28
Meine Mutter, die mich die letzten drei Jahre geradezu angefleht hatte, Hunter zu verlassen, war nicht zu Hause, als ich eintraf. Ich hatte vor Aufregung und Wut ganz vergessen, dass sie ja nach Antigua hatte reisen wollen. Erst als mir eine junge Frau mit einem freundlichen, runden Gesicht die Tür öffnete, fiel es mir wieder ein.
»Hi«, begrüßte sie mich, als sie mich sah. »Du bist sicher Abra, oder?« Sie streckte mir eine blasse, weiche Hand entgegen, an deren Finger drei silberne New-Age-Ringe steckten. »Ich bin Pagan.«
»Woher weißt du, wer ich bin?« Eigentlich kannte ich die Antwort bereits. Pagan wies alle Anzeichen eines typischen Piper-LeFever-Groupie auf: kluge Augen, ein Interesse am Übernatürlichen und ein Katzen-T-Shirt.
»Deine Mutter meinte schon, dass du vorbeischauen und dir Pimpernell und einige der kranken Tiere ansehen würdest. Außerdem hat sie vermutet, dass die Feiertage in deinem Mann das Schlimmste zum Vorschein bringen könnten.« Ihre grauen Augen sahen mich mitfühlend an.
»Klingt tatsächlich nach meiner Mutter. Und seltsamerweise bin ich ja auch tatsächlich hier. Ist das Gästezimmer noch frei?«, erwiderte ich lächelnd.
»Sie meinte, du solltest ihr Schlafzimmer benutzen. Ich wohne gerade im Gästezimmer.«
»Und sonst ist kein Zimmer im ganzen Haus frei? Was ist denn mit dem grünen Salon?« Es war erstaunlich, wie meine Mutter es schaffte, das riesige Haus so vollzustellen, dass man kaum mehr unterkam.
Pagan zuckte die Achseln. »Für Menschen nicht geeignet. Außerdem habe ich da gerade sehr viele Musikinstrumente aufgebaut. Aber wenn du willst, kann ich die natürlich woanders hinräumen...«
»Nicht nötig, danke.«
Auf dem riesigen, kreisrunden Bett meiner Mutter lagen verschiedene Decken, Zeitungen, Zeitschriften, Klamotten, Schmuckstücke und Katzen. Aus irgendeinem Grund reagierten die meisten Katzen sofort allergisch auf mich. Sie fauchten, als ich in ihre Nähe kam, und trollten sich dann so schnell wie möglich. Nur ein kleiner brauner Burmese mit einer eigenartigen Pilzerkrankung im Gesicht ließ sich durch mich nicht aus der Fassung bringen. Er schärfte seine Krallen am Kopfende des Bettes und beobachtete mich neugierig, während ich mich in dem Zimmer einrichtete.
Ich brauchte etwa eine Stunde, um es mir gemütlich zu machen, alles wegzuräumen und das Bettzeug, das für meine Nase etwas muffig roch, abzuziehen. Da ich das Gefühl hatte, mich für Thanksgiving zumindest festlich herrichten zu müssen, zog ich das mittelalterliche Kleid aus zerknittertem Samt an, das mir meine Mutter zum Geburtstag geschenkt hatte. Dann ging ich in die Küche hinunter. Ich hatte gerade die erste Ladung Wäsche in die Waschmaschine gestopft und eine Auflaufform aus einem der Schränke geholt, als Pagan vorsichtig an die Tür klopfte.
»Ich hoffe, ich störe dich nicht. Wow! Du siehst toll aus. Das ist ja ein fantastisches Kleid. Woher hast du das?«
»Von meiner Mutter. Du hast wahrscheinlich keine Lust auf ein Anti-Thanksgiving-Essen, oder?«
»Ehrlich gesagt, da du jetzt da bist... ich wollte eigentlich morgen für ein paar Stunden weg, aber weil du jetzt hier bist...« Sie wurde rot, und mir wurde klar, dass sie nicht viel älter als zwanzig sein konnte.
»Du kannst gerne gehen«, sagte ich und schob die langen Trompetenärmel zurück, um den Schimmel von einem Stück Cheddar zu kratzen.
»Ich komme dann morgen Nachmittag wieder, um dir mit den Katzen zu helfen.«
»Nicht nötig.« Ich blickte auf und lächelte das junge Mädchen an, das ganz offensichtlich lieber woanders sein wollte. »Ich komme schon für ein paar Tage klar.« Ich stellte die Auflaufform mit dem zuvor geschnittenen Gemüse in den vorgeheizten Ofen und klappte ihn zu.
Pagan strahlte. »Vielen Dank! Das ist wirklich nett von dir. Ich habe mich dazu bereiterklärt, hier zu sein, bevor Griff und ich...«
»Geh lieber, ehe ich es mir anders überlege«, unterbrach ich sie lächelnd.
Als die Tür hinter Pagan ins Schloss fiel, wurde mir bewusst, dass ich gar nicht wusste, wie ich die Tiere füttern und versorgen musste. Ich rannte hinter ihr her und erwischte sie gerade noch rechtzeitig. Sie erklärte mir, wer von den neuen Gästen genau beobachtet werden musste und wer kein Trockenfutter bekam.
Als ich in die Küche zurückkehrte, stellte ich fest, dass ich vergessen hatte, den geriebenen Käse auf das Gemüse zu streuen. Da ich nirgendwo einen Topflappen entdecken konnte, nahm ich ein Geschirrtuch, um die Auflaufform wieder aus dem Ofen herauszuholen.
Ich wollte sie gerade wieder mit dem Käse hineinschieben, als das Telefon klingelte. Doch bis ich den Apparat unter einem Haufen alter Rechnungen gefunden hatte, war die Verbindung unterbrochen.
Ich kehrte also wieder zu meiner Auflaufform zurück und legte meine Hände – ohne nachzudenken – an die glühend heiße Gusseisenform. In Gedanken war ich so weit weg, dass ich den Schmerz erst nach etwa einer halben Sekunde registrierte und die Form fallen ließ. In meiner Verwirrung merkte ich nicht, dass ich dabei mit meinen langen Ärmeln an die Gasflamme kam, die auf dem Herd brannte. Innerhalb weniger Augenblicke standen meine Ärmel in Flammen.
Fassungslos starrte ich auf die züngelnden Flammen, ehe ich einen Schrei ausstieß und wie eine Wahnsinnige um mich schlug. Mir fiel ein, dass es in einem solchen Fall das Beste war, sich auf den Boden zu werfen und hin und her zu rollen, was ich auch tat.
Das Feuer war schnell erstickt, aber meine Hände sahen danach furchtbar aus. Ich versuchte so langsam und bewusst wie möglich zu atmen, um nicht in Hysterie und Panik auszubrechen, sondern in Ruhe meine Haut begutachten zu können. Die beiden obersten Schichten waren verbrannt: das darunter liegende gelbliche Fettgewebe war zu sehen. Soweit ich erkennen konnte, war der Stoff des Kleides wenigstens nicht geschmolzen. Dafür sah die Haut verkohlt und wie verbrannter Speck aus. Das Schlimmste jedoch war die Tatsache, dass ich keinerlei Schmerzen verspürte. Alles fühlte sich so an wie immer. Und kein Schmerz bedeutete in einer solchen Situation ein echtes Problem.
»Oh, mein Gott! Hilfe! Scheiße, so helfe mir doch jemand!«
Aber die Haustür war verschlossen, und meine Hände befanden sich keineswegs in dem Zustand, irgendwelche Türen zu öffnen. Ich musste nachdenken...
Natürlich – das Telefon! Ich schlug den Hörer mit dem Ellbogen von der Gabel und beugte mich dann nach vorn, um mit der Nase die Nummer des Notrufs zu wählen. Leider waren die Tasten für meine Nase zu klein. Sollte ich es vielleicht mit dem Ellbogen versuchen? Nein, das würde noch weniger funktionieren. Konzentriere dich, Abra, dachte ich. Jetzt bloß keine Panik. Ich schlüpfte aus einem Schuh und wählte mit meinem großen Zeh.
»Hier ist die Notrufzentrale. Wie kann ich Ihnen helfen?«, meldete sich eine Stimme.
»Ich habe meine Hände verbrannt, Verbrennungen dritten Grades. Außer mir ist niemand im Haus.«
»Okay, ganz ruhig. Wie heißen Sie?«
»Abra Barrow. Ich bin im Tierheim Beast Castle.« Meine Zähne klapperten.
»Gut, ich schicke gleich den Notarzt. Ist Ihnen schwindlig oder schummerig?«
»Nein. Noch keine Anzeichen von Schock, aber... aber das sind Verbrennungen dritten Grades, Verkohlungen.«
»Okay, bleiben Sie ganz ruhig. Ich heiße Helen, Abra. Sind Sie Ärztin?«
»Ich bin Tierärztin.« War Tierärztin. Oh, mein Gott, meine Hände... meine Hände...
»Gut, hören Sie. Ich habe gerade erfahren, dass der Krankenwagen nur fünf Kilometer von Ihnen entfernt ist. Können wir jemanden davon benachrichtigen, dass Sie ins Krankenhaus gebracht werden?«
Wen sollte man benachrichtigen? Weder Hunter noch meine Mutter oder mein Vater kamen in Frage. Ich hatte niemanden mehr.
»Miss Barrow? Abra? Sind Sie noch da? Ich wollte wissen, wen...«
»Ich weiß es nicht.« Plötzlich begann ich unkontrolliert zu weinen.
»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin mir sicher, dass es jemanden gibt. Vielleicht einen Freund? Gibt es einen Freund, den wir benachrichtigen können?«
»Red Mallin.«
»Können Sie den Namen für mich buchstabieren, damit ich die Nummer herausfinden kann?«
»R-e-d M-a-l-l-i-n.« Ich hörte Schritte vor dem Haus. Wie hieß die Frau am anderen Ende der Leitung nochmal? Ich konnte mich nicht erinnern. »Ich glaube, sie sind schon da«, sagte ich.
»Gut, Abra. Halten Sie durch, und ich benachrichtige Red Mallin für Sie.«
Die Sanitäter kamen in ihren weißen Anzügen und riesigen schwarzen Stiefeln herein. Einer war ein Schwarzer und der andere ein Weißer – fast wie in einer dieser Krankenhausserien. Ich blickte in ihre jungenhaften Gesichter und verspürte das seltsame Gefühl, mich nur noch fallenlassen zu wollen. Aber es gelang mir, nicht ohnmächtig zu werden. »Ich brauche eine Infusion mit Ringerlösung«, sagte ich zu dem Schwarzen. »Sind Sie Sanitäter oder Arzt?«
»Verstehe. Ich heiße Joe. Versuchen Sie sich zu beruhigen, Abra.«
Ich starrte auf seine Hände. »Ich glaube, ich brauche ein Debridement...«
»Keine Sorge, wir haben alles unter Kontrolle«, erwiderte der Weiße. Ich fragte mich, ob ich ihn beleidigt hatte, weil ich seinen Kollegen zuerst angesprochen hatte. Dann floss etwas Kühles durch meine Adern, und ich schloss die Augen.
Wolfstraeume Roman
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