33
Das letzte Mal, als ich Hunter gesehen hatte, war am Morgen des Thanksgiving-Tages gewesen. Und zwar glatt rasiert. Weniger als achtundvierzig Stunden später stand er nun vor mir und sah wie eine fiese Ausgabe von Grizzly Adams aus. Mit einem Schlag kam mir die ganze Lykanthropie-Geschichte nicht mehr so unwahrscheinlich vor.
»Hunter!«
Er trug ein schwarzes Sweatshirt, dunkle Jeans und wirkte beinahe wie ein bärtiger Auftragskiller.
»Hallo, Abra.« Seine Nasenflügel bebten so, dass ich mich fragte, ob er wohl meinen Geruch einsog. Wir wurden uns gleichzeitig der Gegenwart von Red bewusst, der ja hinter mir stand.
Ich warf einen Blick über die Schulter und hoffte inbrünstig, einen normalen, wachsamen Red zu sehen, entspannt und vorsichtig. Zum Glück hatte er es tatsächlich geschafft, seinem üblichen Selbst recht nahezukommen – zumindest wenn man nicht das bleiche Gesicht, die gelben Augen und den Schweißfilm bemerkte.
»Hallo, Hunter.«
»Hi, Red. Und? Fickst du schon meine Frau?« Hunter trat einen Schritt näher und schnüffelte. »Ah, also noch nicht. Verstehe. Aber du wirst ihr so lange hündisch ergeben folgen, bis sie einen schwachen Moment hat. Ist das der Plan?«
Red lächelte. Es war kein freundliches Lächeln. Seine Zähne wirkten auf einmal sehr scharf. »Sieht ganz so aus, als wärst du auch auf den Hund gekommen?«
»Sie trägt mein Kind in ihrem Bauch.«
»Hunter!« Die Leute in der Bar hörten uns gespannt zu.
»Nein, tut mir leid, mein Guter. Das tut sie nicht. Das ist nur der Virus, der sich bemerkbar macht. Sie hat ihn jetzt auch.«
»Was weißt du denn schon davon, Kammerjäger?« Hunter stand von seinem Barhocker auf, und ich spürte, wie mir das Adrenalin durch den Körper schoss. Ich war beileibe nicht die Einzige, die merkte, dass Gewalt in der Luft lag. Die anderen Gäste flüsterten miteinander und begannen, sich um uns zu versammeln.
»Macht das draußen aus, Jungs«, erklärte Reds Bekannter, der für alle zu sprechen schien.
»Red, tu es nicht.« Ich packte ihn am Arm. Mir kam nicht einmal im Entferntesten der Gedanke, meinen Mann festzuhalten.
Red sah mich an und nahm dann mein Kinn in seine Hand, um in Sekundenschnelle seine Lippen auf die meinen zu pressen. Noch ehe ich protestieren konnte, erkundete er mit seiner Zunge meinen Mund. Ich versuchte ihn wegzustoßen. Ich spürte Hunters Blick, aber auch die Erregung, die sogleich wieder zwischen Red und mir aufkam.
Toll – jetzt lagen also Gewalt und Lust in der Luft.
»Herrlich«, murmelte Red, nachdem er sich von mir gelöst hatte, und blickte Hunter an.
Es war eine eindeutige Herausforderung.
»Nach draußen, Red. Offenbar haben wir einiges zu klären.«
Red grinste. Zu meiner Überraschung lernte ich eine Seite von ihm kennen, die mir bisher verborgen geblieben war: Er genoss die Situation. Er schien das Ganze amüsant zu finden, während Hunter sichtbar nichts anderes empfand als Wut und verletzten Stolz. »Was? Nach draußen? Jetzt? Vor all den Leuten?«
»Bist du auch noch ein feiges Schwein oder was?«
Reds Augen wurden zu schmalen, belustigt blitzenden Schlitzen. »Also, also... Stock und Stein brechen vielleicht mein Gebein, aber solche Worte bringen noch mehr Pein... zu dir oder zu mir, Süßer?«
»Zu mir.« Hunter wies mit dem Daumen auf mich, als wäre ich sein Hund. »Abra kommt mit mir.«
»Den Teufel wird sie tun.«
Ich legte Red meine verbrannte Hand auf die Schulter. »Ist schon in Ordnung.«
Er schüttelte den Kopf und sah mich eindringlich an. »Tu das nicht, Doc.«
Hunter lachte. »Du kannst sie nicht sonderlich gut kennen, wenn du meinst, dass sie das überzeugt. Komm, Abs, fahren wir.«
Ich hoffte insgeheim, auf der Fahrt ausreichend Zeit zu haben, um Hunter den Kampf auszureden. Also folgte ich ihm aus dem Moondoggie’s hinaus in die Nacht. Vor Angst und Kälte schlotterte ich am ganzen Körper. Red, der sich unmittelbar hinter uns befand, fluchte leise vor sich hin. Über uns warf der aufgegangene Mond sein Licht wie ein kleiner Scheinwerfer auf das Drama, das sich zwischen uns dreien abspielte. »Wenn du ihr etwas antust«, knurrte Red, »wirst du bitter dafür büßen.«
Hunter warf ihm einen Blick über die Schulter hinweg zu. »Ihr werde ich nichts antun, du Schwächling!« Er schloss den Wagen auf. Ich öffnete die Beifahrertür und stieg ein. Während Hunter den Motor anließ, beobachtete uns Red mit geballten Fäusten und einem derart angespannten Körper, wie ich ihn noch nicht an ihm gesehen hatte. Dann sprang er ebenfalls in sein Auto, um uns zu folgen.
Hunter warf ebenso wie ich immer wieder einen Blick in den Rückspiegel, um zu sehen, ob Reds Wagen hinter uns blieb. Nach einer Weile sah er mich an. »Was findest du nur an diesem Arschloch?«
»Er ist das Gegenteil von dir«, erwiderte ich. Dann erinnerte ich mich an den eigentlichen Grund, warum ich überhaupt noch mit ihm in einem Auto saß. »Erklär mir lieber, warum ihr beide miteinander kämpfen wollt. Er hat mich dir ja gar nicht weggenommen. Du willst mich doch in Wahrheit gar nicht mehr.«
»Er ist in mein Gebiet eingedrungen«, erklärte Hunter schlicht, ehe er auf einen Seitenweg abbog. »Außerdem will er kämpfen. Genau wie ich. Das ist offensichtlich.« Als er kalt lächelte, konnte ich seine scharfen Wolfszähne aufblitzen sehen. »Jedenfalls noch. Ich vermute, dass dein Bürschchen in einer Viertelstunde seine Meinung geändert haben dürfte.«
Hunter hatte Recht. Er war stärker und größer als Red. Es würde kein ausgewogener Kampf werden. Am liebsten hätte ich meinen Mann angefleht, es nicht so weit kommen zu lassen, aber ich war mir nicht sicher, ob mein Flehen überhaupt eine Wirkung gezeigt hätte. Ich hatte mich in eine Lage gebracht, wo sich Eifersucht und verletzter Stolz zu einer echten körperlichen Bedrohung entwickelten und sichtbare Wunden hinterlassen konnten.
Der Mond schien uns auf der Fahrt zu folgen. Manchmal verschwand er für einen Augenblick hinter einer Baumsilhouette und tauchte dann wieder an einer anderen Stelle auf. Ich konnte sehen, wie sich sein Licht in Hunters dunklen Augen widerspiegelte, und bemerkte dabei auch die schwarzen Haare, die in dichten Büscheln auf seinem Handrücken wuchsen.
Inzwischen hatte ich eingesehen, dass es sinnlos war, noch etwas zu sagen. Der Graben zwischen uns war so breit geworden, dass ich kaum glauben konnte, neben dem Mann zu sitzen, der einmal mein langjähriger Vertrauter und Freund aus Collegezeiten gewesen war, ein liebenswürdiger Draufgänger, der mich gewählt und zu einer begehrenswerten Freundin und Ehefrau gemacht hatte.
Wenn du nicht mehr Hunter bist – hätte ich ihn am liebsten gefragt – wer bin dann ich geworden?
Der bärtige Fremde neben mir parkte den Wagen vor unserem Haus und sprang heraus, als Red mit seinem Jeep hinter uns anhielt.
»Doc, bring dich lieber auf der Veranda in Sicherheit«, rief er mir zu, als er ausstieg.
Ich folgte seinem Rat. Laut konnte ich die Blätter und Zweige unter meinen Füßen rascheln und knacken hören. Ich zog mir die Jacke enger um die Schultern. Wenn ich nur diesem ganzen Wahnsinn, dachte ich, Einhalt gebieten könnte, ehe es zu spät war! Aber ich brachte kein Wort mehr über die Lippen.
»Du zuerst, Texaner. Zeig es mir.«
Red zog seine Kleidung aus, und Hunter tat es ihm nach. Langsam entledigten sie sich ihrer Klamotten. Die ganze Szene wirkte fast wie bei einem aggressiven Strip-Poker. Nackt war mein Mann größer, breitschultriger und attraktiver als Red. Dieser wirkte drahtiger, haariger und agiler – fast wie ein erfahrener Ringkämpfer. Er verwandelte sich als Erster. Kleine Wellen schienen durch seinen Körper zu laufen, und in Sekundenschnelle veränderte sich sein Aussehen. Die Muskeln zogen sich zusammen, das Rückgrat krümmte sich, seine Beine wurden kürzer, das Gesicht bekam eine längliche Form.
Hunter war nicht so schnell oder so anmutig in seiner Verwandlung. Es war eindeutig, dass seine Metamorphose stark von der Mondphase abhing. In dieser klaren Novembernacht schien der Mond so hell, dass man seine Oberfläche erkennen konnte.
Dem Kalender zufolge befanden wir uns einen Tag vor Vollmond, auch wenn der Mond für mich so aussah, als hätte er bereits seinen Zenit erreicht.
Als ich wieder zu den beiden Männern zurückblickte, hatte sich Red in einen kleinen, kurzhaarigen Wolf verwandelt, der die schmale Nase und die großen Ohren eines Kojoten besaß. Er war zwar kein eindrucksvoll riesiger Wolf, aber trotzdem verschlug mir sein Anblick den Atem. Ich hatte ihn zuvor schon einmal in dieser Gestalt gesehen, doch erst jetzt konnte ich das auch akzeptieren.
Hunter hingegen schrie, keuchte und zuckte. Offensichtlich ging die Verwandlung für ihn mit ziemlichen Schmerzen einher. Als er schließlich so weit war, sah er wie ein Wolfsmann aus einem zweitklassigen Horrorfilm aus. Er war geschrumpft und hockte auf groteske Weise mit gespreizten Klumpfüßen auf dem Boden. Auf den ersten Blick wirkte es nun wie ein unfairer Wettbewerb: Red war zu einem Wolf geworden, mein Mann hingegen hatte sich in ein Monster verwandelt.
Hunter starrte mit gelben Augen auf seinen Gegner. Von seinen Lefzen tropfte es, sein weißer Atem hing in der Luft. Der Kampf war fast schon vorüber, ehe er so richtig begonnen hatte. Red setzte zum Sprung an und schnappte mit seinen scharfen Zähnen nach Hunters Hals, der sich wie ein Verrückter schüttelte, um seinen Feind loszuwerden.
Wie es sich für einen erfahrenen Kämpfer gehörte, wusste Red die Verwirrung seines Gegners zu nutzen. Er biss ihn mehrmals in die Flanke und schlug ihm seine Krallen in die Brust, während ich vor Nervosität die Fäuste ballte. Ich fürchtete für einen Moment um das Leben meines Mannes, als dieser plötzlich Red am Nacken packte. Red versuchte sich zu entwinden, doch Hunter schlug seine Eckzähne in die Seite des kleineren Tieres, wobei er dessen ungeschützten Bauch nur um wenige Zentimeter verfehlte.
»Hört auf!« Plötzlich wachgerüttelt versuchte ich die Aufmerksamkeit der beiden auf mich zu lenken. »Du bringst ihn noch um!« Doch das Wesen, das einmal Hunter gewesen war, ließ sich durch nichts mehr aufhalten. Ohne zu zögern hätte er seinem Gegner die Eingeweide zerfetzt, wenn meine Einmischung ihn nicht kurzfristig so abgelenkt hätte, dass sich Red aus seiner Umklammerung befreien konnte.
Als sich die Kreaturen dann erneut aufeinanderstürzten, konnte ich Red nicht nur fauchen, sondern auch wimmern hören. Obwohl er geschwächt und offenbar ernsthafter verletzt war, wirkte er nicht weniger aggressiv als zuvor. Da ich Hunde kannte, wusste ich, dass es jetzt auf einen Kampf um Leben und Tod hinauslief.
»Gib auf, Red«, flüsterte ich. Doch in diesem Augenblick warf er sich erneut auf Hunter und bohrte ihm die Zähne in die Wade. Mein Mann schlug nach ihm und erwischte ihn mit einer Kralle unter seinem Auge.
»Hört auf! Das reicht!««
Hunter holte erneut aus, um Red den Bauch aufzuschlitzen; dieser ließ sich jedoch nicht in die Flucht schlagen. Ich musste etwas unternehmen – und zwar jetzt.
Ich rannte die Stufen der Veranda hinunter, wohl wissend, in welche Gefahr ich mich begab. Als Tierärztin wusste ich sehr genau, was es heißt, sich in einen Hundekampf einzumischen.
»Hört auf!« Ich warf mich zwischen die beiden, gerade als Red zum Sprung ansetzte. Sein Gewicht schleuderte mich zu Boden. Obwohl er für einen Wolf erstaunlich leicht wirkte und verletzt war, konnte ich in seinen Augen erkennen, dass er seine restliche Kraft dafür einsetzen wollte, diesen Kampf zu einem Ende zu bringen. Er versuchte, mir auszuweichen, doch seine scharfen Zähne trafen mich am Schenkel und hinterließen dort tiefe Spuren. Hunter knurrte währenddessen finster. Er war bereit weiterzukämpfen.
Die beiden konnten das Blut riechen, das jetzt von meinem Schenkel tropfte. In der langen Pause, die nun folgte, glaubte ich sehen zu können, wie Red versuchte, sich wieder in seine menschliche Gestalt zurückzuverwandeln. Sicher war ich mir jedoch nicht, denn in diesem Moment vernahmen wir die Stimme einer Frau.
»Es reicht«, sagte sie. Natürlich hatte sie Recht. Ich hatte auch keine Lust mehr, das noch weiter mit ansehen zu müssen.
Als sie aus dem Schatten der Veranda trat, sah ich ihr Gesicht und wusste augenblicklich, wen ich da vor mit hatte.
Wolfstraeume Roman
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