4.

 

Am Horizont konnte man schon die Stadt sehen. Die charakteristische Skyline war jetzt selbst durch die vor Hitze flimmernde Luft auszumachen. Die ehemalige Bardame Grazilla stieß einen schrillen Freudenschrei aus. Erschrocken zuckte ihr müder Reisebegleiter aus seinem halbschläfrigen Zustand hoch.

„Was... was ist los?“ stammelte er benommen.

„Mister Erikson, sehen Sie doch nur! Die Stadt, wir sind endlich am Ziel!“ Grazilla war außer Rand und Band. Wie lange schon hatte sie diesen Anblick herbeigesehnt? Schier endlos war ihr ihre Reise durch die Burnoutwüste erschienen. Dabei hatten sie die letzten paar hundert Meilen wenigstens nicht mehr zu Fuß oder trampend zurücklegen müssen. Es war ihnen nämlich gelungen, heimlich zwei Reitesel von den Äarock Nomaden zu stehlen. Doch der borstige Rücken eines dieser sechsäugigen Viecher war auch nicht der richtige Platz für einen zukünftigen Star, fand Grazilla. In nächster Zeit hoffte sie da auf wesentlich mehr Komfort.   

Grazillas Agent und Mentor, Gneudel Erikson, rieb sich die tränenden Augen. Dann gähnte er laut. Mit seinen rüstigen 65 Jahren waren die zurückliegenden Tage für ihn besonders strapaziös gewesen. Aber er hatte Reisen an sich noch nie gemocht. Nur der einmalige Zauber, der von seiner üppigen Entdeckung Grazilla ausging, hatte ihn das alles überstehen lassen. Sie war wirklich wunderbar.

Erikson trug einen großen Sonnenhut, unter dem sein lockiges graues Haar hervorquoll. Die Natur hatte ihn ohne Ohren und Nase, dafür aber überflüssiger Weise mit zwei Mündern, zur Welt kommen lassen. Aus diesem Grund musste seine kleine Nickelbrille mit einem gewundenen Drahtgestell vor seine trüben Augen gespannt werden. Erikson gähnte ein doppeltes Gähnen. Um wirklich wach zu werden, hätte er jetzt eine starke Tasse Kaffee benötigt, aber ihre Wasservorräte waren schon am gestrigen Abend erschöpft gewesen. Doch wie es aussah, würden sie die rettende Stadt wohl noch vor Einbruch der Nacht erreichen. Dieser Gedanke beflügelte Erikson. Es würde für sie beide einiges zu tun geben. Allerdings erst nachdem seine Kräfte sich vollständig regeneriert hatten, überlegte der alte Staragent. Sicherlich würde Grazilla in Sancta Wasta einschlagen, wie eine Bombe, daran gab es für ihn überhaupt keinen Zweifel. Natürlich würden zuvor noch einige kosmetische Veränderungen vonnöten sein, allerdings nur minimal. Denn auf keinen Fall wollte Erikson das Risiko eingehen, den besonderen Charme seiner Neuentdeckung vielleicht zu zerstören. Gneudel arbeitete im Auftrag des Bürgermeisters der Stadt, und dieser hatte ihm schon vor einigen Monaten von seinem großartigen Plan erzählt: Nach Ansicht des Bürgermeisters Vice Inker brauchte die krisengebeutelte Stadt etwas, um die allgemeine Moral aufrecht zu erhalten. Eine anbetungswürdige Ikone, einen erfolgreichen Star, auf den die müden Stadtmenschen all ihre Hoffnungen und Sehnsüchte projizieren konnten. Jemand, zu dem man bewundernd aufsah und der in der Lage war, das ganze üble Image der Stadt aufzubessern. Um diesen Jemand zu finden, hatte er Erikson ausgesandt. Und Erikson war nach langer, fruchtloser Suche fündig geworden. Ausgerechnet in einer der verkommensten Bars des ganzen Sektors war er auf ein paar schlecht geschossene Holobilder gestoßen, mit denen der Barkeeper bereits regen Handel trieb. Mit fachmännischem Blick hatte der alte Agent - trotz der miesen Qualität der Bilder - sofort das ungeheure Potential des abgebildeten Modells erkannt. Noch am selben Abend hatte er sich mit der blauhaarigen Schönheit bekannt machen lassen. Er war vom ersten Augenblick völlig hin und weg, was die enorme Ausstrahlung der Dame betraf. Und ein kurzes Gespräch mit ihr hatte ergeben, dass sie durchaus Karriereambitionen besaß, die sich mit den Ideen seines Auftraggebers deckten. Natürlich hatte Grazilla nicht alles verstanden, was Erikson ihr über Ikonen und PR Wirksamkeit erklärt hatte. Doch ihr hatte der Hinweis auf Geld und Starruhm völlig ausgereicht, um sich mit ihm auf die lange Reise nach Sancta Wasta zu begeben. Und wenn Gneudel sie nun mit vor Staunen offenen Mündern beobachtete, wie sie sich majestätisch den Lippenstift nachzog, konnte für ihn gar kein Zweifel bestehen: Eine Mischung aus Hure und Heiliger. Das war genau das, was er gesucht hatte.

„Mister Erikson“, unterbrach Grazilla ihn bei seinen schwelgerischen Überlegungen. „Was meinen Sie, werde ich eine eigene Villa mit Swimmingpool bekommen?“

Nach so etwas wie einer Villa wirst du in Sancta Wasta lange suchen können, mein Schätzchen, dachte Gneudel, dem die heruntergekommenen Gebäude der Stadt noch deutlich vor Augen standen.

„Aber selbstverständlich, mein Kind“, versprach er vollmundig. „Ich habe doch schon gesagt, dass man dir jeden Wunsch von den Augen ablesen wird.“

Die Worte schienen Grazilla für einige Augenblicke zufrieden zu stellen. Aber es waren nur kurze Augenblicke.

„Und was ist mit Autos?“ fragte sie aufgeregt.

„Äh... was soll damit sein?“

„Na, ich meine, ob ich eins bekomme? Ich denke da nicht an irgend so einen zusammengeschweißten Neubau, sondern an einen gut erhaltenen Oldtimer. Die Wagen von heute haben einfach keinen Stil!“

Erschrocken stellte der alte Agent fest, dass seine große Entdeckung bereits Starallüren entwickelte. Und das, obwohl sie noch gar kein Star war.

„Ach ja, Autos. Natürlich. Du bekommst selbstredend auch ein Auto...“

„Nur eins?“ hakte die ehemalige Bardame gierig nach.

„Nein, nein! Viele... viele Autos. Alles, was du willst“, versicherte er beklommen. „Aber eins nach dem anderen. Zuerst gibt es noch eine ganze Menge zu regeln, bis es soweit ist!“

Grazilla zog verächtlich die Augenbrauen hoch.

Das überlasse ich ganz Ihnen, Mister Erikson!“ Sie verteilte mit einer riesigen Quaste Puder auf ihrem Gesicht. „Immerhin sind Sie mein Agent!“

Oh ja, dachte Gneudel Erikson. Sie ist wirklich wundervoll. Wenn ich ihr doch nur diese Sache mit dem Reden abgewöhnen könnte.

Für eine Greifzange voll Dollar
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