6.

 

Höchste Eisenbahn, dachte Quirnseus, der altgediente Leibgardist des großen Denkers. Hastig schritt er die Treppen hinunter, wobei er meist mehrere Stufen auf einmal nahm. Er hatte gerade die Meldung bekommen, vor der er sich die ganze Zeit gefürchtet hatte. Es war eine Gedankennachricht vom Großen Denker selbst gewesen. Die Nachricht war an jedes Mitglied der Organisation adressiert und bestand lediglich aus drei Worten: NOCH EINE STUNDE.

Es gab wohl niemanden bei Result, der nicht wusste, was damit gemeint war.

Was die anderen Mitglieder von dieser Botschaft hielten, fiel Quirnseus schwer zu sagen. Ein jeder versuchte, sich seine Gedanken nicht anmerken zu lassen, ein Phänomen, das unter Telepathen ganz andere Dimensionen annahm: Man musste sich derart konzentrieren, seine Gedanken nach außen hin abzuschirmen, dass man sich kaum an den eigenen Namen erinnerte. Wenn man nicht haarscharf aufpasste, konnte man dadurch zeitweise in ein frühkindliches Entwicklungsstadium zurückgeworfen werden. 

Eilig sprang Quirnseus die letzten Stufen herunter. Er war in einen kleinen Kellerraum gelangt, der weder Fenster noch Türen aufwies. Doch der Gardist wusste es besser. Selbstbewusst schritt er auf die nördliche Wand zu... und ging glatt durch sie hindurch. Auf der anderen Seite angekommen, fand er sich in den weitläufigen Kellergewölben wieder. Quirnseus hielt sich links. Er hatte eine endgültige Entscheidung getroffen: DerDreizehnte Ruf durfte nicht zustande kommen. Egal, wie die Telepathen auch verfolgt wurden, sie hatten einfach nicht das Recht, die Welt zu behandeln, wie einen Silvesterkracher. Quirnseus war entschlossen, dies zu verhindern.

Der rüstige Wachmann ahnte, dass er dieses Ziel nicht allein erreichen konnte. Aber er vermochte nicht zu sagen, wer aus der Organisation seine Meinung teilte. Auf jeden, dem die Vorstellung an ein Ende der Welt Unbehagen bereitete, kamen mindestens zwei Fanatiker, die es kaum abwarten konnten. Doch der Leibgardist wusste, wo er Gleichgesinnte treffen würde.

Zielstrebig trat er in den Gefängnisraum. Er war leer. Den Gefangenen war es offenbar gelungen, sich aus dem Staub zu machen. Und sie hatten dabei ein unglaubliches Chaos angerichtet. Fassungslos musterte Quirnseus die riesigen Haufen von Metallschrott, die in der linken Zelle verteilt lagen. Was mochte hier bloß vorgefallen sein?

Quirnseus kam nicht mehr dazu, dieses Rätsel zu lösen. Kalt spürte er den Lauf einer Gewehrmündung am Nacken.

„Keinen Laut, wenn du gerne noch die nächsten fünf Sekunden erleben willst“, flüsterte eine tiefe Stimme hinter ihm.

Der Leibwächter hörte mehrere Personen ungeschickt näher kommen. Er riskierte einen vorsichtigen Blick und sah in das zylinderförmige blinkende Gesicht von Jazzman. Es war ein unerwarteter Anblick, der wohl niemanden kalt gelassen hätte.

„Das... das ist der Kerl, der mich festgenommen hat“, rief Tilbo, als er Quirnseus wiedererkannte. „Sei ganz vorsichtig, er hat ein paar ziemlich miese Tricks auf Lager!“

„Das sind Tricks, die bei mir nicht ziehen“, schnaubte Jazzman, was mit seiner eigenen Stimme wieder gut rüberkam.

„Hört bitte sofort mit dem Unsinn auf“, rief der Gardist. „Ich bin auf eurer Seite... denke ich jedenfalls. Ich bin gekommen, um euch um Hilfe zu bitten.“

„Was soll das heißen“, fragte Ribotex misstrauisch.   

Quirnseus seufzte. Hatte er wirklich angenommen, dass es einfach werden würde?

„Soviel ich weiß, seid ihr hier, um denRuf zu verhindern. Nun, das ist genau das, was ich auch vorhabe.“

Ribotexs Misstrauen bestand nach wie vor.

„Aber, du bist doch Telepath?“

„Sind wir das nicht alle?“, fragte Tilbo.

Ich nicht“, stellte Jazzman entschieden fest.  

Quirnseus gestikulierte nervös mit den Armen.

„Ist es denn so schwer vorstellbar, dass man sich als Telepath etwas anderes als Tod und Zerstörung wünscht?“ fragte er in der Hoffnung, rhetorisch zu klingen. „Ich kenne eine Menge Nicht-Telepathen, die mir ans Herz gewachsen sind. Der Gedanke, sie in einer Stunde in einem glühenden Feuerinferno zurückzulassen, will mir einfach nicht zusagen.“

„In einer Stunde“, rief Tilbo mit brechender Stimme. „Soll das etwa heißen, dass...“

„Es soll heißen, dass wir für diesen Unfug hier nicht genug Zeit haben“, sagte Quirnseus bestimmt und schlug wütend den Gewehrlauf von seinem Hals. Dann zeigte er auf Tilbo.

„Ich habe Erkundigungen über dich eingefahren. Du bist der Neffe von Arthur Longue. Bedeutet das, dass du mitschuldig an der Telepathenverfolgung bist?“

Tilbo schüttelte so heftig den Kopf, dass sein roter Haarschopf wie ein Komet hin und her sauste.

„Niemals“, verkündete er. „Ich bin zwar gegen die Prophezeiung, aber genauso bin ich gegen die Methoden meines Onkels! Ich habe oft versucht, Einfluss auf ihn zu nehmen.“

„Das kann ich bestätigen“, versicherte Jazzman. „Die ständigen Streitereien zwischen Longue und seinem Neffen sind auf der Eisberg Station Tagesgespräch.“ 

Quirnseus nickte nachdenklich. Mit der Sabotage desDreizehnten Rufs allein wäre es noch nicht getan. Es müsste mit der Befreiung seines Volks einhergehen. Zu allem entschlossen stampfte er aus dem Gefängnisraum. Zufrieden stellte er fest, dass ihm die drei Exgefangenen folgten, ohne weitere Einwände zu erheben.

„Ich zeige euch den Weg nach oben“, sagte Quirnseus. „Was wir jetzt brauchen, ist ein Plan.“ Er nickte Tilbo bedeutungsvoll zu. „Ich glaube mein Junge, es wird langsam Zeit, dein Erbe anzutreten...“

 

Für eine Greifzange voll Dollar
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