6
Irgendwann musste ich
mir allerdings eingestehen, dass tatsächlich irgendetwas nicht
stimmte. Aber dazu brauchte ich eine ganze Weile. Benebelt von den
ungewohnt häufigen Berührungen, fand ich problemlos in den Schlaf
und konnte so gut durchschlafen wie seit meiner frühen Pubertät
nicht mehr. Schlaftabletten waren eine Sache von gestern. Ich hatte
die wahre Heilmethode für meine Schlaflosigkeit gefunden:
Komatisierung durch Dauersex.
Hunter machte schon Witze darüber. Normalerweise
sei es ja wohl der Mann, der nach dem Liebesspiel erschöpft
einnickte. Ich war allerdings weniger körperlich ausgelaugt als
vielmehr emotional befriedigt. Zum ersten Mal in meinem Leben
schaltete mein Gehirn nicht in den Sorge-Modus, wenn ich mich
hinlegte und die Augen schloss. Hunter schien mich und meinen
Zustand richtiggehend unter seine Kontrolle gebracht zu haben –
oder vielleicht hatte ich auch nur gelernt, wie man sich wirklich
hingibt.
Doch nach und nach bemerkte ich, dass niemand
neben mir lag, während ich schlief. Hunters Seite des Bettes blieb
leer, wenn ich einschlief, und war auch nicht zerknittert, wenn ich
wieder aufwachte. Ich entdeckte Anzeichen von späten Essgelagen in
der Küche – schmutzige Teller, die sich
im Spülbecken stapelten, leere Kartons im Müll, in denen sich
Fertigessen befunden hatte und die am Abend zuvor noch nicht da
gewesen waren. Wir hatten schon vor vielen Jahren vereinbart, dass
er kein Fleisch mit in unsere Wohnung brächte. Doch nun schien er
sich nach Mitternacht mit Spareribs und Fleischbällchen
vollzustopfen. Ständig stieg der Geruch von totem Fleisch in meine
empfindliche Nase, und selbst ein kräftiges Durchlüften der Zimmer
nützte nichts. Als ich mich beklagte, lachte Hunter nur und
versprach, die Mülltüten in Zukunft vor die Tür zu tragen.
Es kam ihm gar nicht in den Sinn, sich für das
Brechen unserer Abmachung zu entschuldigen, und ich forderte ihn
dazu auch nicht auf. Ebenso wenig fragte ich ihn, warum er auf
einmal weniger empfindlich war und es ihm nichts mehr ausmachte,
während meiner Periode mit mir zu schlafen. Vielmehr schien er es
geradezu zu genießen. Auch wenn mir dieser Aspekt seiner neu
entdeckten Erdverbundenheit gefiel, so war ich doch weniger
begeistert, als er anfing, nur noch alle paar Tage zu duschen. Er
rasierte sich auch immer seltener, und seine Stoppeln hinterließen
auf meinem Gesicht und zwischen meinen Schenkeln rote
Kratzspuren.
Nachts wurde ich von wilden Träumen heimgesucht,
an die ich mich am nächsten Morgen nie genau erinnern konnte. Ich
wusste meistens nur noch, dass sich ein kompliziertes Drama
abgespielt hatte; auf Einzelheiten vermochte ich mich nicht zu
besinnen. Allein verschwommene Bilder tauchten vor meinem inneren
Auge auf: ein nächtlicher Sternenhimmel auf dem Land; ein riesiger
Mond, vor den sich eine dunkle Wolke schob; mein Mann, der mich
aufs Bett drückte, während ich ängstlich wimmerte; Malachy
Knox in seinem weißen Labormantel, wie er eine halbtote Katze
hochhielt und Sam, Lilliana und Ofer erklärte, dass sie es lernen
müssten zu töten. »Fangt klein an«, sagte er. »Mit einem Verletzten
wie diesem Kerl hier. Dann steigert euch. Sucht euch ein größeres
Opfer. Tut euch zusammen, um es gemeinsam zu schaffen.«
Ich hob eine Hand und fragte: »Und was ist mit
mir?«
»Sie sind natürlich das größere Opfer«, erklärte
Knox, woraufhin mich meine Kollegen mit gesteigertem Interesse
musterten.
Mein inneres Leben schien plötzlich aus einem
zweitklassigen Horrorfilm zu bestehen. Vermutlich wäre meine Mutter
stolz auf mich gewesen.
Nach mehreren Wochen solch diffuser Albträume
beschäftigte mich eines Nachts eine andere Art von Geschichte. Ich
befand mich in einer U-Bahn voller Menschen. Es war so eng, dass
ich zwischen mehreren Fahrgästen eingeklemmt stand. Auf einmal
spürte ich, wie sich jemand langsam an mir rieb. Im wirklichen
Leben hätte ich panisch und angewidert reagiert, doch im Traum
fühlten sich die sanften Berührungen meines Rückens und Pos wie
Wellen an, die in mir hochstiegen – sinnlich und unpersönlich,
anonym und äußerst erotisch.
Eine männliche Hand fasste mich an der Taille.
Das ist wie aus der Geschichte von Anaïs Nin, dachte ich, jener
Geschichte über eine Frau und einen Fremden im Zug. Ich gab mich
ganz dem unerlaubten Genuss hin. Als sich der Fremde mit
geschmeidigen Bewegungen an meinen Rücken presste, begann ich, mir
den gesichtslosen Mann hinter mir auszumalen – bis ich auf einmal
ohne Vorwarnung selbst zu diesem Mann wurde. Jetzt versuchte ich,
nicht
die Beherrschung zu verlieren und mich ganz auf diesen
Körperkontakt zu konzentrieren. Ich atmete schneller und konnte
schon bald kaum mehr an mich halten.
Dann kehrte ich plötzlich wieder in meinen
eigenen Körper zurück. Ich blickte auf und entdeckte eine Eule, die
auf dem Haltegriff über mir saß, ihren Kopf um einhundertachtzig
Grad drehte und mir zuzwinkerte. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass
der Mann, der mich berührte, eigentlich gar kein Fremder war –
zumindest kein Wildfremder.
»Hören Sie auf«, sagte ich entschlossen und
versuchte mich aus seiner Umarmung zu befreien. Fast schien es so,
als ob ein Bann gebrochen worden war, nachdem ich den Mann erkannt
hatte.
»Einen Moment noch, Liebling. Ich bin gleich so
weit«, erwiderte Red. Er klang so, als ob er eine weite Strecke im
Laufschritt zurückgelegt hätte.
»Kommt nicht in Frage«, entgegnete ich und stieß
ihn von mir.
»Er hat Sie von oben bis unten gezeichnet«,
meinte eine Frau, hob meine Bluse hoch und betrachtete neugierig
meinen entblößten Rücken. Im Traum kam es mir gar nicht seltsam
vor, dass Reds Berührung durch den Stoff meiner Bluse gedrungen
war. Es schien auch natürlich zu sein, dass ich mich auf einmal von
oben sehen und meinen Rücken begutachten konnte, der mit
scharlachroten Zeichen bedeckt war und kalligraphisch wie eine
Geschichte der Aborigines oder ein komplizierter Schamanenzauber
aussah.
Ich wachte mit einem Schlag auf und stellte
fest, dass ich allein war. Die Uhr auf dem Nachttischchen zeigte
auf drei. Draußen herrschte völlige Dunkelheit. Ich schwang die
Beine vom Bett und tapste unsicher in den Flur hinaus.
»Hunter? Bist du wach?« Während ich meinen Mann
in der ganzen Wohnung suchte, dachte ich an den erotischen Traum.
Wieso träumte ich von einem abgerissenen Typen, wenn mich der
einzige Mann, den ich jemals begehrt hatte, endlich auf eine Weise
wahrnahm und liebte, wie ich sie mir immer von ihm erhofft
hatte?
Hunter war nirgends zu finden. Ich kehrte zwar
ins Bett zurück und zwang mich dazu, liegen zu bleiben, aber in
jener Nacht fand ich keinen Schlaf mehr. Erst am Morgen, als ich
ins Bad ging und duschte, bemerkte ich die roten Abdrücke auf
meinem Rücken. Ich wusste, dass es sich um Lakenabdrücke auf meiner
Haut handelte, die schon wieder nachließen; aber im ersten Moment
hatten sie im Spiegel wie geheimnisvolle Symbole ausgesehen.
Hunter kehrte wenige Minuten, ehe ich mich auf
den Weg zur Arbeit machte, nach Hause zurück. Er war verschwitzt
und zerzaust. Angeblich war er früh aufgestanden, um joggen zu
gehen.
Um es mit Upton Sinclair auszudrücken: Es ist
schwer, jemandem etwas begreiflich zu machen, wenn seine Ehe darauf
basiert, dass er es nicht begreift. Aber selbst ich musste
allmählich zu der Einsicht kommen, dass sich unser zweiter Frühling
dem Ende näherte.
Allerdings gönnte ich mir noch eine gewisse
Schonfrist und tat so, als würde ich nicht begreifen, warum das so
war.