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Ich sitze in der Kantine
des Instituts, und Lilliana reicht mir einen Strohkorb. »Du musst
den Korb Knox bringen, Abs. Es geht ihm nicht gut.«
»Wo ist er?«
Lilliana zeigt auf den Keller. »Da unten. Geh
aber direkt in sein Labor, und öffne unterwegs keine andere Tür.
Hörst du?«
»Gut, versprochen.« Auf einmal bin ich in meiner
Wohnung und mache die Tür zum Schlafzimmer auf. Hunter liegt auf
dem Bett und masturbiert mit etwas, was wie eine Leber aussieht.
Genau wie in Portnoys Beschwerden, denke ich. Auf einmal begreife
ich, dass alles nur ein Traum ist.
»Ausgezeichnet. Du hast mir etwas zum Essen
gebracht«, sagt Hunter. »Ist da Fleisch für mich drin?«
»Das ist nicht für dich«, erkläre ich. »Das hat
etwas mit meiner Arbeit zu tun.«
Ich mache die Tür hinter mir zu und befinde mich
wieder im Keller, auf dem Weg zu Malachy Knox’ Labor. In einer Ecke
kauert eine junge Frau, die sich den Bauch hält, als hätte sie
starke Schmerzen. Sie trägt ein rotes Sweatshirt mit Kapuze, die
ihr Gesicht verbirgt. Ganz so wie in diesem Film aus den siebziger
Jahren, denke ich. Wie hieß der noch
mal? Ach ja – Wenn die Gondeln Trauer
tragen. Als ich mich an das Ende des Films erinnere, vermute
ich sogleich, dass es sich um den mörderischen Zwerg handelt.
»Alles in Ordnung?«, frage ich
misstrauisch.
»Nein, überhaupt nicht«, antwortet das Mädchen
und zieht die Kapuze herunter. Sie hat ein freundliches, spitzes
Gesicht und scheint wütend, aber auch ängstlich zu sein. »Schau
nur, was er mit mir gemacht har!«
»Du siehst doch gut aus«, entgegne ich
verständnislos. Doch dann entdecke ich die behaarten Pfoten eines
Wolfes, die aus ihren Ärmeln schauen. »Ach, du Arme!«
»Nein, nein. Ich bin ein Wolf«, sagte das
Mädchen. »Er hat mir das hier angeran!«
Da ich nicht weiß, was ich tun soll, öffne ich
den Korb und hole ein Plunderteilchen heraus.
»Danke!«, ruft sie mir hinterher und stopft sich
das Gebäck gierig in den Mund. »He! Pass auf, dass er seine Kleider
nicht auszieht!«
Ich nicke, obwohl ich nicht weiß, ob sie Malachy
Knox oder doch jemand anderen meint. Als ich die Tür des Labors
erreiche, stehe ich plötzlich vor dem Haus meiner Mutter. Mein Mann
öffnet mir die Tür. Er trägt den violetten Kaftan meiner
Mutter.
»Hunter«, sage ich. »Wo ist Mom?«
»Ich bin jetzt deine Mutter«, antwortet
er.
»Nein. Du trägst nur ihre Kleider. Was hast du
mit ihr gemacht?«
»Ich habe sie in mich aufgenommen, damit ich
alles für dich sein kann. Ich habe auch keine Mutter. Wieso
solltest du also eine haben? Du brauchst nichts und niemanden außer
mir. Nur mich.«
»Das ist aber ziemlich übertrieben. Findest du
nicht, Hunter?«
»Gib mir einfach den Korb.« Ich stelle den Korb
auf einen Tisch. Ehe ich Hunter davon abhalten kann, zieht er den
Kaftan aus. Ich protestiere, da ich mich an die warnenden Worte des
Mädchens erinnere.
Plötzlich befindet sich Hunter auf mir. Er hat
sich in einen Wolf verwandelt, seine Zähne sind nur wenige
Zentimeter von meinem entblößten Hals entfernt. Ich schließe in
Panik die Augen und spüre, wie er mit seinem vollen Gewicht auf
mich fällt.
»Du kannst die Augen jetzt wieder öffnen«, höre
ich eine mir bekannte Stimme mit einem leichten texanischen Akzent.
Ich blicke auf und sehe Red Mallin. Er trägt ein Holzfällerhemd und
hat eine Axt in der Hand. In meinem Traum sieht er etwas jünger und
besser aus als in Wirklichkeit – wie ein Schauspieler, der nun
keine Nebenrollen mehr spielt, sondern nur noch Helden
darstellt.
»Ich finde, man beleuchtet dich jetzt besser«,
sage ich. Als ich das Holzfällerhemd bemerke, fallen mir wieder
Sams Worte ein. »Du bist kein Bär, oder?«
»Nein, ich bin ein ganz anderes Tier. Komm
schon, Abra. Mach die Augen auf.«
»Aber sie sind doch schon auf. Ich sehe dich an.
Merkst du das nicht?«
Red beugt sich zu mir, und ich kann seinen Atem
riechen. Er hat einen angenehmen Duft, fast so, als hätte er Minze
gekaut. »Du musst aufwachen, Liebling.« Und dann steckt er seine
Nase in meine Haare und holt tief Luft. Ich wende mich ab, als ich
bemerke, dass seine Nase kalt und nass ist. Jetzt begreife ich.
Natürlich – er ist auch ein Wolf.
In diesem Moment schlage ich die Augen auf und
bin hellwach.
Eine Weile wusste ich nicht, wo ich mich befand.
Erst nach einigen Sekunden wurde mir klar, dass ich in unserem
Wohnzimmer war. Ich musste auf der Couch eingeschlafen sein. Nach
einem langen und überraschend mitfühlenden Telefonat mit meiner
Mutter hatte ich mich hingesetzt, um die Nachrichten bei CNN zu
sehen und auf Hunter zu warten.
Es hatte mir gutgetan, mit meiner Mutter über
die Dalmatinerattacke und Malachy Knox zu sprechen. Aber im Grunde
wollte ich vor allem meinem Mann von den Vorfällen erzählen. Ich
schüttelte mich, um den lebhaften Traum loszuwerden, und schaltete
den Fernseher ab. Ich war hellwach und fühlte mich
beunruhigt.
Es war bereits nach ein Uhr nachts – und von
Hunter keine Spur. Er hatte mich gewarnt, dass er möglicherweise
noch in ein Nachtcafé gehen und dort schreiben würde. Ich sollte
nicht auf ihn warten, weshalb ich also nicht einmal einen Anlass
hatte, wütend zu sein. Ich stand auf, ging in die Küche, setzte
Wasser auf und drehte die Flamme auf dem Gasherd auf die höchste
Stufe.
Vermutlich war meine Mutter um diese Uhrzeit
noch wach. Sogar höchstwahrscheinlich. Aber trotz unseres
vertrauten Gesprächs einige Stunden zuvor, wollte ich ihr nicht
erneut von meinen Eheproblemen erzählen.
Als sie Hunter sieben Jahre zuvor kennengelernt
hatte, war sie sogleich in ihre übliche Rolle einer Filmdiva
verfallen und hatte mit ihm geflirtet. Ich konnte es ihr nachsehen.
Sie hatte noch nie zuvor einen Mann getroffen, mit
dem ihre Tochter zusammen war, und wusste wohl einfach nur nicht,
wie sie sich verhalten sollte. Als sie merkte, dass sich Hunter
insgeheim über sie lustig machte, verwandelte sie sich zu seiner
erklärten Gegnerin.
»Ich nehme an, dass du meine Tochter magst, weil
deine Mutter dir vieles nicht bieten konnte«, erklärte sie ihm
eines Tages, während sie in der Küche für die Katzen Nieren in
Stücke schnitt.
»Interessante Theorie«, erwiderte Hunter und
musterte sie auf eine Weise, die selbst meine Mutter nicht mehr als
begehrlich interpretieren konnte. »Das könnte mich natürlich auch
mit deiner Tochter verbinden. Ihr ist es sicher ganz ähnlich
ergangen.«
Nachdem Hunter sein Studium abgeschlossen hatte
und wir uns während der Wochenenden immer seltener sahen, fing
meine Mutter an, ihn meinen Exfreund zu nennen. A la: »Du weißt
schon, dieser Exfreund von dir, den ich noch nie leiden
konnte.«
Die meisten Freunde nahmen an, dass Hunter und
ich seit dem College ein Paar waren. Doch die Geschichte war
wesentlich komplizierter. Nach meinem Abschluss zogen wir zwar
zusammen, hatten aber aufgehört, miteinander zu schlafen. Hunter
bezeichnete mich als seine Mitbewohnerin. Er wollte mich als
Sicherheit in seiner Wohnung, damit ihm sein Vermieter nicht
kündigte, wenn er in Anchorage, Pulau Pangkor oder Goa war. Ich
arbeitete in verschiedenen Tierheimen, sparte Geld, so gut es ging,
und bewarb mich um einen Studienplatz für Tiermedizin. Hunter kam
und ging, wie es ihm gefiel. Manchmal blieb er viele Monate lang
fort.
Meine Mutter wollte immer wieder wissen, wie
unsere
Beziehung eigentlich aussah. Ich behauptete, wir wären Freunde
geworden, auch wenn mich dieser Gedanke quälte. Warum hielt ich
einem Freund das Bett warm?
Ich schickte ihm die Rechnungen, wenn er nicht
im Land war, und schützte ihn vor aufdringlichen Freundinnen, wenn
er sich in New York befand. Seine Freundinnen fragten mich zwar um
Rat, hielten sich dann aber nie daran. Ich riet ihnen, sich so zu
verhalten, als wären sie nur gute Freundinnen und nicht seine
Geliebten.
Schließlich ging ich für vier Jahre an die Tufts
University, die sich in einem Vorort von Boston befand. Nachdem ich
meinen Abschluss gemacht hatte, kam ich nach New York zurück. Ich
besuchte Hunter, wir tranken und hatten dann die ganze Nacht lang
wilden Sex. Es machte unglaublich viel Spaß. Ich hatte vergessen,
wie gut Sex sein konnte – fast wie eine Runde Twister: den linken
Fuß auf den roten Punkt, den rechten Arm auf den blauen, und los
geht’s!
Wir heirateten ein Jahr später einen Tag nach
dem Valentinstag im Standesamt von Manhattan. Ich versuchte Hunter
nicht zu verraten, wie überrascht ich über diese Entwicklung war.
Schließlich gibt es keine würdevolle Art, einen Mann zu fragen,
wieso er einen eigentlich heiraten will.
Wir hatten niemanden zu unserer Hochzeit
eingeladen, baten also ein anderes Paar, das nach uns heiraten
wollte, als unsere Trauzeugen zu fungieren. Ich trug ein hellbeiges
Seidenkleid, das im Geschäft fantastisch ausgesehen hatte, mich
aber ernst und matronenhaft wirken ließ. Hunter zog eine Jeans und
einen Pulli an.
Unsere Flitterwochen bestanden aus einem
unerträglichen Wochenende in dem gewaltigen viktorianischen
Haus seiner Familie in Northside, New York. Da sich Hunters Mutter
das Leben genommen hatte, gab es nur noch den Vater, der sich
überraschenderweise im Haus aufhielt, als wir eintrafen. Er
wiederholte immer wieder, wie überrascht er doch sei, dass wir
geheiratet hätten. Allerdings betonte er auch, welch stolze Familie
die Barrows darstellten und welche Verantwortung das für zukünftige
Generationen bedeutete. Ich brauchte einen Tag, um zu begreifen,
dass mich Hunters Vater für wohlhabend hielt. Ein wenig beschämt
erklärte ich ihm, dass weder meine Mutter noch mein Vater das Geld
hätten, sein Haus renovieren zu lassen – selbst wenn das Turmzimmer
einsturzgefährdet sein mochte, die Heizkörper aus den zwanziger
Jahren stammten und wie Katzen zischten, aber kaum Hitze abgaben,
und das obere Stockwerk noch immer Gasbeleuchtung hatte.
Selbst wenn es sich um das Erbe meiner
zukünftigen Kinder handelte.
»Na ja«, meinte Hunter grinsend. »Vielleicht
könnten wir einfach deine Mutter um die Ecke bringen und ins
El-Greco-Haus ziehen.«
Letztlich war es sein Vater, der uns finanziell
immer wieder unter die Arme griff, als sich Hunter dem Journalismus
widmete und ich mich für die Stelle als Assistenzärztin am
tiermedizinischen Institut bewarb. Trotzdem ließ sich meine Mutter
nicht von ihrem Verdacht abbringen. Ihrer Meinung nach war Hunter
nicht über den Weg zu trauen.
Der Wasserkessel pfiff, also zog ich ihn vom
Herd. Dann goss ich heißes Wasser in einen Becher mit Kakaopulver,
als das Telefon klingelte.
»Hallo, mein Schatz.«
Es war nicht Hunter, sondern meine Mutter.
Idiotischerweise
hatte ich noch rasch einen Schluck heißen Kakao getrunken und
musste nun husten.
»Hallo! Hallo? Geht es dir gut?« Meine Mutter
klang überraschend besorgt.
»Entschuldige, Mom. Ich hab mir gerade meine
Zungenspitze verbrannt.««
»Liebling, was ist los?«
Ich brach sofort zusammen. »Oh, Mom! Hunter ist
noch nicht zu Hause. Ich konnte ihm noch nicht einmal davon
erzählen, was im Institut passiert ist.« Auch nicht, dass er
möglicherweise den Lykanthropievirus aufgeschnappt har- eine
Befürchtung, von der ich meiner Mutter allerdings auch zuvor nichts
erzählt hatte. »Ich habe Angst, dass Hunter mich endgültig
verlassen will.«
»Ist das alles? Ach, Liebes, und ich mache mir
Sorgen, dass er dich nicht verlässt.««
Für einen Augenblick überlegte ich, ob ich
auflegen sollte. Doch stattdessen erzählte ich ihr von meinem
verwirrenden Traum.
»Bist du dir sicher, dass dieser Typ aus Texas
auch ein Wolf war? Deine Karten haben einen Wolf und einen Kojoten
gezeigt.«
Ich dachte nach. »Ich glaube, eigentlich war er
nur dieser Mann, den ich vor kurzem kennengelernt habe. Vermutlich
musste ich lediglich an eine Äußerung denken, die ich gehört hatte.
Nämlich dass alle Männer Wölfe sind.«
»Du hast einen Mann kennengelernt?« Meine Mutter
klang hellauf begeistert. So ließ sie sich gern vom Thema
abbringen.
»Er bringt wilde Tiere fort, die in
irgendwelchen Speichern oder Gärten hausen. Das heißt im Klartext,
dass er
die Eichhörnchen tötet, die in deinen Bäumen leben, Mom. Also mach
dir keine falschen Hoffnungen.« Jedenfalls nahm ich an, dass Red so
etwas tat. Als mir die kleine Eule einfiel, war ich mir allerdings
nicht mehr so sicher.
»Oh... na ja. Aber falls er attraktiv ist,
solltest du wenigstens mit ihm schlafen. Du begehst den großen
Fehler, Hunter dein ganzes Leben bestimmen zu lassen. Ich wäre
wirklich erleichtert, wenn du zumindest hier und da deinen Mann
auch mal betrügen würdest. Das wäre schon ein großer Fortschritt
für dich, Abra.«
Nun legte ich wirklich auf.