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Es gibt viele
verschiedene Manhattans. In welchem man lebt,hängt einmal von der
geografischen Lage und dann auch von der jeweiligen Wahrnehmung ab.
Ich wohne auf der Upper West Side, inmitten eines exzentrischen
Tierreichs.
In meinem Manhattan schätzen es die Leute vor
allem, wenn die Tiere groß sind -aristokratisch wirkende Jagdhunde
mit breiten, weichen Mäulern, überfütterte Wachhunde,
Pitbull-Mischlinge oder Huskies, die an Wölfe erinnern. Diese
großen Tiere werden meist auch in großen Wohnungen gehalten, zum
Beispiel in Sechszimmerwohnungen aus der Vorkriegszeit. Dazu kommen
dann zwei Kinder und vielleicht ein Wochenendhaus in den Hamptons.
Keiner hat also Zeit, mit dem Hund rauszugehen, und das
Kindermädchen weigert sich, den Kot vom Bürgersteig zu kehren.
Deshalb nimmt man sich meistens einen Hundeausführer.
Auf der East Side hingegen gibt es Züchtungen in
Spielzeuggröße mit putzigen Riesenköpfen, als würden diese Tierchen
unter Hydrozephalus leiden. Ihre Besitzer sind häufig älteren
Jahrgangs. Die Kinder stehen längst auf eigenen Beinen und wurden
also durch lebhafte Hundezwerge
ersetzt, die darum besonders anziehend wirken, weil sie so
kindlich zu bleiben scheinen.
In Downtown wiederum findet man die überstylten
Fashion Victims, bezaubernd hässliche
Rassen mit zerknautschten Gesichtern und nach oben gedrückten
Schnauzen. Sie werden meist hechelnd und mit aufgerissenen,
deformierten Mäulern hinter ihren fantastisch schönen Besitzern
hergezogen.
Und dann gibt es noch die Exoten – schillernde
Eidechsen, Papageien, Kaninchen, Totenkopfäffchen oder Stinktiere,
denen man die Drüsen entfernt hat. Solche Tiere sehe ich
normalerweise nicht außerhalb meiner Arbeit; sie fallen auch nicht
in mein Spezialgebiet, sondern gehören zu einem anderen Manhattan.
Deshalb war ich auch ziemlich überrascht, als ich den Mann mit der
kleinen Schleiereule auf der Schulter entdeckte – wenn auch nicht
so überrascht wie die anderen Fahrgäste in der U-Bahn.
Der Mann wirkte hellwach, ja geradezu
angespannt, was zu seinem Äußeren aber kaum zu passen schien. Mit
dem nicht ganz sauberen T-Shirt, das an seinem drahtigen Oberkörper
klebte, sah er fast wie ein Obdachloser aus. Mir fielen seine
hellbraunen, beinah gelben Augen auf, die den U-Bahn-Wagen unruhig
im Visier behielten, ohne jedoch einen der anderen Fahrgäste direkt
anzusehen. Ich hätte gern gewusst, wo er wohl den kleinen grauen
Vogel gefunden hatte, wagte aber nicht, ihn anzusprechen. Viele
Leute begingen den Fehler anzunehmen, dass sie einen Jungvogel
retten, obwohl sie die frisch geschlüpfte Eule in Wirklichkeit aus
ihrem Nest stehlen. Meine Freundin Lilliana war in der Lage, dieses
Missverständnis einem jeden so plausibel zu erklären, dass die
meisten die Stirn runzelten und
beteuerten, sie hätten ja keine Ahnung gehabt. Wenn ich hingegen
den Mund aufmachte, liefen die Leute häufig rot an und fingen an,
sich empört zu rechtfertigen.
Die kleine Eule schmiegte sich enger an den Hals
des Mannes. Er fasste nach ihr und streichelte sie. Eine blonde
Geschäftsfrau rückte mit pikierter Miene von ihm ab, was ihm
keineswegs entging.
Für einen Moment trafen sich unsere Blicke. Er
zeigte die Andeutung eines Lächelns, als amüsiere ihn dieses
Verhalten. Ich wandte mich ab, denn ich billigte es nicht, wenn man
wilde Tiere als cooles Accessoire mit sich herumtrug. Solche
Kreaturen sind nämlich meist wesentlich zerbrechlicher, als man
annimmt.
Das war mir aus dem tiermedizinischen Institut
bekannt, wo wir auch immer wieder Raubvögel eingeliefert bekamen.
Wir waren die einzige Klinik, die sich in der New Yorker Gegend um
Exoten kümmerte, so dass man normalerweise zu uns kam, wenn eine
Anakonda den Appetit verlor oder sich ein Papagei den Fuß brach.
Wir waren auch der einzige Anlaufpunkt, wenn eine Katze eine
Dialyse brauchte oder sich ein Hund einer Chemotherapie unterziehen
musste.
Aber ich nahm nicht an, dass dieser Mann da
vorhatte, seinen kleinen Freund in eine Tierklinik zu bringen. Ich
fragte mich gerade, ob ich es der Eule schuldig war, mich
einzumischen, als die U-Bahn quietschend zum Stehen kam und sich
die Türen öffneten. In die Fahrgäste kam Bewegung. Ich merkte, dass
die Person unmittelbar neben mir ausgestiegen war, so dass ich nun
mehr Platz zum Atmen hatte. Automatisch hob ich die Hand, um den
Riemen meiner Handtasche zurechtzurücken – nur um feststellen
zu müssen, dass sich die Handtasche nicht mehr an ihrem Platz
befand.
Für einen Augenblick war ich verwirrt. Hatte ich
sie aus Versehen zu Hause gelassen? War sie heruntergefallen, ohne
dass ich es bemerkt hatte? Doch dann dämmerte es mir: Die Tasche
musste mir gestohlen worden sein! Ich murmelte fassungslos etwas
vor mich hin, als die U-Bahn ein Zischen von sich gab und sich
wieder in Bewegung setzte.
Hastig blickte ich mich um. Aber natürlich war
der Dieb schon lange ausgestiegen. Die Leute um mich herum sahen
mich mitleidig, alarmiert oder auch völlig desinteressiert an.
Wieder traf sich mein Blick mit dem des Eulenmannes. Er zuckte die
Achseln, als wollte er mir bedeuten, dass er es jedenfalls nicht
gewesen war, der meine Tasche hatte mitgehen lassen.
Eine dicke Frau mit gewaltigem Busen klopfte mir
beruhigend auf die Schulter. Einige andere Frauen und auch Männer
meldeten sich zu Wort. »Was ist passiert?«
»Man hat ihr die Tasche geklaut.«
»Haben Sie denn nichts bemerkt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nichts.« In mir
stieg Panik auf, als die anderen Fahrgäste auch anfingen
nachzusehen, ob ihre eigenen Handtaschen, Aktenkoffer und
Portemonnaies noch an ihrem Platz waren. Keinem fehlte jedoch
etwas. Nur ich saß plötzlich ohne Geld, Kreditkarten, Handy und
Schlüssel da. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie viel
Bargeld ich mitgenommen hatte. Verdammt. Ich war erst gestern nach
der Arbeit auf der Bank gewesen.
»Die machen das mit einem Messer«, meinte ein
dünner Junge im Teenageralter, dessen übergroße Jeans unter seinen
Hüften hing und ein Paar weiße Boxershorts enthüllte. »Die
schneiden einfach den Riemen durch und peng – Notfall-OPauf Ihrem
Bankkonto.« Er blickte mich spöttisch besorgt an und schien vor
allem von seinem eigenen Wissen beeindruckt zu sein. Für einen
Augenblick verdächtigte ich sogar ihn des Diebstahls. Als ich mich
umdrehte, bemerkte ich, wie mich der Eulenmann aus
halbgeschlossenen Augen musterte und dabei höhnisch lächelte. Er
ahnte, was ich gedacht hatte, und ich konnte deutlich erkennen, was
er jetzt von mir hielt. Rassistin, hallte es in meinen Ohren wider,
als hätte er die Anschuldigung laut ausgesprochen. Ich ärgerte
mich, wusste ich doch, dass die Hautfarbe des Jungen nichts mit
meinem kurzen Verdacht zu tun hatte.
Trotzdem wandte ich mich mit geröteten Wangen
beschämt ab. Mir wurde auf einmal klar, dass mich dieser Mann schon
eine ganze Weile über beobachtet hatte. Vielleicht hatte er sogar
gesehen, wie mir die Handtasche gestohlen worden war, und es nicht
für nötig befunden, mich zu warnen. Wut stieg in mir auf. Mein Herz
pochte heftig, und ich verspürte das dringende Bedürfnis, ihn der
Mitwisserschaft oder zumindest der Gleichgültigkeit zu bezichtigen.
Wieder blickte er mich an, als könnte er auch diesmal meine
Gedanken lesen. In diesem Augenblick kam die U-Bahn erneut zum
Stehen. Ohne eine Entscheidung zu treffen, was ich als Nächstes tun
wollte, drängelte ich mich durch die Menge der Fahrgäste dem
Ausgang zu.
Draußen auf dem Bahnsteig versuchte ich, meine
verwirrten Gedanken zu ordnen. Ich war für meinen Rundgang in der
Klinik auch jetzt schon spät dran, aber ich konnte es trotzdem
nicht riskieren, bis zur Mittagspause zu warten,
ehe ich meine Kreditkarten als gestohlen meldete. Außerdem besaß
der Dieb meinen Hausschlüssel und die dazu gehörige Adresse. Ich
musste sofort meinen Mann verständigen, um die Schlösser
austauschen zu lassen.
Instinktiv wollte ich mein Handy herausholen,
ehe mir bewusst wurde, dass ich a auch dieses nicht mehr besaß. Ich
machte mich also auf den Weg zur Bahnhofsvorsteherin, die in ihrem
Plexiglashäuschen oben hinter den Sperren saß und zuerst vorgab,
taub zu sein.
»Entschuldigung«, sagte ich zum dritten Mal und
versuchte, nicht hysterisch zu klingen. »Mir wurde gerade meine
Handtasche gestohlen. Könnte ich vielleicht von Ihrem Telefon aus
ein kurzes Ortsgespräch führen?«
»Ich rufe für Sie an«, erwiderte die Frau knapp,
die offenbar annahm, dass es sich um ein geschicktes
Täuschungsmanöver handelte, mit dem das New Yorker Verkehrsnetz
betrogen werden sollte. Vielleicht wäre ein hysterischerer Tonfall
doch besser gewesen. Ich nannte ihr also notgedrungen unsere
Telefonnummer und wartete dann nervös, während sie gelangweilt
wählte.
»Niemand zu Hause.« Sie bedachte mich mit einem
desinteressierten Blick.
»Er ist bestimmt zu Hause. Er schläft nur, weil
er einen schweren Jetlag hat. Könnten Sie es bitte noch einmal
versuchen?« Mein Mann war erst am Abend zuvor aus Rumänien
zurückgekehrt. Er war vor Erschöpfung richtig blass gewesen und
hatte mindestens sieben Kilo Gewicht verloren. So dünn hatte ich
ihn noch nie gesehen.
Die Bahnhofsvorsteherin starrte mich einen
Moment lang an, als müsste sie erst abwägen, ob sie dieser erneuten
Bitte nachkommen sollte. Nach einer halben Ewigkeit
wählte sie schließlich von neuem die Nummer, wozu sie einen
Kugelschreiber benutzte, um ihre überlangen Fingernägel nicht zu
beschädigen.
Hunter, flehte ich innerlich. Bitte wach auf und
heb ab. Ich hatte ihn erst eine Woche später zurückerwartet und war
vor Schreck heftig zusammengezuckt, als er auf einmal die Tür
öffnete, während ich gerade die Finger in einen Karton mit
thailändischem Essen vom Tag zuvor steckte. Er leide an einer
Darmgrippe, hatte er erklärt, und habe deshalb seinen Rückflug
vorverlegt. Nein, er sei nicht in der Lage, mir jetzt alle
Einzelheiten zu erläutern, und ja – wenn er einen Arzt
bräuchte,würde er ihn rufen. Seinem Tonfall nach zu urteilen, hätte
man annehmen können, dass wir uns in einer Auseinandersetzung
befanden. Ich tat jedoch so, als würde mir das gar nicht
auffallen.
Ich war um dreiundzwanzig Uhr zu Bett gegangen
und recht schnell eingeschlafen, was für mich ziemlich ungewöhnlich
war. Keine Ahnung, wann sich Hunter dann schlafen legte. Doch als
ich um drei Uhr morgens aufwachte, stellte ich fest, dass er neben
mir lag und leise durch seine hübsche, gebrochene Nase schnarchte.
Einen kurzen Augenblick lang wünschte ich ihn mir wieder fort, um
meiner chronischen Schlaflosigkeit ohne Rücksicht frönen zu können.
Ich wollte das Licht anschalten, durchs Fernsehprogramm zappen und
in Ruhe bröseliges Müsli und Cornflakes im Bett essen.
Doch dann schmiegte er sich an mich – eine
seltene Geste der Intimität -, und ich spürte seinen warmen Atem
auf meinem Nacken. Ich genoss die Nähe und blieb regungslos liegen,
während mein linker Arm einschlief und Hunter wieder zu schnarchen
begann.
Auch jetzt wollte ich ihn eigentlich nicht
wecken. Ich wusste, wie schlecht gelaunt er durch die Störung wäre,
auch wenn sich die Verstimmung wieder legen würde, sobald er
erfuhr, worum es ging.
»Es meldet sich immer noch niemand«, sagte die
Stationsvorsteherin und legte den Hörer wieder auf die Gabel.
»Möchten Sie wegen des Diebstahls gleich mit der Polizei
sprechen?«
»Nein«, erwiderte ich bedrückt. »Könnten Sie
mich einfach wieder durch die Sperre lassen, damit ich nach Hause
fahren kann?«
Die Frau öffnete für mich die Schranke, und ich
kehrte ein wenig benommen zu den Bahnsteigen zurück, wo ich die
nächste U-Bahn in Richtung Downtown nahm. Dort setzte ich mich in
den Pendelzug, der quer durch die Stadt fährt, bis ich zur West
Side kam, wo ich in die Broadway-Bahn umstieg. Ich musste auf
meinem Weg zur Arbeit dreimal umsteigen und brauchte in der
Hauptverkehrszeit vierzig Minuten von Tür zu Tür. Die meisten
meiner Kollegen hatten sich in der Nähe des Instituts eine Wohnung
gesucht, doch Hunter war nicht willig gewesen, unser Appartement in
dem Sandsteinhaus an der Upper West Side aufzugeben.
Jetzt wünschte ich mir, dass es eine Möglichkeit
gegeben hätte, mein Team anzurufen und den Kollegen mitzuteilen,
warum ich mich verspätete. Doch ohne Handy blieb mir keine Wahl,
als bis nach Hause zu fahren. Ich tauchte also aus der U-Bahn auf
und machte mich auf den Weg zum Riverside Drive. Ein für diese
Jahreszeit ungewöhnlich kühler Wind zog vom Wasser herauf. Es war
der kälteste Sommer seit über hundert Jahren gewesen, und jetzt
schien
bereits der Herbst einzuziehen, um dem erbärmlichen Spiel ein
frühes Ende zu bereiten.
Als ich schneller lief, spürte ich, wie sich in
meinem Unterleib etwas verkrampfte. Ich befand mich in meinem
Zyklus etwa am fünfundzwanzigsten Tag, wobei meine Periode nicht
sehr regelmäßig kam. Ich gehörte eher zu den Frauen, die ganze
Monate auslassen und dann eine Weile lang alle drei Wochen ihre
Regel bekommen, nur um plötzlich wieder einen sechswöchigen Zyklus
zu haben. Doch jetzt spürte ich eindeutig dieses weiche Ziehen in
meinem Unterleib, das meist klar darauf hindeutete, es werde bald
so weit sein.
Mein Gynäkologe hatte mir letztes Jahr eröffnet,
dass es schwierig für mich werden könnte, schwanger zu werden. Als
ich meinem Mann davon erzählte, fand er, es wäre wahrscheinlich
sowieso das Beste für uns, keine Kinder zu bekommen. In Hunters
Familie gab es mehrere Fälle von geistiger Umnachtung: Die
Schwester seiner Mutter wurde mit neunzehn schizophren, während
sich seine Mutter das Leben nahm, als er sich in der Pubertät
befand. Hunter litt unter Stimmungsschwankungen, wie es bei einem
Autor viele für typisch halten. Er betonte immer wieder, dass er
sich nicht sicher sei, ob er überhaupt ein Kind wolle. Er hatte
große Teile seiner Jugend damit verbracht, ängstlich darauf zu
warten, ob der Wahnsinn auch in ihm irgendwann wie eine tickende
Zeitbombe explodierte. Er befürchtete wohl, mit einem Kind die
nächsten zwanzig Jahre damit zu verbringen, stets panisch auf
irgendwelche Anzeichen von Irrsinn zu warten.
Im Grunde war auch ich ziemlich hin- und
hergerissen, was das Elterndasein betraf. Ich war mir nicht sicher,
ob ich
überhaupt zur Mutter berufen war. Meine eigene Mutter diente mir
als ein Beispiel dafür, was passieren konnte, wenn man trotz
fehlender Berufung ein Kind bekam. Sie gehörte zwar nicht unbedingt
zur Liga der Terrormütter, aber eine Szene machte sie doch immer
wieder gerne. Vielleicht hatte das etwas mit ihrem Beruf als
Schauspielerin zu tun. Möglicherweise sollten sich Filmstars –
selbst kleinere Fische – einfach nicht fortpflanzen.
Mein beruflicher Zeitplan ließ mir aber ohnehin
keinen Freiraum für ein Baby. Dieses Jahr musste ich vor allem
meine praktische Ausbildung in der Tierklinik überstehen und hatte
zudem mit einem Mann zurechtzukommen, der öfter fort war als zu
Hause.
Nervös warf ich einen Blick auf meine
Armbanduhr, als ich von der 84. Straße aus um die Ecke bog. Endlich
stand ich vor unserem Haus.
Hunter und ich wohnten seit vier Jahren in einem
dieser hübschen Gebäude, die um die vorletzte Jahrhundertwende
errichtet und inzwischen in verschiedene Appartements unterteilt
worden waren. Wir lebten im ersten Stock in der einzigen Wohnung
ohne einen Kamin. Dafür hatten wir einen Balkon, auf den wir
übermäßig stolz waren, auch wenn man kaum zwei Stühle und einen
kleinen Grill darauf unterbringen konnte.
Unser Wohnblock hatte keinen Portier, der mich
einlassen konnte. Ich drückte auf die Klingel, doch Hunter öffnete
nicht. Daraufhin versuchte ich es als Erstes bei dem freundlichen
Schwulenpärchen mittleren Alters, das die Gartenwohnung mietete,
und schließlich bei der immer schlecht gelaunt wirkenden Familie
über uns. Nirgendwo war jemand zu Hause.
Na toll. Ich ließ mich auf dem Asphalt nieder,
der voller chinesischer Speisekarten lag, und kämpfte gegen die
Tränen an. Falls Hunter mich nicht ins Haus ließ, wusste ich nicht,
was ich tun sollte. Ich hatte nicht einmal Geld, um ins
tiermedizinische Institut zurückzufahren und von dort aus alles zu
regeln.
Natürlich konnte ich einige Meilen zu Fuß durch
den Park laufen, aber vermutlich würde ich heute noch meine Periode
bekommen. Vielleicht verhielt ich mich in dieser Hinsicht ja etwas
verklemmt, aber ich sprach nicht gern wildfremde Frauen an, um sie
um eine Binde oder ein Tampon zu bitten. Ich saß nicht einmal gern
in einer Toilettenkabine und unterhielt mich dabei mit einer Frau
in der Nebenkabine, vor allem dann nicht, wenn sich bestimmte
Geräusche nicht vermeiden ließen. Ich führte das auf meine Mutter
zurück. Sie war derart darum bemüht gewesen, mir auf keinen Fall
ein Schamgefühl für meinen Körper und seine zahlreichen Funktionen
zu vermitteln, dass sie mir vermutlich unbewusst ein starkes
Bedürfnis nach Intimsphäre eingeimpft hatte.
Außerdem war Hunter ja zu Hause. Ich musste es
nur schaffen, ihn aus seinem Koma zu wecken. Ziemlich verzweifelt
drückte ich alle Klingeln auf einmal, um dann ein paar Schritte auf
die Straße hinauszutreten und so laut wie möglich »Hunter, ich
bin’s!« zu rufen. Gleichzeitig sah ich mich nach einem kleinen
Stein um, den ich gegen unsere Fensterscheibe werfen konnte.
Als ich zu unserem Balkon hochblickte, kam mir
eine andere Idee. Ich konnte doch einfach hinaufklettern! Und zwar
nicht, indem ich die Mauer hochstieg – das Erdgeschoss bestand aus
gelben Sandsteinen aus den vierziger Jahren,
zwischen denen es keine Lücken für Fuß oder Hand gab. Aber die
Viktorianer, die unser Nachbarhaus erbaut hatten, waren offenbar
noch nicht wegen Einbrechern und ähnlichen dunklen Gestalten
besorgt gewesen. Der Architekt hatte den Eingang mit der schwarzen
Eisenglastür vielmehr mit dreißig Zentimeter langen Betonziegeln
umrahmt, wodurch das Gebäude ein beinahe mittelalterliches Aussehen
erhielt. Direkt unter dem Balkon über dem Erdgeschoss war eine
kleine schwarze Laterne in die Wand eingelassen. Ein perfekter
Griff. Von dort aus konnte ich mühelos unseren Balkon
erreichen.
Ein zwölfjähriges Kind hätte das vermutlich
sofort bemerkt. Die meisten Erwachsenen hingegen betrachten die
Welt um sie herum nicht mehr unter dem Aspekt, wie man wo
hinaufklettern kann – es sei denn, man gehört zur Sparte der
Berufseinbrecher.
Ehe ich meine Seele dem tiermedizinischen
Institut verschrieb, hatte ich regelmäßig an der Kletterwand des
Chelsea-Piers-Sportsrudios geübt. Ich war
gut, wenn es darum ging, methodisch und detailliert vorzugehen, und
kam sogar so weit, ein paar Bein- und Pomuskeln zu entwickeln, so
dass ich nicht mehr ganz so sehr an einen Laib Weißbrot erinnerte.
Dann erhielt ich den Platz für meine praktische Ausbildung am
Institut, und mein Leben wurde mir von einem Tag auf den anderen
gnadenlos entrissen.
Das einzige Hindernis für die Kletteraktion zu
unserem Balkon war mein Outfit. Hunter behauptete immer, er wäre
noch nie einer Frau begegnet, die so viel Geld für einen Sack
ausgab. Aber ich kleidete mich nun mal gern in bequemen Klamotten
in leuchtenden Farben und bevorzugte dabei jene Art von
Kleidungsstücken, die man gut auf
einer Mittelalterveranstaltung hätte tragen können: als Frau eines
reichen Zunftgenossen. An diesem Tag hatte ich meine weite braune
Eileen-Fisher-Hose aus weicher Baumwolle und eine tiefgoldene
Baumwolltunika an, was zugegebenermaßen nicht gerade ideal zum
Erklettern einer Hausmauer passte. Ich steckte meine Hosenbeine
also in die Socken und sah mich dann um. Schließlich wollte ich
nicht, dass mich jemand beobachtete. Zum Glück wohnten in unserem
Häuserblock vor allem Opernsänger und ältere Leute, so dass die
Polizei nicht oft vorbeifuhr.
Das Ganze war so einfach, wie ich es mir
vorgestellt hatte. Auf den Ziegeln konnte ich problemlos Fuß fassen
und so bis zur Laterne vorstoßen. Sie war fest in der Wand
verankert und wirkte solide genug, um draufzusteigen. Vermutlich
sah ich wie eines dieser ungraziösen kleinen Mädchen aus, die man
manchmal auf Spielplätzen sieht, wenn sie versuchen, ihre stämmigen
kleinen Körper an einem Klettergerüst nach oben zu hieven. Aber ich
schaffte es schließlich, mich über die gusseiserne Balustrade des
Nachbarbalkons zu schwingen. Es gab nur einen kritischen Moment,
als ich außen am Balkon entlangbalancieren musste, um dann eine
Lücke von circa sechzig Zentimetern bis zu unserem Balkon zu
überwinden. Ich wollte gerade einen Schritt nach drüben machen, als
ich auf der Straße unter mir einen Hund bellen hörte.
Ich blickte hinunter. Dort tobte ein aufgeregter
Dackel an der Leine eines eleganten Herrn. Der Mann kam mir
irgendwie bekannt vor, bis mir einfiel, dass er in unserem Haus
wohnte. Du hättest ruhig zwei Minuten früher kommen können, dachte
ich gereizt.
»Was machen Sie da, junge Frau, wenn ich fragen
darf?«
»Das hier ist mein Appartement«, rief ich, »ich
wohne hier.« Sein Hund hörte nicht mit dem Bellen auf, sondern
gebärdete sich immer hysterischer.
»Ich werde die Polizei rufen!«
»Nein, bitte nicht! Ich bin Abra Barrow, Ihre
Nachbarin aus 2B.«
»Warten Sie einen Moment. Kenne ich Sie nicht?«
Er zeigte mit dem Finger auf mich. »Sie sind doch dieses Mädchen...
diese Schauspielerin.«
»Nein, ich bin die Tierärztin. Die Tierärztin!
Mein Mann hört das Telefon nicht, und ich habe meinen Schlüssel
verloren.«
»Ihren was?«
»Meinen Schlüssel! Ich habe in der U-Bahn meinen
Schlüssel verloren!«
»Ihre Schüssel?«
Ein weiterer alter Mann – dünner und mit Bart –
trat zu dem Herrn mit dem Hund. »Was macht sie da? Will sie
einbrechen?«
»Nein, nein, es ist ihre Wohnung. Probleme mit
dem Ehemann.«
»He! Sie da! Mädchen!« Der bärtige Mann klang
aufgebracht.
»Hören Sie, es ist alles in Ordnung...« Ich
wollte mich ihm zuwenden, um ihn besser sehen zu können. Dadurch
rutschte ich ab und hielt mich in Panik an unserem Balkongeländer
fest. Dummerweise befand ich mich jetzt in der unangenehmen Lage,
dass sich meine Füße noch am Nachbargebäude und meine Hände bereits
an unserem Haus befanden.
»Das Bein rüber! Schwingen Sie das rechte Bein
rüber!
Heutzutage wissen die Kinder nicht mal mehr, wie man auf Bäume
klettert. Da liegt meiner Meinung nach der Hund begraben.«
»Als Junge bin ich ständig auf Bäume, Scheunen
und Häuser geklettert. In der Ukraine, wissen Sie.« Der Dackel
bellte zustimmend.
Dank dieser moralischen Unterstützung schaffte
ich es bis zu unserem Balkon hinüber und blickte dann zu den beiden
Männern nach unten. Inzwischen hatte sich auch eine ältere Frau in
einem dicken Wintermantel mit einem Fuchspelzkragen zu ihnen
gesellt.
»Ich hab es geschafft. Danke für Ihre Hilfe!«,
rief ich nach unten.
»Nächstes Mal fragen Sie uns einfach. Wir lassen
Sie gern ins Haus. Sidney hat die Schlüssel zu allen Wohnungen in
diesem Gebäude«, erklärte der bärtige Mann. Ich winkte ihm dankend
zu. Viele Leute halten New York für groß und unpersönlich. Der
Vorort, in dem ich aufgewachsen bin, konnte tatsächlich ziemlich
unpersönlich sein. Die eigentliche Großstadt hingegen besteht aus
einer Anzahl von kleinen Dörfern ohne klare Grenzen. In jedem Dorf
gibt es eine Heiratsvermittlerin, einen postmodernen Revolutionär
und einen Idioten.
Ich hörte, wie die Frau unten auf der Straße
fragte: »Was macht das Mädchen da oben, Grisha?«
»Sie ist eine Tierärztin mit
Männerproblemen.«
Vielleicht war ich in diesem Fall die
Idiotin.
Ich versuchte, unser Fenster zu öffnen. Zum
Glück hatten wir vergessen, es zu verriegeln. Ich schob die Scheibe
weiter nach oben und kletterte dann stolz wie ein Eroberer ins
Zimmer. Ich kam mir fast wie der Prinz vor, dem es gelungen
war, an Rapunzels Zopf den Turm hochzuklettern, oder wie Robin
Hood, als er die Festung des Sheriffs von Nottingham bezwungen
hatte.
Dann wurde mir auf einmal klar, wie ungesichert
unsere Wohnung in Wirklichkeit war. Während der drei Monate, die
Hunter fort gewesen war, hatte ich das Fenster ständig offen
gelassen. Bis zu diesem Augenblick war mir überhaupt nicht bewusst
gewesen, dass man mich im Grunde jederzeit überfallen und ausrauben
konnte. Wenn es eine bescheiden sportliche Frau von neunundzwanzig
Jahren schaffte, an der Wand hochzuklettern und in ihr eigenes
Appartement einzubrechen, dann brauchte es dazu nicht einmal einen
sonderlich starken Kerl. Jedermann konnte hier eindringen.
Derart in Gedanken vertieft, fielen mir die
seltsamen Geräusche zuerst gar nicht auf, die aus dem Schlafzimmer
kamen. Als ich sie schließlich doch wahrnahm, glaubte ich für einen
Moment, Hunter würde schlecht träumen. Er gab ein leises Stöhnen
von sich, das immer wieder von einem Wimmern unterbrochen wurde –
wie von einem Hund. Ich schlich vorsichtig zum Schlafzimmer. Sollte
ich ihn wecken? Dann hörte ich das rhythmische Klatschen von Haut,
die aufeinandertraf, und mir lief es eiskalt den Rücken hinunter.
Das klang nicht nach Hunter, der unter einem Albtraum litt. Das
klang nach Hunter kurz vor einem Orgasmus.