2.
Zzzztttzz... Mann ist das hier dunkel.
Das automatische Reaktivierungsprogramm von Jazzman lief einmal mehr auf vollen Touren.
Wie wär’s, wenn ich vielleicht erst mal die Sichtsensoren einschalte?... Surrr.
Noch immer war es dunkel. Allerdings war es nun eine Dunkelheit, in der Jazz einige Konturen erkennen konnte.
So, noch etwas heller stellen...
Der Androide sah Gitter. Sie machten einen massiven Eindruck. Und die Wände... waren aus Stein, genau wie der Boden, auf dem Jazz lag.
Grimmig stellte er fest, dass mit dem Reaktivierungsprogramm etwas nicht so lief, wie es eigentlich laufen sollte. Mit der Motorik schien es einige Probleme zu geben. Jazz beschloss, den Kopf leicht anzuheben, um nach dem Rechten zu sehen.
Huch....
Erschrocken musste er erkennen, dass es für seine Bewegungsunfähigkeit einen triftigen Grund gab: Man hatte ihm offenbar Arme und Beine abmontiert. Entsetzen packte den Kopfgeldjäger. So etwas konnte man schlecht auf die leichte Schulter nehmen. Der Anblick einzelner fehlender Gliedmaßen war für den Androiden nichts Besonderes[2], aber gleich alle auf einmal?
Er konnte nur hoffen, dass seine Körperteile wenigstens an einem sicheren Platz aufbewahrt wurden und nicht schon ihren Weg in eine Müllpresse gefunden hatten.
Es ist so seltsam still hier drinnen, überlegte der gefangene Kopfgeldjäger. Dann fiel ihm auf, dass das Reaktivierungsprogramm offenbar vergessen hatte, die Hörsensoren zu reaktivieren.
Funktioniert bei mir denn gar nichts mehr? ärgerte sich Jazz und schaltete das Auralsystem ein.
Sonderbare Geräusche drangen in seine Zelle. Nein, das stimmte nicht ganz, die Geräusche kamen aus seiner Zelle. Sie erklangen direkt hinter ihm.
Nach einer Weile gelang es Jazzman, die Laute als ein Jammern zu identifizieren.
Ribotex, bist du das? fragte Jazz, das heißt, er wollte es fragen, aber er brachte kein Wort heraus.
Verdammt noch mal, Reaktivierungsprogramm, fahr bitte auf der Stelle die Sprechsoftware hoch!
Jazz wartete ungeduldig, aber nichts geschah. Schon wollte er den mentalen Befehl wiederholen, doch da meldete sich das Programm plötzlich:
Zugriff auf Standartstimme zurzeit leider nicht möglich.
Was soll das heißen, rief der Androide aufgebracht in sich hinein.
Zugriff auf Standartstimme zur Zeit leider nicht möglich, wiederholte das Reaktivierungsprogramm. Erhalte Zugriff auf Stimme 2-7-A.
Moment, überlegte Jazz, ist das nicht die Stimmimitation von Grazilla?
Bestätige, antwortete das Reaktivierungsprogramm. Soll Stimmmuster jetzt geladen werden?
Jazzman zuckte mit mentalen Achseln und ließ den mentalen Kopf hängen.
Na schön, wenn nichts anderes zur Verfügung steht...
Mit einem leisen Knistern erwachte das Sprachmodul zu neuem Leben.
„Ribotex, bist du es?“
Der Telepath kam, den Geräuschen nach zu urteilen, gerade erst zu sich.
„Grazilla?“, fragte er verwundert. „Hat man dich etwa auch gefangen genommen?“
„Mach die Augen auf, du Idiot!“ schimpfte Jazzman.
Ribotex öffnete blinzelnd die Augen und sah auf seinen arm- und beinlosen Partner.
„Oh“, sagte er. Das Reden fiel ihm noch immer etwas schwer. Er hatte dabei ständig das ungute Gefühl, sein Kiefer bestünde aus Knetgummi.
„Wie geht es dir?“ erkundigte sich der Androide. „Hat man dich verarztet?“
„Wie rührend, dass du dir Sorgen um mich machst“, sagte Ribotex. Speichel lief ihm beim Reden aus beiden Mundwinkeln. Doch er bemerkte, dass man ihn fachmännisch verbunden hatte. Mumifiziert wäre hier vielleicht der passendere Ausdruck. Ribotex sah kaum eine Stelle an seinem Körper, die nicht mit Mullbinden umwickelt war. Und jede seiner Bewegungen konnte der geschundene Telepath buchstäblich bis in die Knochen spüren.
„Ich glaube, Walzer tanzen sollte ich in diesem Zustand nicht, aber ich kann schon wieder humpeln.“
„Ausgezeichnet“, kommentierte Jazzman.
„Äh... deine Stimme...“, wunderte sich Ribotex.
„Frag nicht!“ knurrte Jazz, doch es klang nicht wie ein Knurren. Mit Grazillas Stimme klang es divenhaft. Jazz beschloss, so schnell wie möglich das Thema zu wechseln.
„Wie wäre es, wenn du einmal hier rüber humpelst und die Umgebung inspizierst?“ schlug er vor.
„Was soll es denn hier zu inspizieren geben? Wir sind eingeschlossen in eine Zelle?“
„Du könntest nachschauen, ob in den Nachbarzellen noch andere Gefangene liegen, oder ob irgendwelche Wachen patrouillieren.“
„Das kann ich auch von hier sehen“, antwortete Ribotex, dem es daran gelegen war, jede überflüssige Bewegung zu vermeiden. „Links oben von dir ist eine Gitterwand. Da kann man durchschauen.“
Ribotex wartete bis sich die Augen an das Dunkel gewöhnt hatten. Der Kerkerraum, in dem sie sich befanden, wurde nur von einer kleinen Öllampe beleuchtet. Die Zelle von ihm und Jazzman war leer, wenn man von ihnen beiden absah. Das einzige, was es hier drin zu sehen gab, waren die Gitter und zwei steinerne Vorsprünge, die aus der Wand herausragten und mit viel Phantasie wohl so etwas wie Betten darstellen sollten.
Der Gang vor der Zelle war auch nicht viel dekorativer. Ab und zu sah Ribotex Ratten hin und her huschen. Von einer Wache fand er keine Spur. Man schien sich, was die Sicherheit betraf, ganz auf die solide Zellengestaltung zu verlassen.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Gefängnisses war noch eine Zelle, die sich zu der von Jazzman und Ribotex wie ein Spiegelbild verhielt. Der Telepath sah noch genauer hin. Er glaubte, in der Zelle ein rötliches Schimmern auszumachen. Dann erkannte er, dass es sich um einen roten Haarschopf handelte. Ribotex blickte etwas tiefer und fand das dazugehörige Gesicht. Es war ein sehr junges und sehr abgemagertes Gesicht. Zwei matt glänzende Augen funkelten Ribotex entgegen.
„Äh... Hallo?“ rief Ribotex mit dem Kopf an die Gitterstäbe gelehnt.
Unter den Augen tat sich müde ein schmaler Mund auf.
„Auch Hallo!“ antwortete der Mund lakonisch. „Sieht ja ganz so aus, als hätte ich Zellnachbarn bekommen.“
„Wer bist du? Und wieso bist du hier?“ fragte Ribotex. Er überlegte kurz und fügte noch eine weitere Frage hinzu. „Und wo ist hier?“
„Immer langsam“, antwortete der Junge. Er kratzte sich an seinem roten Schopf. Die Fragen hätten eigentlich leicht zu beantworten sein müssen. Aber nach den vielen Verhören wusste er nicht mehr so recht, wo ihm der Kopf stand.
„Mein Name ist Tilbo“, brachte er schließlich hervor. „Tilbo Tzeetzack. Und wir befinden uns im Kerkerverlies von Result.“
„Hast du das gehört?“ wandte sich Ribotex an Jazzman. „Wir hatten Erfolg, wo alle vor uns versagt haben: Wir haben Result gefunden und infiltriert!“
„Von infiltriert kann kaum eine Rede sein“, antwortete Jazzman skeptisch. „Wir sind Gefangene, du kannst dich kaum bewegen und mir fehlen Arme und Beine.“
„Hey“, meldete sich Tilbo aus der Nachbarzelle zu Wort. „Habt ihr etwa eine Frau da drüben?“
„Nicht ganz“, antwortete Ribotex mit Seitenblick auf Jazz. „Es handelt sich um einen Androiden.“
„Ein weiblicher Androide?“ wunderte sich Tilbo.
„Nun, die Sache ist etwas komplizierter...“
„Sag uns lieber, warum man dich hier eingesperrt hat“, rief Jazzman und versuchte dabei so maskulin wie möglich zu klingen, aber die Software spielte nicht mit. „Tilbo Tzeetzack? Der Name kommt mir seltsam bekannt vor.“
„Das sollte er auch“, antwortete Tilbo mit einer sonderbaren Mischung aus Stolz und Scham. „Ich bin der Neffe von Arthur Longue. Dem selbsternannten Herrscher unserer Schönen Neuen Welt. Genauer gesagt, bin ich der Urgroßneffe. Und ich bin ein Psi-Meister!“
„Donnerwetter!“ entfuhr es Ribotex. „Und das, obwohl Longue alle Telepathen verabscheut und jagen lässt. Du weißt bestimmt, was es heißt, das schwarze Schaf in der Familie zu sein!“
Tilbo hatte mit einem Mal alle Müdigkeit abgeworfen und sprang auf.
„Von wegen“, rief er zornig. „Mein Onkel ist selbst ein Telepath! Und zwar der erste, den es überhaupt auf der Erde gegeben hat.“
„Das ist komisch“, überlegte Jazzman laut. „Warum hat er denn dann alle Telepathen hetzen und ausschalten lassen?“
Der Rotschopf kratzte sich am Ohr.
„Das hat zwei Gründe. Und zwar einen schlechten und einen guten: Zum einen wollte er wohl der einzige Psi-Meister bleiben, um mehr Macht zu besitzen... Und zum anderen lag es an demDreizehnten Ruf. Wisst ihr, wovon ich spreche?“
Das taten die beiden Agenten allerdings.
„Wir sind hier, um ihn zu verhindern“, antwortete Jazzman heroisch. Doch mit Grazillas Stimme klang es nur schnippisch.
„DenDreizehnten Ruf verhindern, genau das wollte mein Onkel auch“, seufzte Tilbo. „Das ist der andere Grund, warum er die Telepathen vernichten wollte: Sie sollten diesenRuf nie zustande bringen... Allerdings hat die Verfolgung die Telepathen erst dazu gebracht, sich so brennend für die ganze Sache zu interessieren.“
„Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung“, kommentierte Ribotex.
„Ja und zwar eine, die sich bald erfüllen wird.“ Tilbo schüttelte den Kopf. „Ich habe versucht denDreizehnten Ruf abzuwenden und bin kläglich gescheitert.“
„Nun mal immer mit der Ruhe“, beschwichtigte Ribotex. „Jetzt sind wir doch da. Was haltet ihr davon, wenn wir zunächst einmal hier ausbrechen?“
Tilbo winkte ab.
„Ich habe es bereits versucht“, antwortete er niedergeschlagen. „Keine Chance.“
„Lass mal überlegen. Du sagtest doch, dass du über telepathische Kräfte verfügst. Könnten die uns vielleicht helfen?“
„Ich bin in der Lage, jedes elektronische Gerät zu kontrollieren. Ich könnte einen alten Staubsauger in einen funktionstüchtigen Schweißbrenner umwandeln. Aber man hat darauf geachtet, dass nichts Elektronisches in meine Nähe kommt.“
„Ha“, rief Ribotex euphorisch. „Wenn es weiter nichts ist. Wir haben Jazzman, den Androiden. Könntest du ihn nicht zu einem Schweißgerät umfunktionieren?“
„Ich halte das für keine gute Idee“, beschwerte sich Jazz, der sich sicher war, als Schweißbrenner ernste Identitätsprobleme zu bekommen.
„Das wäre normalerweise kein Problem“ Der Rotschopf machte ein betrübtes Gesicht. „Aber normalerweise bin ich auch nicht mit Psi-Blockern voll gepumpt. Man hat mir zwar nicht alle meine Kräfte rauben können, aber bis zu euch in die Zelle reichen sie leider nicht.“
Für einige Sekunden herrschte grüblerisches Schweigen.
„Oh, dann haben wir ein Problem.“ gab Ribotex zu. „Aber... ich könnte Jazzman auseinander bauen und dir die Einzelteile rüberwerfen.“
Wieder konnte Jazz der Idee seines Partners wenig abgewinnen.
„Um mich auseinander zu bauen, bräuchtest du einen Schweißbrenner“, sagte er. „Und wenn du den hättest, wäre die Aktion ohnehin überflüssig.“
Ribotex wollte sich nicht geschlagen geben.
„Irgend einen Weg muss es geben“, beharrte er. „Kein Gefängnis der Welt ist wirklich ausbruchssicher[3].“
„Dieses hier offenbar schon“, entgegnete Jazz. In seinem Zustand konnte man ihm einen gewissen Hang zum Pessimismus nicht übel nehmen.
„Es muss einfach etwas geben, das wir bisher übersehen haben. Ich komme nur einfach nicht darauf, was es sein könnte.“ Während er laut überlegte, humpelte Ribotex hin und her.
Flüchtig bemerkte er, wie er mit dem lädierten Bein gegen etwas stieß.
„Etwas, das wir bei unseren Überlegungen bisher außer Acht gelassen haben...“
Wieder stieß er sich den Fuß.
Ärgerlich blickte Ribotex nach unten.
„Oh...“, hauchte er, als sich die Erkenntnis den Weg von seinen Füßen in sein Bewusstsein bahnte. Irgendetwas? Übersehen? „Die... die Blackbox!“
„Was bitte?“ wunderte sich Tilbo.
„Das ist die Lösung! Die Blackbox! Wir haben sie völlig übersehen.“
Die Blackbox schien zu merken, dass von ihr die Rede war und ließ ein leises Pfeifen erklingen. Ribotex hob sie mit seinen verbundenen Armen umständlich vom Boden auf und drückte sie ans Herz.
Die Box machte Brbrbrrrr.
„Dieses Geräusch hat sie bisher noch nicht gemacht“, sagte Jazz. „Was es wohl zu bedeuten hat?“
„Ich... ich glaube, sie schnurrt?!“
„He, ihr beiden“, rief Tilbo ungeduldig. „Wenn, dann sollten wir so schnell wie möglich ausbrechen. Kannst du das Ding vielleicht zu mir rüber schicken?“
Vorsichtig schob Ribotex die Blackbox zwischen den Gitterstäben hindurch. Dann gab er ihr einen Klaps. Die Box rollte fiepend auf Tilbo zu.
„Angekommen“, rief Tilbo und zog den kleinen Kasten von seiner Seite durch die Gitter. Dann wog er die Blackbox nachdenklich in den Händen und konzentrierte sich.
Nichts geschah.
Nach einer Weile verlor Tilbo die Geduld.
„Ich kann das auch nicht verstehen“, entschuldigte sich der Teenager. „Dieses Ding reagiert einfach nicht auf meine Bemühungen. Offenbar sind meine Kräfte nicht mehr das, was sie einmal waren.“
„Das begreife ich nicht“, sagte Ribotex enttäuscht.
Jazzman hob leicht den Kopf an.
„Erinnere dich, was man uns in der Eisberg Station über diese neue Blackboxgeneration gesagt hat! Sie sind immun gegen Psi-Kräfte.“
„Verdammt“, rief Ribotex. „Das hatte ich ganz vergessen.“ Erneut begann er, in der Zelle auf und ab zu humpeln. „Aber gab es da nicht irgend eine Einschränkung?“
Jazzman nickte, was ihm momentan alles andere als leicht fiel.
„Ja, ich glaube, wenn sich die Box einige Male selbst repliziert hat, ist ihre Psi-Resistenz aufgehoben. Aber das gilt dann nur für ein Modell.“
„Aber die wievielte Replikation ist es?“ fragte Ribotex voll Ungeduld. „Kannst du dich noch daran erinnern?“
Jazzman dachte nach. An und für sich war es für einen Androiden seines Typs unmöglich, etwas zu vergessen. Alle Fakten wurden von seinem künstlichen Gehirn sorgfältig als Erinnerungsdaten gespeichert. Das Problem war lediglich, auch an diese Daten heranzukommen. Das war äußerst schwierig, und manche Einträge wurden sogar nie wieder gefunden.
Sorgfältig ging Jazzman die Dateien nacheinander durch.
„Ich will ja nicht nerven“, nervte Tilbo, „aber könnte sich die Roboterdame vielleicht etwas schneller erinnern?“
Jazzman achtete nicht auf ihn. Nur das Wort Dame ließ ihn innerlich zusammenfahren.
Tilbo trommelte ungeduldig mit den Knöcheln gegen die Gitterstäbe.
„Ich hab’s!“ rief Jazz nach einigen Sekunden. „Es ist die 136. Replikation. Sie ist nicht mehr resistent.“
„Ach ja“, sagte Ribotex mit halboffenem Mund, aus dem die Speichelfäden nach unten sickerten. So ein Kieferbruch war eine hartnäckige Angelegenheit. Ribotex hatte nun nicht mehr nur im übertragenden Sinn ein loses Mundwerk. „Aber, wie kommen wir an diese 136. Replikation heran?“
Gemütlich ließ Jazz den überanstrengten Kopf auf den Steinboden zurücksinken.
„Du hast doch noch ein Bein, das unversehrt ist?“ fragte er seinen Partner.
Ribotex sah an sich herab.
„Ja“, bestätigte er. „Das linke ist noch ganz in Ordnung. Was ist damit?“
„Nun“, sagte Jazz. „Ich hoffe, du kannst gut damit zutreten!“