12.
Tilbo hatte alles Erdenkliche unternommen, es seinem Onkel so gemütlich wie möglich zu machen. Doch dabei ergaben sich gewisse Probleme: Was zum Beispiel ist der geeignete Aufbewahrungsort für ein Gehirn, wenn gerade kein leerer Kopf zur Verfügung steht? Oder: Ergibt es Sinn, den Patienten in eine stabile Seitenlage zu bringen?
Arthur Longue ließ die linkischen Bemühungen seines ehemals verhassten Urgroßneffen schweigend über sich ergehen. In Anbetracht der Situation blieb ihm auch gar nichts anderes übrig.
Mit dem Fuß schob Tilbo die vereinzelt herumliegenden Trümmer beiseite und legte seinen glibberigen Onkel behutsam auf den Boden.
So, ich hoffe, du liegst einigermaßen bequem, dachte der junge Telepath.
Von bequem kann gar keine Rede sein, antwortete Arthur grimmig. Der Boden ist verdammt hart... und eiskalt.
Tilbo betrachtete das Gehirn mit einem strengen Blick.
Wenn du vorhin ein wenig kooperativer gewesen wärst, könntest du jetzt noch gemütlich in deiner Blase schwimmen. Aber du musstest dich ja sträuben wie eine alte Jungfer.
Offenbar hielt es sein Onkel nicht für nötig, etwas zu erwidern. Tilbo konnte lediglich ein mentales Schnauben vernehmen. Er nutzte den Moment der Stille, um selbst wieder zu Atem zu kommen. Wehleidig betastete er seinen Körper und fand gleich mehrere Stellen, die einer ärztlichen Behandlung bedurften. Doch dies war nicht der richtige Augenblick, sich Gedanken um seine eigenen Wehwehchen zu machen.
Erschrocken sah Tilbo auf die Uhr. Der Countdown war bereits abgelaufen, aber noch schien mit der Welt alles in Ordnung zu sein.
Entweder deine Freunde hatten Erfolg, oder sie sind inzwischen tot, spekulierte Arthur Longue. Wobei ich allerdings eher Letzteres annehme.
Das Gehirn klang eindeutig trotzig.
Sei doch nicht so pessimistisch, Onkel. Immerhin leben wir noch, das ist doch schon mal kein schlechtes Zeichen. Ich frage mich bloß...
Auf einmal hielt Tilbo inne. Der kleine Sender an seinem Gürtel hatte angefangen, laut zu piepen und gleichzeitig zu vibrieren. Eilig stellte der Rotschopf den Funkkontakt her. Das Gerät ließ ein seismisches Rauschen erklingen.
Stell das verdammte Ding leiser, forderte Arthur wütend. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich für Kopfschmerzen habe. Und das bedeutet in meinem Fall, dass jede Stelle an meinem Körper schmerzt.
Tilbo wies ihn mit einer ungeduldigen Geste zur Ruhe. Es bereitete ihm einige Mühe, die richtige Frequenz an dem Sender einzustellen, da die Atmosphäre offenbar mit seltsamen Interferenzen vollgepumpt war. Doch dann hatte er mit einem mal Erfolg, und die blecherne Androidenstimme von Jazzman ertönte mit plötzlicher Klarheit.
„Eins, zwei... Tilbo, bitte melden... eins, zwei... na mach schon, Junge...“
„Hallo, hallo, hier Tilbo“, rief der junge Telepath atemlos. „Ich hoffe, ihr könnt mich hören.“
„Geht so... ziemlich schlechter Empfang...“
Tilbo konnte nicht länger an sich halten.
„Was ist los bei euch? Hattet ihr Erfolg? Konntet ihr denRuf verhindern?“
Stille am anderen Ende der Leitung. Stille und Rauschen. Dann hörte Tilbo ein Seuftzen.
„Negativ... leider negativ... Den Körper des Großen Denkers haben wir unter Kontrolle, aber mit dem Geist sieht es nicht so gut aus. Er ist gerade eben... gesprungen, wenn du verstehst, was das heißt... Ich hoffe, du konntest dich inzwischen mit deinem Onkel arrangieren...“
Nachdenklich betrachtete Tilbo das reglose Gebilde vor seinen Füßen und das Chaos ringsum.
„Ja... ja, ich glaube, wir haben uns ... äh... arrangiert.“
„Gut... denn dein Onkel ist jetzt unsere einzige Chance... Bitte, macht schnell... Jazzman Ende...“
Die Verbindung wurde unterbrochen, nur das Rauschen war noch zu hören. Tilbo schaltete den Sender aus.
Dum... Dumdidum...
Onkel, sei bitte still und hör mir zu: Der Große Denker ist gesprungen. Du weißt, was das bedeutet. Hoffentlich erinnerst du dich noch daran, was wir abgesprochen haben! Mach bitte schnell!
Arthur räusperte sich mental. Er wusste genau, was zu tun war. Zwar gefiel es ihm ganz und gar nicht, von seinem Neffen Befehle entgegenzunehmen, aber die Alternative gefiel ihm noch viel weniger.
Immer mit der Ruhe, mein Junge. All die Zeit habe ich gehofft, dass es letzten Endes darauf hinauslaufen würde: Der Große Denker und ich... Du trittst besser ein paar Schritte zurück, denn was jetzt kommt, ist Männerarbeit!
Mit zwei Sätzen tat Tilbo, wie sein Onkel ihm geheißen hatte. Er hätte es auch ohne Warnung für angebracht gehalten, etwas Distanz zwischen sich und die nun mächtig pulsierende Hirnmasse zu bringen.
Innerhalb weniger Momente schwoll sein Onkel fast bis auf das dreifache seines Volumens an, wobei die glatte Außenhaut seltsam leuchtete und den gesamten Raum in ein rötliches, schummriges Licht tauchte. Die Nervenstränge, die sich seit der Ankunft seines Neffen kaum bewegt hatten, peitschten nun unablässig hin und her, wobei sie gleißende elektrische Funken von sich sprühten, so dass Tilbo an lebende Wunderkerzen denken musste.
Ganz plötzlich bildete sich ein gewaltiger Sog, der alles umstehende auf das große unheimliche Gehirn hinzog und dabei sämtliche Energie an sich riss.
Gerade im letzen Moment schaffte es Tilbo, sich an einem aus der Wand ragenden Metallrohr festzuklammern, doch auch so konnte er deutlich spüren, wie sein Onkel ihm vampirgleich alle Kraft aus dem geschundenen Körper sog. Schließlich gaben seine Finger nach und er wurde quer durch den Raum in Richtung Gehirn geschleudert, wo er jedoch einen Meter davor hart auf ein unsichtbares Kraftfeld prallte.
Zum Glück sind die meisten Knochen in meinem Körper schon gebrochen, dachte Tilbo durch einen dichter werdenden Schmerzschleier. Doch es war fast, als fehlte ihm einfach die Energie, um noch so etwas wie Schmerz zu empfinden. Eine seltsame Lethargie legte sich über ihn, die nur von dem ohrenbetäubenden Lärm ringsum durchbrochen wurde. Mit einer solchen Kraft wurde Tilbo gegen die unsichtbare Wand gepresst, dass es ihm völlig unmöglich war zu atmen. Dem jungen Telepathen schwanden allmählich die Sinne.
Und dann kehrte sich der Sog mit einem Mal ins Gegenteil und stieß mit einem Knall alles von sich weg, wie einen Haufen leergelutschter Joghurttüten. Eine dieser Tüten war der inzwischen bewusstlose Tilbo, dessen Aufprall gnädigerweise durch einen Trümmerhaufen abgemildert wurde.
Inzwischen hatte sich das groteske Gehirn überproportional aufgebläht. Ein übel riechender, schwarzer Rauch stieg von ihm auf und drang ungehindert durch das Kraftfeld, das nun offenbar völlig durchlässig geworden war. Dafür begann es nun, sich mit unglaublicher Geschwindigkeit gleichmäßig in alle Richtungen auszudehnen.
Blitzschnell hatte das Kraftfeld Arthur Longues Wolkenfestung hinter sich gelassen. Es bildete nun eine riesenhafte Kugel, die immer weiter aufgepumpt wurde, wobei sie ihren Mittelpunkt von dem pulsierenden Gehirn zum Erdkern hin verlagerte. Und dies mit einer ungeheuerlichen Geschwindigkeit.
Die Geschwindigkeit war tatsächlich noch um ein Vielfaches höher als die des entschlossenen Astralleibes, der sich zielstrebig auf dem Weg in die Umlaufbahn befand.