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Meine Mutter, die mich
die letzten drei Jahre geradezu angefleht hatte, Hunter zu
verlassen, war nicht zu Hause, als ich eintraf. Ich hatte vor
Aufregung und Wut ganz vergessen, dass sie ja nach Antigua hatte
reisen wollen. Erst als mir eine junge Frau mit einem freundlichen,
runden Gesicht die Tür öffnete, fiel es mir wieder ein.
»Hi«, begrüßte sie mich, als sie mich sah. »Du
bist sicher Abra, oder?« Sie streckte mir eine blasse, weiche Hand
entgegen, an deren Finger drei silberne New-Age-Ringe steckten.
»Ich bin Pagan.«
»Woher weißt du, wer ich bin?« Eigentlich kannte
ich die Antwort bereits. Pagan wies alle Anzeichen eines typischen
Piper-LeFever-Groupie auf: kluge Augen, ein Interesse am
Übernatürlichen und ein Katzen-T-Shirt.
»Deine Mutter meinte schon, dass du
vorbeischauen und dir Pimpernell und einige der kranken Tiere
ansehen würdest. Außerdem hat sie vermutet, dass die Feiertage in
deinem Mann das Schlimmste zum Vorschein bringen könnten.« Ihre
grauen Augen sahen mich mitfühlend an.
»Klingt tatsächlich nach meiner Mutter. Und
seltsamerweise bin ich ja auch tatsächlich hier. Ist das
Gästezimmer noch frei?«, erwiderte ich lächelnd.
»Sie meinte, du solltest ihr Schlafzimmer
benutzen. Ich wohne gerade im Gästezimmer.«
»Und sonst ist kein Zimmer im ganzen Haus frei?
Was ist denn mit dem grünen Salon?« Es war erstaunlich, wie meine
Mutter es schaffte, das riesige Haus so vollzustellen, dass man
kaum mehr unterkam.
Pagan zuckte die Achseln. »Für Menschen nicht
geeignet. Außerdem habe ich da gerade sehr viele Musikinstrumente
aufgebaut. Aber wenn du willst, kann ich die natürlich woanders
hinräumen...«
»Nicht nötig, danke.«
Auf dem riesigen, kreisrunden Bett meiner Mutter
lagen verschiedene Decken, Zeitungen, Zeitschriften, Klamotten,
Schmuckstücke und Katzen. Aus irgendeinem Grund reagierten die
meisten Katzen sofort allergisch auf mich. Sie fauchten, als ich in
ihre Nähe kam, und trollten sich dann so schnell wie möglich. Nur
ein kleiner brauner Burmese mit einer eigenartigen Pilzerkrankung
im Gesicht ließ sich durch mich nicht aus der Fassung bringen. Er
schärfte seine Krallen am Kopfende des Bettes und beobachtete mich
neugierig, während ich mich in dem Zimmer einrichtete.
Ich brauchte etwa eine Stunde, um es mir
gemütlich zu machen, alles wegzuräumen und das Bettzeug, das für
meine Nase etwas muffig roch, abzuziehen. Da ich das Gefühl hatte,
mich für Thanksgiving zumindest festlich herrichten zu müssen, zog
ich das mittelalterliche Kleid aus zerknittertem Samt an, das mir
meine Mutter zum Geburtstag geschenkt hatte. Dann ging ich in die
Küche hinunter. Ich hatte gerade die erste Ladung Wäsche in die
Waschmaschine gestopft und eine Auflaufform aus einem der Schränke
geholt, als Pagan vorsichtig an die Tür klopfte.
»Ich hoffe, ich störe dich nicht. Wow! Du siehst
toll aus. Das ist ja ein fantastisches Kleid. Woher hast du
das?«
»Von meiner Mutter. Du hast wahrscheinlich keine
Lust auf ein Anti-Thanksgiving-Essen, oder?«
»Ehrlich gesagt, da du jetzt da bist... ich
wollte eigentlich morgen für ein paar Stunden weg, aber weil du
jetzt hier bist...« Sie wurde rot, und mir wurde klar, dass sie
nicht viel älter als zwanzig sein konnte.
»Du kannst gerne gehen«, sagte ich und schob die
langen Trompetenärmel zurück, um den Schimmel von einem Stück
Cheddar zu kratzen.
»Ich komme dann morgen Nachmittag wieder, um dir
mit den Katzen zu helfen.«
»Nicht nötig.« Ich blickte auf und lächelte das
junge Mädchen an, das ganz offensichtlich lieber woanders sein
wollte. »Ich komme schon für ein paar Tage klar.« Ich stellte die
Auflaufform mit dem zuvor geschnittenen Gemüse in den vorgeheizten
Ofen und klappte ihn zu.
Pagan strahlte. »Vielen Dank! Das ist wirklich
nett von dir. Ich habe mich dazu bereiterklärt, hier zu sein, bevor
Griff und ich...«
»Geh lieber, ehe ich es mir anders überlege«,
unterbrach ich sie lächelnd.
Als die Tür hinter Pagan ins Schloss fiel, wurde
mir bewusst, dass ich gar nicht wusste, wie ich die Tiere füttern
und versorgen musste. Ich rannte hinter ihr her und erwischte sie
gerade noch rechtzeitig. Sie erklärte mir, wer von den neuen Gästen
genau beobachtet werden musste und wer kein Trockenfutter
bekam.
Als ich in die Küche zurückkehrte, stellte ich
fest, dass ich vergessen hatte, den geriebenen Käse auf das Gemüse
zu streuen. Da ich nirgendwo einen Topflappen entdecken konnte,
nahm ich ein Geschirrtuch, um die Auflaufform wieder aus dem Ofen
herauszuholen.
Ich wollte sie gerade wieder mit dem Käse
hineinschieben, als das Telefon klingelte. Doch bis ich den Apparat
unter einem Haufen alter Rechnungen gefunden hatte, war die
Verbindung unterbrochen.
Ich kehrte also wieder zu meiner Auflaufform
zurück und legte meine Hände – ohne nachzudenken – an die glühend
heiße Gusseisenform. In Gedanken war ich so weit weg, dass ich den
Schmerz erst nach etwa einer halben Sekunde registrierte und die
Form fallen ließ. In meiner Verwirrung merkte ich nicht, dass ich
dabei mit meinen langen Ärmeln an die Gasflamme kam, die auf dem
Herd brannte. Innerhalb weniger Augenblicke standen meine Ärmel in
Flammen.
Fassungslos starrte ich auf die züngelnden
Flammen, ehe ich einen Schrei ausstieß und wie eine Wahnsinnige um
mich schlug. Mir fiel ein, dass es in einem solchen Fall das Beste
war, sich auf den Boden zu werfen und hin und her zu rollen, was
ich auch tat.
Das Feuer war schnell erstickt, aber meine Hände
sahen danach furchtbar aus. Ich versuchte so langsam und bewusst
wie möglich zu atmen, um nicht in Hysterie und Panik auszubrechen,
sondern in Ruhe meine Haut begutachten zu können. Die beiden
obersten Schichten waren verbrannt: das darunter liegende gelbliche
Fettgewebe war zu sehen. Soweit ich erkennen konnte, war der Stoff
des Kleides wenigstens nicht geschmolzen. Dafür sah die Haut
verkohlt und wie verbrannter Speck aus. Das Schlimmste jedoch war
die Tatsache, dass ich keinerlei Schmerzen verspürte. Alles
fühlte sich so an wie immer. Und kein Schmerz bedeutete in einer
solchen Situation ein echtes Problem.
»Oh, mein Gott! Hilfe! Scheiße, so helfe mir
doch jemand!«
Aber die Haustür war verschlossen, und meine
Hände befanden sich keineswegs in dem Zustand, irgendwelche Türen
zu öffnen. Ich musste nachdenken...
Natürlich – das Telefon! Ich schlug den Hörer
mit dem Ellbogen von der Gabel und beugte mich dann nach vorn, um
mit der Nase die Nummer des Notrufs zu wählen. Leider waren die
Tasten für meine Nase zu klein. Sollte ich es vielleicht mit dem
Ellbogen versuchen? Nein, das würde noch weniger funktionieren.
Konzentriere dich, Abra, dachte ich. Jetzt bloß keine Panik. Ich
schlüpfte aus einem Schuh und wählte mit meinem großen Zeh.
»Hier ist die Notrufzentrale. Wie kann ich Ihnen
helfen?«, meldete sich eine Stimme.
»Ich habe meine Hände verbrannt, Verbrennungen
dritten Grades. Außer mir ist niemand im Haus.«
»Okay, ganz ruhig. Wie heißen Sie?«
»Abra Barrow. Ich bin im Tierheim Beast Castle.« Meine Zähne klapperten.
»Gut, ich schicke gleich den Notarzt. Ist Ihnen
schwindlig oder schummerig?«
»Nein. Noch keine Anzeichen von Schock, aber...
aber das sind Verbrennungen dritten Grades, Verkohlungen.«
»Okay, bleiben Sie ganz ruhig. Ich heiße Helen,
Abra. Sind Sie Ärztin?«
»Ich bin Tierärztin.« War Tierärztin. Oh, mein Gott, meine Hände... meine
Hände...
»Gut, hören Sie. Ich habe gerade erfahren, dass
der
Krankenwagen nur fünf Kilometer von Ihnen entfernt ist. Können wir
jemanden davon benachrichtigen, dass Sie ins Krankenhaus gebracht
werden?«
Wen sollte man benachrichtigen? Weder Hunter
noch meine Mutter oder mein Vater kamen in Frage. Ich hatte
niemanden mehr.
»Miss Barrow? Abra? Sind Sie noch da? Ich wollte
wissen, wen...«
»Ich weiß es nicht.« Plötzlich begann ich
unkontrolliert zu weinen.
»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin mir
sicher, dass es jemanden gibt. Vielleicht einen Freund? Gibt es
einen Freund, den wir benachrichtigen können?«
»Red Mallin.«
»Können Sie den Namen für mich buchstabieren,
damit ich die Nummer herausfinden kann?«
»R-e-d M-a-l-l-i-n.« Ich hörte Schritte vor dem
Haus. Wie hieß die Frau am anderen Ende der Leitung nochmal? Ich
konnte mich nicht erinnern. »Ich glaube, sie sind schon da«, sagte
ich.
»Gut, Abra. Halten Sie durch, und ich
benachrichtige Red Mallin für Sie.«
Die Sanitäter kamen in ihren weißen Anzügen und
riesigen schwarzen Stiefeln herein. Einer war ein Schwarzer und der
andere ein Weißer – fast wie in einer dieser Krankenhausserien. Ich
blickte in ihre jungenhaften Gesichter und verspürte das seltsame
Gefühl, mich nur noch fallenlassen zu wollen. Aber es gelang mir,
nicht ohnmächtig zu werden. »Ich brauche eine Infusion mit
Ringerlösung«, sagte ich zu dem Schwarzen. »Sind Sie Sanitäter oder
Arzt?«
»Verstehe. Ich heiße Joe. Versuchen Sie sich zu
beruhigen, Abra.«
Ich starrte auf seine Hände. »Ich glaube, ich
brauche ein Debridement...«
»Keine Sorge, wir haben alles unter Kontrolle«,
erwiderte der Weiße. Ich fragte mich, ob ich ihn beleidigt hatte,
weil ich seinen Kollegen zuerst angesprochen hatte. Dann floss
etwas Kühles durch meine Adern, und ich schloss die Augen.