatte er sich
geradezu überschäumend vor Energie gezeigt. Die Aussicht, aufs Land
zu ziehen und somit der Natur endlich näher zu sein, wirkte
offensichtlich äußerst belebend auf ihn.
»Fertig?««
Ich faltete meine mit Fettflecken übersäte
Ausgabe der New York Times zusammen und
hakte mich bei ihm unter. »Fertig.«
Als wir gemeinsam zu unserem neuen Wagen gingen,
verspürte ich zum ersten Mal seit meinem Entschluss, ihm zu folgen,
eine gewisse Spannung und Aufregung. Dieser Umzug bedeutete einen
echten Neubeginn. Ein Abenteuer. Paare, die gemeinsam Abenteuer
meisterten, blieben doch
angeblich länger zusammen – irgendwo hatte ich das mal
gelesen.
Ich hatte vor, in Northside einer Tierarztpraxis
beizutreten und innerhalb weniger Jahre Partnerin zu werden. Schon
bald würde ich alle Bewohner des Ortes namentlich kennen, und
unsere Kinder würden im Winter einen verschneiten Pfad entlang in
die Schule stapfen – einen Pfad, auf dem man Wildspuren sehen
konnte.
Hunter drückte meine Hand mit seinem Oberarm.
»Du bist sehr still, Abs.«
»Ich denke nur an etwas Schönes.« An der Ecke
der 83. und der Amsterdam Street kam uns eine dünne, dunkelhaarige
Frau entgegen, die einen aristokratisch magersüchtigen, russischen
Windhund, einen Pudel, einen Husky und zwei Shih-Tzus ausführte.
Sie begrüßte einen Mann mit einer Strickmütze, der seinerseits mit
einem Rottweiler, einem Golden Retriever, einem Yorkshireterrier,
einem runzeligen Shar-Pei und einem lammartigen Bedlington Terrier
daherkam.
Gerade als wir an den Hunden vorübergingen,
fingen der Pudel und der Rottweiler heftig zu bellen an. Schon bald
stimmten der Zwergterrier und die Shih-Tzus mit ein. Der Bedlington
Terrier ging hinter den Beinen des Mannes in Deckung, während der
Golden Retriever und der Husky ebenfalls loslegten. Der Erste
jaulte wie ein Jagdhund, der Zweite gab ein tiefes Heulen von sich
– wie ein Wolf.
»Mein Gott, Candy, halt sie bloß fest!«, rief
der Mann und klammerte sich krampfhaft an die Leine des riesigen
Rottweilers. »Deine Monster wollen wohl meine Babies
verschlingen.«
»Normalerweise sind sie doch brav! Ruhig, mein
Junge,
ganz ruhig!« Candy riss mit aller Kraft an den Leinen. Doch die
Aggressivität des großen französischen Hundes schien den Husky und
den Windhund anzustecken. Alle drei versuchten sich nun mit vollem
Körpereinsatz von ihren Leinen loszureißen.
»Das war ja nochmal eine typische
Manhattan-Szene«, sagte Hunter lachend und ging eilig an den Hunden
vorbei.
»Vielleicht sollte ich kurz warten, um zu sehen,
ob sie mich brauchen«, meinte ich und warf einen raschen Blick über
meine Schulter, um zu sehen, wie sich die Situation
entwickelte.
»Das geht uns nichts an, Abra.«
Während mich Hunter sanft, aber bestimmt
wegführte, fiel mir bei einem letzten Blick auf, dass sich die
Hunde bereits wieder zu beruhigen begannen. Nur der Husky und der
Yorkshire bellten noch ein wenig.
Vielleicht lag es ja an meinem in letzter Zeit
stark ausgeprägten Verfolgungswahn. Aber ich hatte den Eindruck,
als würden sie sich gar nicht gegenseitig anbellen, sondern
vielmehr Hunter meinen, der sich mit raschen Schritten von ihnen
entfernte.