8.

 

„Der arme Kerl, er ist unter dem Gewicht deines Metallkörpers fast zusammengebrochen. Und dabei war er so höflich: ´Madame, soll ich Ihnen vielleicht von da oben runter helfen? Steigen Sie einfach auf meine Schulter!` Ha, ha, ha! Und dabei hat er sogar noch versucht, dir unter einen Rock zu schauen, der in Wahrheit überhaupt nicht da war!“ Ribotex schien die brenzlige Situation nicht besonders ernst zu nehmen und kicherte den ganzen Weg gackernd vor sich hin.

Jazzman achtete gar nicht auf sein albernes Geschwätz, sondern zog ihn wortlos schnaubend hinter sich her. Er war ausgesprochen froh, dass Ribotex das lächerliche Illusionsspiel endlich fallengelassen hatte. Er wusste schon, dass er dieser Illusion gerade sein künstliches Leben verdankte, doch irgendwie hasste er es, als Frau in Erscheinung zu treten. Eigentlich war Jazz zwar nur ein mechanisch funktionierendes Wesen, ein Es, ohne eindeutige Geschlechtsmerkmale... aber insgeheim hatte er sich immer als Mann gesehen, was sein Verhalten und sogar sein Erscheinungsbild als Androide seit seiner Erbauung maßgeblich geprägt hatte. Man muss sich dabei vor Augen halten, wie schwer es für eine künstliche Person ohne biologische Rückendeckung sein kann, sich überzeugend einer Geschlechterrolle anzupassen. Von Zeit zu Zeit kann einem ohne den Wink der Natur ein wenig die Orientierung abhanden kommen. Schwere Zweifel über die sexuelle Identität sind da sozusagen programmiert. Aus eben diesem Grund hatte sich Jazz vorhin äußerst unbehaglich gefühlt, als er die gierigen Männerblicke auf seinem imaginären, üppigen Busen bemerkt hatte. Am liebsten hätte er jedem einzelnen von ihnen die Augen ausgeschossen! Natürlich war es richtig gewesen, sie stattdessen zu überlisten, musste er sich gedemütigt  eingestehen. Allzu lange würden die Rocker auf den Trick des Telepathen allerdings nicht mehr hereinfallen und dann würde eine wilde Jagd beginnen. Es war höchste Eile angesagt, und dieser Ribotex nervte ihn mit seinem albernen Geschwätz.

„Gib endlich Ruhe, sonst brate ich dir eins mit dem Gewehrkolben über!“ zischte Jazz gereizt. „Wir müssen zusehen, dass wir ganz schnell von hier verschwinden!“

„Fauch mich nicht so von der Seite an, du Blechkiste!“ gab Ribotex beleidigt zurück. „Denk lieber daran, wer dir gerade deinen matt glänzenden Hintern gerettet hat: Niemand anderer als ich! Ohne mich hätten dich diese äußerst aggressiven Jungs längst verschrottet. Also sei besser etwas netter zu mir!“

„Ich habe keine Zeit für falsche Nettigkeiten! Ich muss mir überlegen, wie wir am schnellsten von hier wegkommen. Außerdem wäre ich ohne dich gar nicht erst in Schwierigkeiten geraten!“

Mit einem Tritt stieß Jazz die Tür auf und zog den Telepathen hinter sich her. Warm und schwül schlug ihnen der Wüstenwind entgegen.         

„Das ist ja wohl der Witz des Jahrhunderts!“ empörte sich Ribotex. „Ich habe dich bestimmt nicht darum gebeten, mich quer durch den ganzen Sektor zu verfolgen! Du hast dir den Ärger selbst zuzuschreiben.“ 

„Benutzt doch einfach eins von den Motorrädern hier“, rief Grazilla ihnen von der Türe aus zu. „Seht nur, die Rocker haben ihre Kisten noch nicht mal abgeschlossen!“ Grazilla war zusammen mit dem Androiden und dem trickreichen Ribotex nach unten geflohen. Nur kurz hatte sie vor einem heilgebliebenen Spiegel in der Bar innegehalten, um sich schnell den Lippenstift nachzuziehen.

„Das ist wirklich eine ausgezeichnete Idee!“ freute sich Jazzman über diese Fluchtmöglichkeit. „Los mach schon Ribodings, sehen wir zu, dass wir von hier verschwinden.“

Jazz schnappte das nächstbeste Motorrad und schwang sich lässig in den Sitz. Dann drehte er den leichtsinnig steckengelassenen Zündschlüssel und ließ den kraftvollen Motor beim Start laut aufheulen.

„Einen Moment mal, nicht so schnell!“ hielt ihn Grazillas schneidende Stimme zurück. „Was ist mit meiner Bezahlung? Geschäft ist Geschäft! Immerhin schuldest du mir für meine Dienste noch satte 80 Dollar!“

„60 Dollar!“

„Na schön! Dann aber her damit!“

„Meine Güte, ich habe doch gar nicht mehr so viel Zeit...“ Nervös gestikulierte Jazzman mit den dünnen Stahlarmen. Die Rocker konnten jeden Moment mit der Jagd auf ihn beginnen.

„Wenn du mir das Geld nicht sofort gibst, schieße ich dir ein Loch in den Reifen! Dann wirst du sehen, wie weit du noch kommst!“ Mit diesen Worten zog Grazilla eine zierlich wirkende Pistole aus ihrem Strumpfband und zielte damit genau auf den Motorradreifen.

„Ist ja schon gut“, knurrte Jazz und begann, hektisch in der Aktentasche nach Geld zu suchen. Leider fand er nur 46 Dollar und drei Cent. Wo hatte er nur wieder das ganze Geld ausgegeben? Hatte er in letzter Zeit wirklich so verschwenderisch gelebt? Na ja, ein erfrischendes Ölbad hier, eine entspannende Auswuchtung da... Vielleicht sollte er in Zukunft doch besser etwas sparsamer sein - sofern es für ihn überhaupt noch eine Zukunft gab.

Jazz überreichte Grazilla die Scheine, woraufhin diese aus Misstrauen und Routine sofort nachzählte.

„Das ist zu wenig, wo ist das restliche Geld?“ fragte sie verärgert. Sie hatte Erfahrung mit Kunden, die nach einer erbrachten Dienstleistung nicht zahlen wollten. Diese Kunden hatten es bisher noch immer bereut. Grazilla entsicherte die kleine Pistole.

„Tut mir leid, ich habe im Moment nicht mehr. Aber daran kann ich doch jetzt auch nichts ändern. Ich kann schließlich kein Geld herzaubern...“ Verstohlen blickte Jazzman zu Ribotex, der bereits gemütlich auf dem Rücksitz des Motorrades saß. Grazilla folgte dem Blick. Der Telepath hatte aus Albernheit die Illusion eines Motorradhelmes auf seinem Kopf entstehen lassen.

„Denk noch nicht einmal daran, Ribotex!“ drohte Grazilla, die die Idee des Androiden sofort durchschaute. Sie zielte jetzt abwechselnd auf den Telepathen und die Reifen.

„Aber ich weiß einfach nicht, was ich dir geben soll“, jammerte Jazz verzweifelt.

Die lauten Geräusche aus dem Inneren der Bar wiesen untrüglich darauf hin, dass die Rockermeute die Verfolgung schon aufgenommen hatte.

„Gib mir doch einfach noch das Holo-Dingsbums, das du dabei hast und wir sind quitt“, schlug Grazilla vor. „Du weißt schon, das Gerät, mit dem man diese tollen Bilder erzeugen kann.“

„Meinen Holoprojektor willst du haben? Was in aller Welt willst du damit bloß anfangen?“ empörte sich Jazz. Diese Frau brachte ihn noch um den Verstand, nicht zu vergessen, dass sie ihn auch um die Existenz bringen würde, wenn sich die Situation noch länger hinzöge. Ganz deutlich vernahm er die wütenden Stimmen der Verfolger, die immer lauter wurden.      

„Ich habe dir doch erzählt, dass ich eine Modellkarriere plane... und ich kenne da ein paar Leute, die mit diesem Ding bestimmt ein paar ganz tolle Schnappschüsse von mir machen. Und mit denen werde ich dann ganz groß rauskommen! Du wirst schon sehen!“ Ihre Augen bekamen einen träumerischen Glanz. Sie schien es tatsächlich ernst zu meinen. Todernst sozusagen.

Jazzman hörte, dass einige der Rocker bereits in den Vorraum der Bar eingedrungen waren. Er hatte also höchstens noch ein paar Sekunden, um endlich von diesem fürchterlichen Ort wegzukommen. Aber: So ein Holoprojektor war verdammt teuer und er gehörte für ihn als Kopfgeldjäger zum festen Equipment. Trotzdem musste Jazz schweren Herzens einsehen, dass ihm keine andere Möglichkeit blieb, als auf ihre Forderungen einzugehen.

„Na schön, wenn du es unbedingt haben willst...“ willigte er notgedrungen ein. „Aber halt ihn mir wenigstens in Ehren! Wir haben schon viel zusammen durchgemacht, dieser Projektor und ich!“

Er überreichte ihr das flache Gerät und als er sich zu ihr rüberbeugte, tat sie etwas vollkommen Unerwartetes: Sie schlang ihre schlanken Arme um seinen dünnen Hals und gab ihm einen Kuss, den er reflexartig erwiderte, bevor ihm überhaupt bewusst wurde, was geschah.

„Warum hast du das getan?“ fragte Jazzman erstaunt.

„Ich weiß nicht“, antwortete sie kokett. „Du bist irgendwie süß. Mir war einfach danach!“ Sie errötete ein wenig, was angesichts ihres Berufes etwas seltsam erschien. Sie hielt jetzt seinen Holoprojektor in der Hand.

Plötzlich wurde mit einer gewaltigen Wucht die Tür der Bar aufgestoßen. Die herausstürmenden Rocker zögerten nicht lange, grölend das Feuer zu eröffnen. Innerhalb weniger Sekundenbruchteile entstand ein wildes Durcheinander, und in der abkühlenden Abendluft stieg der Bleigehalt unmittelbar um einige hundert Prozent. Zum Glück waren die Rocker von den vorangegangenen Ereignissen (zudem von vorangegangenen Drogenexzessen) noch zu verwirrt, um genau zu zielen, was vielleicht der einzige Grund war, dass Jazz nicht direkt vom gestohlenen Motorrad geschossen wurde.

„Festhalten!“ rief der Androide Ribotex zu, der die allgemeine Verwirrung durch die Erzeugung eines grellen Lichtfeuerwerks noch steigerte.

Jazz gab so schnell Vollgas, dass der Vorderreifen des Motorrads vom Boden abhob und sie die ersten paar Meter auf nur einem Reifen zurücklegten. Ribotex wäre bei dieser Aktion beinahe hinten über gefallen, hätte er sich nicht blitzschnell an den schmalen, stählernen Hüften vor ihm festgeklammert.

Auf diese Art und Weise brachte Jazzman in kürzester Zeit den größtmöglichen Abstand zwischen sich und die schießwütigen Verfolger. Diese stießen vor Wut gellende Laute aus.

Währenddessen war Guldorn Brute, der Anführer, ebenfalls rausgekommen. Grenzenloser Zorn spiegelte sich in seinen Gesichtszügen. Aus voller Kehle donnerte er dem Androiden die wildesten Verwünschungen und Drohungen hinterher, die kaum jemanden mit Gefühl kalt gelassen hätten. Seine unheilvollen Worte hallten noch lange in den Datenverarbeitungssystemen von Jazz künstlichem Bewusstsein wieder. Es war der letzte Eindruck, den er von diesem Ort erhielt, als er auf der Flucht noch einmal kurz zurücksah: Die hell erleuchtete Fassade der ´Mutanten-zeigen-Alles-Bar` mit einem Höllenspektakel aus durchgedrehten Sandrockern davor, von denen der gewaltige Anführer, Guldorn Brute, am meisten herausstach, umspielt von einem eindrucksvollen, für Jazz leider nicht wahrnehmbaren Feuerwerk. Und etwas abseits stand Grazilla und blickte ihm mit schwer deutbaren Blicken nach. So raste Jazz mit seinem Gefangenen in die schwarze Nacht der Burnoutwüste hinein.

Für eine Greifzange voll Dollar
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