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Ich habe stets zu jenen
Menschen gehört, die immer genau wissen möchten, warum etwas
geschieht oder weshalb sich jemand auf eine bestimmte Weise
verhält. Man hätte eigentlich annehmen können, dass auch Hunter als
Journalist dazu tendierte, das Leben zu analysieren. Aber er
hinterfragte die Dinge nie, sondern erzählte nur seine Geschichten.
Die Zweideutigkeit seiner Stories war es wohl auch, die ihn bei
seinen Lesern so erfolgreich machte. Sie konnten ihre eigenen
Schlussfolgerungen ziehen und bekamen nicht ständig vorgekaut, wie
anmaßend sich der Mensch der Natur gegenüber verhielt – eine
Thematik, die sonst in fast jedem der Artikel des Outside zu finden war. Hunter hingegen gab seinen
Geschichten immer ein kunstvolles, offenes Ende. So war das letzte
Bild zum Beispiel die Schilderung von Blut auf der
Windschutzscheibe, während ein verletzter Hirsch davonhinkte – oder
die komplexe Stammestätowierung auf dem Gesicht einer jungen
Maori-Prostituierten.
Es wäre demnach völlig sinnlos gewesen, von
Hunter wissen zu wollen, warum sich unser Sex auf einmal so
grundlegend verändert hatte. Nach seiner Rückkehr liebten wir uns
mehrere Wochen lang täglich, und dieser unerwartete
zweite Frühling ließ mich alles andere rasch vergessen. Ich dachte
nicht mehr an die seltsame Begegnung mit dem rothaarigen Eulenmann,
sondern ging wie ferngesteuert täglich zur Arbeit, glücklich vor
mich hinlächelnd. Ich lebte derart in meiner eigenen Welt, dass mir
erst auffiel, wie blass und ausgehöhlt Malachy Knox aussah, als
mich Lilliana darauf hinwies. Unwölfe und Hunters Reise nach
Rumänien wurden von niemandem mehr erwähnt. Dr. Knox schien wie ich
die Tage schlafwandelnd zu verbringen, so dass Ofer schon bald ganz
offen über einen Wechsel seiner Hospitanzstelle sprach.
Doch während Dr. Knox einer mysteriösen
Krankheit zum Opfer gefallen schien, befand ich mich in einem
seltsamen Schwebezustand der Lust. Ich war nun ganz und gar Hunters
Sklavenmädchen – im wörtlichen und im übertragenen Sinn. Ständig
sehnte ich mich nach seiner Aufmerksamkeit und Berührung. Er
hingegen zeigte sich selbstherrlicher, fantasievoller und
leidenschaftlicher, als ich ihn je erlebt hatte.
Ich war Hunter acht Jahre zuvor während meines
ersten Jahres auf dem College begegnet. Er gehörte damals bereits
zu den höheren Semestern. Wir befanden uns beide in der
naturwissenschaftlichen Bibliothek, um dort für die
Semesterprüfungen zu büffeln. Es war an einem späten Nachmittag
Anfang November, und der Himmel hatte jene Art von düsterem Grau,
das mich kalt und einsam werden ließ.
Aus verschiedenen Gründen befand ich mich an
jenem Tag nicht gerade in bester Stimmung. Ich hatte in den Wochen
zuvor wenig geschlafen, fünf Pfund zugenommen und war von meiner
Zimmergenossin im Stich gelassen worden, weil sie fantastischen Sex
mit einem Typen in einem
anderen Studentenwohnheim hatte. Ich wusste, dass es sich um
fantastischen Sex handelte, denn manchmal spielte er sich auch in
unserem Zimmer ab. Meine Mutter hatte mir eine Postkarte geschickt,
um mir mitzuteilen, dass sie über Thanksgiving ehrenamtlich in
einem Tierheim helfen wolle und ich also gern mit meinem Vater die
Feiertage verbringen könne. Mein Vater lebte mit seiner Freundin
Moon in Key West, wo sie gemeinsam eine Art Motel leiteten. Moon
war bloß fünf Jahre älter als ich. Die meisten hielten sie
allerdings wegen ihrer dunklen Augenringe bereits für über dreißig.
Sie behauptete, hellseherische Fähigkeiten zu besitzen und so
erraten zu haben, dass ich noch Jungfrau war.
Das war allerdings kein Kunststück. Die meisten
nahmen das von mir an.
Zuerst begriff ich nicht, was der attraktive Typ
in dem Seemannspulli eigentlich wollte. Er warf mir immer wieder
einen Blick zu, runzelte die Stirn und sah dann auf seine
Armbanduhr. Von weitem erinnerte er mich an Heathcliff aus
Sturmhöhe. Ich hatte einige Tage zuvor eine meiner Kontaktlinsen
verloren und trug deshalb eine Brille mit einem blauen Gestell, das
meiner Mutter nach die Farbe meiner Augen bestens zur Geltung
brachte. Meine Augen sind allerdings grau und nicht blau.
Nach einer Weile nahm ich an, dass Heathcliff
auf meinen Platz auf der Couch unter dem Fenster spekulierte. Oder
vielleicht wartete er auch auf einen freien Computer und warf mir
nur zufällig immer wieder einen Blick zu.
Als er schließlich herüberkam und einen Zettel
auf mein aufgeschlagenes Buch legte, blickte ich überrascht auf.
Seine Miene wirkte fast finster. Vielleicht braucht er Hilfe
in Chemie, dachte ich. Ich entfaltete den kleinen Streifen Papier
und las: Scheißprüfungen. Lust auf einen Kaffee
in der Cafeteria?
Meine Überzeugung, für einen derart attraktiven
Mann höchstens eine vorübergehende Ablenkung darstellen zu können,
ließ mich völlig unbeeindruckt wirken. Ich antwortete lässig:
Noch nicht, muss erst Kapitel beenden.
Heathcliff stand neben mir und las, was ich geschrieben
hatte.
- In einer Stunde?
- Okay.
Ich war mir sicher, dass er bestimmt nicht so
lange warten würde. Doch er blieb die Stunde über da und warf mir
zwischendurch immer wieder einen interessierten Blick zu. Als die
Uhr an der Wand schließlich auf sechs zeigte, hatte ich es schon
lange aufgegeben, das Kapitel konzentriert zu Ende zu lesen.
»Fertig?« Er stand vor mir und bedachte mich mit
einem Blick, der sowohl bewundernd als auch belustigt wirkte. Es
schien fast so, als hätte er sich selbst überrascht, als er mich
ansprach. Ich war inzwischen derart nervös, dass ich mich
konzentrieren musste, um nicht auf einmal unkontrolliert zu lachen,
zu blinzeln oder übertrieben oft mit dem Kopf zu nicken. Auf dem
Weg zur Cafeteria hörte ich Hunter aufmerksam zu, während er mir
von seinem Studienfach, seinen irritierenden WG-Mitbewohnern,
seinen beruflichen Plänen und seinen Essgewohnheiten
erzählte.
Es stellte sich heraus, dass er Käse
verabscheute. Er nannte ihn – an James Joyce angelehnt – »den
Leichnam der Milch«. Ich scherzte, dass wir dann wohl ein
furchtbares Paar abgeben würden, da ich Vegetarierin war und im
Grunde vor allem von Käse lebte.
»Warum bist du Vegetarierin?« Hunter und ich
hatten uns auf eine Mahlzeit aus Kaffee und Pommes frites geeinigt.
Um uns herum schienen lauter dünnere hübschere Mädchen in engen
schwarzen Rollkragenpullis und perfekt sitzenden Jeans zu lungern,
Cappuccino zu trinken und in Mary Shelleys Frankenstein zu lesen. Nur eine von ihnen hatte eine
Brille auf, die allerdings eher so aussah, als ob sie damit
besonders intellektuell wirken wollte.
»Ich möchte die Fleischindustrie nicht auch noch
unterstützen.« Ich trug einen dunkelblauen Jogging-Anzug, während
meine Haare ungewaschen und ziemlich ungeschickt hochgesteckt
waren.
»Meinst du diese armen Batteriehühner ohne
Schnäbel? Und die süßen überfütterten Kälbchen, deren Hufe zu weich
sind, um darauf zu stehen?« Hunter schob sich ein paar Pommes in
den Mund.
»Offenbar bist du schon früher mal mit einer
Vegetarierin ausgegangen.«
Hunter lachte. Er hatte wellige braune Haare und
wunderschöne dunkle Augen, in denen man sich verlieren konnte.
Zudem saß er da wie ein Athlet, die muskulösen Schenkel gespreizt.
Später fand ich heraus, dass er in der College-Fußballmannschaft
spielte. Als er seinen Pulli auszog, konnte ich unter dem dünnen
weißen T-Shirt deutlich seine Brustmuskeln erkennen. »Kann ich dich
etwas fragen?«, meinte er.
»Klar«, erwiderte ich und versuchte, nicht allzu
nervös zu wirken.
»Wie lang sind deine Haare eigentlich, wenn du
sie offen trägt?«
Im Grunde hätte ich jetzt meine Haarklammern
herausziehen
und ihn mit meinem Haar betören sollen. Stattdessen antwortete ich
nur: »Bis zur Taille. Aber im Augenblick sind sie nicht frisch
gewaschen.«
Hunter lehnte sich zurück und trank einen
Schluck Kaffee. »Ich brauche eine Zigarette«, sagte er nach einer
Weile. »Hättest du Lust auf einen kleinen Spaziergang?«
Er will mit mir schlafen, dachte ich. Aber im
Morgengrauen würde er bestimmt in seine Höllen-WG zurückkehren und
nie mehr wieder etwas von sich hören lassen.
»Ich muss wieder ins Aquarium.« So wurde unter
den Studenten die naturwissenschaftliche Bibliothek genannt.
»Verdammte Prüfungen.«
Später erfuhr ich, dass Hunter im Alter von
sechzehn mit seiner Familie nach England gezogen war. Er hatte sich
eine Art Ralph-Lauren-Patina bewahrt, die noch ausgeprägter wurde,
als wir nach Manhattan zogen.
Draußen vor dem schlecht erleuchteten Weg zur
Bibliothek blieb er stehen und fasste mich am Ellenbogen. Sein Duft
– eine Mischung aus Männlichkeit, Zigarettengeruch und
Zitronenseife – stieg mir in die Nase und vernebelte mir fast die
Sinne. »Abra, hättest du Lust, mich wiederzusehen, oder langweile
ich dich zu Tode?«
Am liebsten hätte ich ihn in die Unterlippe
gebissen und so lange daran gesaugt, bis Blut kam. Die Erregung kam
unerwartet und raubte mir fast die Stimme. »Lust«, antwortete ich
einsilbig.
»Gut.« Auf seinem Gesicht, das im Schatten lag,
zeigte sich ein zufriedenes Lächeln. Dann zündete er sich eine
Zigarette an, und seine Miene wurde wieder undurchdringlich. Ich
hätte ihn gerne gefragt, warum er sich für mich interessierte.
Waren es allein meine Haare? Oder hatte er es
allgemein auf Jungfrauen abgesehen? Monate später nahm ich meinen
Mut zusammen und fragte ihn tatsächlich, was er damals so anziehend
an mir gefunden hatte.
»Dein Selbstbewusstsein«, antwortete Hunter.
»Wie du da in deinen bequemen Klamotten gesessen hast, völlig
versunken in die Arbeit. Im Gegensatz zu den anderen hast du kein
einziges Mal auf die Uhr gesehen. Mit den hoch gesteckten Haaren
und dieser seltsamen großen Brille aus den Achtzigern wirktest du
wie... ich weiß auch nicht. Wie eine kleine Nonne, die völlig in
sich ruht.«
Als wir schließlich zwei Wochen nach unserer
ersten Begegnung miteinander schliefen, brach ich immer wieder in
Lachen aus. Ich war es nicht gewohnt, auf erotische Weise berührt
zu werden. Am liebsten hätte ich Hunter gebeten, nicht ganz so
rücksichtsvoll zu sein, doch ich traute mich nicht. Als Mädchen war
ich viel zu oft geritten, um zu bluten, als er schließlich in mich
eindrang. Einen leichten schmerzenden Stich verspürte ich
trotzdem.
In diesem ersten Moment war ich bereit, diesem
Schmerz überallhin zu folgen. Aber Hunter hielt sich bis zum
Schluss zurück, und dann blieb mir keine Zeit mehr, um noch
aufzuholen.
»Alles in Ordnung, Cadabra?«
»Mm«, murmelte ich. In seinen Armen fühlte ich
mich sicher und geborgen.
Nachdem er eingeschlafen war, fuhr ich mit der
Hand vorsichtig zwischen meine feuchten Beine und stellte mir
Szenen aus den alten Filmen meiner Mutter vor – Szenen mit einer
hübschen jungen Hexe, sie sich in sinnlicher Panik auf einem
Scheiterhaufen wand, während Satan mit rot geschminktem Gesicht
lüstern nahte.
In Frauenzeitschriften liest man immer wieder,
wie wichtig es sei, offen und ehrlich zuzugeben, was man im Bett
will. Aber dazu gehört ein gewisses Selbstbewusstsein, das ich
nicht besaß. Ich war mir nie ganz sicher, was Hunter eigentlich an
mir liebte. Das Einzige, woran ich mich orientieren konnte, war
sein Bild einer in sich ruhenden Nonne.
Meine Mutter verhielt sich wie immer
erschreckend offen. Sie erklärte mir, dass sie nur hoffen könne,
wir hätten guten Sex, denn sie ginge davon aus, dass er mich schon
bald schlecht behandeln würde. Solche Äußerungen hinderten mich
daran, sie auf das Spiel mit dem Sklavenmädchen anzusprechen, auch
wenn ich gerne gewusst hätte, was sie davon hielt. Bedeutete
Hunters Verhalten, dass er mich auf einmal anders wahrnahm?
Oder wies es eher daraufhin, dass er mich in
Wirklichkeit gar nicht mehr wahrnahm?