11
Ich sitze in der Kantine des Instituts, und Lilliana reicht mir einen Strohkorb. »Du musst den Korb Knox bringen, Abs. Es geht ihm nicht gut.«
»Wo ist er?«
Lilliana zeigt auf den Keller. »Da unten. Geh aber direkt in sein Labor, und öffne unterwegs keine andere Tür. Hörst du?«
»Gut, versprochen.« Auf einmal bin ich in meiner Wohnung und mache die Tür zum Schlafzimmer auf. Hunter liegt auf dem Bett und masturbiert mit etwas, was wie eine Leber aussieht. Genau wie in Portnoys Beschwerden, denke ich. Auf einmal begreife ich, dass alles nur ein Traum ist.
»Ausgezeichnet. Du hast mir etwas zum Essen gebracht«, sagt Hunter. »Ist da Fleisch für mich drin?«
»Das ist nicht für dich«, erkläre ich. »Das hat etwas mit meiner Arbeit zu tun.«
Ich mache die Tür hinter mir zu und befinde mich wieder im Keller, auf dem Weg zu Malachy Knox’ Labor. In einer Ecke kauert eine junge Frau, die sich den Bauch hält, als hätte sie starke Schmerzen. Sie trägt ein rotes Sweatshirt mit Kapuze, die ihr Gesicht verbirgt. Ganz so wie in diesem Film aus den siebziger Jahren, denke ich. Wie hieß der noch mal? Ach ja – Wenn die Gondeln Trauer tragen. Als ich mich an das Ende des Films erinnere, vermute ich sogleich, dass es sich um den mörderischen Zwerg handelt.
»Alles in Ordnung?«, frage ich misstrauisch.
»Nein, überhaupt nicht«, antwortet das Mädchen und zieht die Kapuze herunter. Sie hat ein freundliches, spitzes Gesicht und scheint wütend, aber auch ängstlich zu sein. »Schau nur, was er mit mir gemacht har!«
»Du siehst doch gut aus«, entgegne ich verständnislos. Doch dann entdecke ich die behaarten Pfoten eines Wolfes, die aus ihren Ärmeln schauen. »Ach, du Arme!«
»Nein, nein. Ich bin ein Wolf«, sagte das Mädchen. »Er hat mir das hier angeran!«
Da ich nicht weiß, was ich tun soll, öffne ich den Korb und hole ein Plunderteilchen heraus.
»Danke!«, ruft sie mir hinterher und stopft sich das Gebäck gierig in den Mund. »He! Pass auf, dass er seine Kleider nicht auszieht!«
Ich nicke, obwohl ich nicht weiß, ob sie Malachy Knox oder doch jemand anderen meint. Als ich die Tür des Labors erreiche, stehe ich plötzlich vor dem Haus meiner Mutter. Mein Mann öffnet mir die Tür. Er trägt den violetten Kaftan meiner Mutter.
»Hunter«, sage ich. »Wo ist Mom?«
»Ich bin jetzt deine Mutter«, antwortet er.
»Nein. Du trägst nur ihre Kleider. Was hast du mit ihr gemacht?«
»Ich habe sie in mich aufgenommen, damit ich alles für dich sein kann. Ich habe auch keine Mutter. Wieso solltest du also eine haben? Du brauchst nichts und niemanden außer mir. Nur mich.«
»Das ist aber ziemlich übertrieben. Findest du nicht, Hunter?«
»Gib mir einfach den Korb.« Ich stelle den Korb auf einen Tisch. Ehe ich Hunter davon abhalten kann, zieht er den Kaftan aus. Ich protestiere, da ich mich an die warnenden Worte des Mädchens erinnere.
Plötzlich befindet sich Hunter auf mir. Er hat sich in einen Wolf verwandelt, seine Zähne sind nur wenige Zentimeter von meinem entblößten Hals entfernt. Ich schließe in Panik die Augen und spüre, wie er mit seinem vollen Gewicht auf mich fällt.
»Du kannst die Augen jetzt wieder öffnen«, höre ich eine mir bekannte Stimme mit einem leichten texanischen Akzent. Ich blicke auf und sehe Red Mallin. Er trägt ein Holzfällerhemd und hat eine Axt in der Hand. In meinem Traum sieht er etwas jünger und besser aus als in Wirklichkeit – wie ein Schauspieler, der nun keine Nebenrollen mehr spielt, sondern nur noch Helden darstellt.
»Ich finde, man beleuchtet dich jetzt besser«, sage ich. Als ich das Holzfällerhemd bemerke, fallen mir wieder Sams Worte ein. »Du bist kein Bär, oder?«
»Nein, ich bin ein ganz anderes Tier. Komm schon, Abra. Mach die Augen auf.«
»Aber sie sind doch schon auf. Ich sehe dich an. Merkst du das nicht?«
Red beugt sich zu mir, und ich kann seinen Atem riechen. Er hat einen angenehmen Duft, fast so, als hätte er Minze gekaut. »Du musst aufwachen, Liebling.« Und dann steckt er seine Nase in meine Haare und holt tief Luft. Ich wende mich ab, als ich bemerke, dass seine Nase kalt und nass ist. Jetzt begreife ich. Natürlich – er ist auch ein Wolf.
In diesem Moment schlage ich die Augen auf und bin hellwach.
 
Eine Weile wusste ich nicht, wo ich mich befand. Erst nach einigen Sekunden wurde mir klar, dass ich in unserem Wohnzimmer war. Ich musste auf der Couch eingeschlafen sein. Nach einem langen und überraschend mitfühlenden Telefonat mit meiner Mutter hatte ich mich hingesetzt, um die Nachrichten bei CNN zu sehen und auf Hunter zu warten.
Es hatte mir gutgetan, mit meiner Mutter über die Dalmatinerattacke und Malachy Knox zu sprechen. Aber im Grunde wollte ich vor allem meinem Mann von den Vorfällen erzählen. Ich schüttelte mich, um den lebhaften Traum loszuwerden, und schaltete den Fernseher ab. Ich war hellwach und fühlte mich beunruhigt.
Es war bereits nach ein Uhr nachts – und von Hunter keine Spur. Er hatte mich gewarnt, dass er möglicherweise noch in ein Nachtcafé gehen und dort schreiben würde. Ich sollte nicht auf ihn warten, weshalb ich also nicht einmal einen Anlass hatte, wütend zu sein. Ich stand auf, ging in die Küche, setzte Wasser auf und drehte die Flamme auf dem Gasherd auf die höchste Stufe.
Vermutlich war meine Mutter um diese Uhrzeit noch wach. Sogar höchstwahrscheinlich. Aber trotz unseres vertrauten Gesprächs einige Stunden zuvor, wollte ich ihr nicht erneut von meinen Eheproblemen erzählen.
Als sie Hunter sieben Jahre zuvor kennengelernt hatte, war sie sogleich in ihre übliche Rolle einer Filmdiva verfallen und hatte mit ihm geflirtet. Ich konnte es ihr nachsehen. Sie hatte noch nie zuvor einen Mann getroffen, mit dem ihre Tochter zusammen war, und wusste wohl einfach nur nicht, wie sie sich verhalten sollte. Als sie merkte, dass sich Hunter insgeheim über sie lustig machte, verwandelte sie sich zu seiner erklärten Gegnerin.
»Ich nehme an, dass du meine Tochter magst, weil deine Mutter dir vieles nicht bieten konnte«, erklärte sie ihm eines Tages, während sie in der Küche für die Katzen Nieren in Stücke schnitt.
»Interessante Theorie«, erwiderte Hunter und musterte sie auf eine Weise, die selbst meine Mutter nicht mehr als begehrlich interpretieren konnte. »Das könnte mich natürlich auch mit deiner Tochter verbinden. Ihr ist es sicher ganz ähnlich ergangen.«
Nachdem Hunter sein Studium abgeschlossen hatte und wir uns während der Wochenenden immer seltener sahen, fing meine Mutter an, ihn meinen Exfreund zu nennen. A la: »Du weißt schon, dieser Exfreund von dir, den ich noch nie leiden konnte.«
Die meisten Freunde nahmen an, dass Hunter und ich seit dem College ein Paar waren. Doch die Geschichte war wesentlich komplizierter. Nach meinem Abschluss zogen wir zwar zusammen, hatten aber aufgehört, miteinander zu schlafen. Hunter bezeichnete mich als seine Mitbewohnerin. Er wollte mich als Sicherheit in seiner Wohnung, damit ihm sein Vermieter nicht kündigte, wenn er in Anchorage, Pulau Pangkor oder Goa war. Ich arbeitete in verschiedenen Tierheimen, sparte Geld, so gut es ging, und bewarb mich um einen Studienplatz für Tiermedizin. Hunter kam und ging, wie es ihm gefiel. Manchmal blieb er viele Monate lang fort.
Meine Mutter wollte immer wieder wissen, wie unsere Beziehung eigentlich aussah. Ich behauptete, wir wären Freunde geworden, auch wenn mich dieser Gedanke quälte. Warum hielt ich einem Freund das Bett warm?
Ich schickte ihm die Rechnungen, wenn er nicht im Land war, und schützte ihn vor aufdringlichen Freundinnen, wenn er sich in New York befand. Seine Freundinnen fragten mich zwar um Rat, hielten sich dann aber nie daran. Ich riet ihnen, sich so zu verhalten, als wären sie nur gute Freundinnen und nicht seine Geliebten.
Schließlich ging ich für vier Jahre an die Tufts University, die sich in einem Vorort von Boston befand. Nachdem ich meinen Abschluss gemacht hatte, kam ich nach New York zurück. Ich besuchte Hunter, wir tranken und hatten dann die ganze Nacht lang wilden Sex. Es machte unglaublich viel Spaß. Ich hatte vergessen, wie gut Sex sein konnte – fast wie eine Runde Twister: den linken Fuß auf den roten Punkt, den rechten Arm auf den blauen, und los geht’s!
Wir heirateten ein Jahr später einen Tag nach dem Valentinstag im Standesamt von Manhattan. Ich versuchte Hunter nicht zu verraten, wie überrascht ich über diese Entwicklung war. Schließlich gibt es keine würdevolle Art, einen Mann zu fragen, wieso er einen eigentlich heiraten will.
Wir hatten niemanden zu unserer Hochzeit eingeladen, baten also ein anderes Paar, das nach uns heiraten wollte, als unsere Trauzeugen zu fungieren. Ich trug ein hellbeiges Seidenkleid, das im Geschäft fantastisch ausgesehen hatte, mich aber ernst und matronenhaft wirken ließ. Hunter zog eine Jeans und einen Pulli an.
Unsere Flitterwochen bestanden aus einem unerträglichen Wochenende in dem gewaltigen viktorianischen Haus seiner Familie in Northside, New York. Da sich Hunters Mutter das Leben genommen hatte, gab es nur noch den Vater, der sich überraschenderweise im Haus aufhielt, als wir eintrafen. Er wiederholte immer wieder, wie überrascht er doch sei, dass wir geheiratet hätten. Allerdings betonte er auch, welch stolze Familie die Barrows darstellten und welche Verantwortung das für zukünftige Generationen bedeutete. Ich brauchte einen Tag, um zu begreifen, dass mich Hunters Vater für wohlhabend hielt. Ein wenig beschämt erklärte ich ihm, dass weder meine Mutter noch mein Vater das Geld hätten, sein Haus renovieren zu lassen – selbst wenn das Turmzimmer einsturzgefährdet sein mochte, die Heizkörper aus den zwanziger Jahren stammten und wie Katzen zischten, aber kaum Hitze abgaben, und das obere Stockwerk noch immer Gasbeleuchtung hatte.
Selbst wenn es sich um das Erbe meiner zukünftigen Kinder handelte.
»Na ja«, meinte Hunter grinsend. »Vielleicht könnten wir einfach deine Mutter um die Ecke bringen und ins El-Greco-Haus ziehen.«
Letztlich war es sein Vater, der uns finanziell immer wieder unter die Arme griff, als sich Hunter dem Journalismus widmete und ich mich für die Stelle als Assistenzärztin am tiermedizinischen Institut bewarb. Trotzdem ließ sich meine Mutter nicht von ihrem Verdacht abbringen. Ihrer Meinung nach war Hunter nicht über den Weg zu trauen.
Der Wasserkessel pfiff, also zog ich ihn vom Herd. Dann goss ich heißes Wasser in einen Becher mit Kakaopulver, als das Telefon klingelte.
»Hallo, mein Schatz.«
Es war nicht Hunter, sondern meine Mutter. Idiotischerweise hatte ich noch rasch einen Schluck heißen Kakao getrunken und musste nun husten.
»Hallo! Hallo? Geht es dir gut?« Meine Mutter klang überraschend besorgt.
»Entschuldige, Mom. Ich hab mir gerade meine Zungenspitze verbrannt.««
»Liebling, was ist los?«
Ich brach sofort zusammen. »Oh, Mom! Hunter ist noch nicht zu Hause. Ich konnte ihm noch nicht einmal davon erzählen, was im Institut passiert ist.« Auch nicht, dass er möglicherweise den Lykanthropievirus aufgeschnappt har- eine Befürchtung, von der ich meiner Mutter allerdings auch zuvor nichts erzählt hatte. »Ich habe Angst, dass Hunter mich endgültig verlassen will.«
»Ist das alles? Ach, Liebes, und ich mache mir Sorgen, dass er dich nicht verlässt.««
Für einen Augenblick überlegte ich, ob ich auflegen sollte. Doch stattdessen erzählte ich ihr von meinem verwirrenden Traum.
»Bist du dir sicher, dass dieser Typ aus Texas auch ein Wolf war? Deine Karten haben einen Wolf und einen Kojoten gezeigt.«
Ich dachte nach. »Ich glaube, eigentlich war er nur dieser Mann, den ich vor kurzem kennengelernt habe. Vermutlich musste ich lediglich an eine Äußerung denken, die ich gehört hatte. Nämlich dass alle Männer Wölfe sind.«
»Du hast einen Mann kennengelernt?« Meine Mutter klang hellauf begeistert. So ließ sie sich gern vom Thema abbringen.
»Er bringt wilde Tiere fort, die in irgendwelchen Speichern oder Gärten hausen. Das heißt im Klartext, dass er die Eichhörnchen tötet, die in deinen Bäumen leben, Mom. Also mach dir keine falschen Hoffnungen.« Jedenfalls nahm ich an, dass Red so etwas tat. Als mir die kleine Eule einfiel, war ich mir allerdings nicht mehr so sicher.
»Oh... na ja. Aber falls er attraktiv ist, solltest du wenigstens mit ihm schlafen. Du begehst den großen Fehler, Hunter dein ganzes Leben bestimmen zu lassen. Ich wäre wirklich erleichtert, wenn du zumindest hier und da deinen Mann auch mal betrügen würdest. Das wäre schon ein großer Fortschritt für dich, Abra.«
Nun legte ich wirklich auf.
Wolfstraeume Roman
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