10.
Nach etlichen Treppen und Zwischendecks kamen Jazzman und Ribotex, in Begleitung von Mrs. Cablewash endlich im Ausrüstungsdepot an. Sie betraten zunächst einen Vorraum, in dem sie sich anmelden mussten und wurden dann bequem über Förderbänder in den eigentlichen Ausrüstungstrakt befördert. Kurze Zeit später fanden sie sich in einer riesigen, hellerleuchteten Halle wieder. Hier war die Atmosphäre weitaus angenehmer als bei den Soldatenquartieren, denn die Klimaanlage arbeitete auf dieser Ebene auf Hochtouren. Allerdings herrschte ein ziemlicher Lärm, da überall weißgekleidete Wissenschaftler und Techniker an dubiosen Gerätschaften herumexperimentierten. Bei diesen Geräten handelte es sich um seltsam anmutende Roboter-Prototypen, neuartige Waffensysteme und effizientere Waschmaschinen für die Berge von schmutziger Wäsche, die in der Eisbergstation täglich anfielen. Alle Mitarbeiter wirkten äußerst geschäftig und einem ungeschulten Beobachter konnte alles wie ein einziges Chaos vorkommen. So ging es auch Ribotex, der gerade den fehlgeschlagenen Test eines zehnarmigen Kampfroboters beobachtet hatte, bevor sein Blick durch die Explosion einer neu entwickelten Strahlenkanone geblendet wurde.
Jazzman zeigte sich von all dem Treiben um ihn herum eher unbeeindruckt. Er kannte das alles schon, sozusagen von Kindesbeinen an. Denn auch er war einst in dieser Halle erbaut und ertestet worden. Er hatte daran nicht gerade die angenehmsten Erinnerungen. Immerhin war es keine ganz unbeschwerte Kindheit gewesen, die er hier hatte durchleben müssen. Aber das war schon lange her. Es war kurz vor dem Verfall der Zivilisation gewesen, als es hier auch noch etwas geordneter zugegangen war. Bis heute war es niemandem mehr gelungen, einen derart hochentwickelten Androiden wie Jazzman zu erschaffen (auch wenn sich das Design zugegebenermaßen schon weiterentwickelt hatte).
Kaum hatten die drei die Ausrüstungshalle betreten, da kam auch schon der für sie zuständige technische Offizier auf sie zu. Aufgeregt winkte er ihnen entgegen und grinste ein zerstreutes Grinsen. Passend zu seinem weißen Anzug hatte er schlohweißes Haar, das er zu einem struppigen Zopf zusammengebunden hatte. Was an seinem Erscheinungsbild ansonsten noch auffiel, war eine seltsam gezackte Hornbrille, die er auf der Nasenspitze balancierte. Er wirkte wie ein Mann um die Sechzig, doch in einer Zeit wie dieser, mit all der verschiedenartigen Strahlung ringsum, musste man mit solchen Schätzungen vorsichtig sein.
„Guten Tag, meine Herren, ich habe Sie bereits erwartet. Mrs. Cablewash.“ Der Technische Offizier schüttelte allen dreien hastig die Hände. „Mein Name ist Mu einfach nur Mu. Mr Jazzman dürfte mich ja bereits kennen, aber Ihr Gesicht habe ich noch nie in unseren heiligen Hallen gesehen Mr. ...“
„Ribotex!“ antwortete Ribotex. „Es freut mich auch, Sie kennen zu lernen.“ Ihm kamen diese `heiligen Hallen` allerdings eher wie eine Art Vorhölle vor.
Ruckartig wandte sich Mu wieder Jazzman zu.
„Wollen wir am besten gleich zur Sache kommen, meine Herren. Ich habe Anweisungen von ganz oben bekommen, Sie mit unseren besten technischen Möglichkeiten auszustatten. Allerdings...“ Er machte eine kurze Pause und zog eine enttäuschte Grimasse. „Allerdings sieht es mit diesen technischen Möglichkeiten im Moment nicht gerade rosig aus. Sie wissen ja, wie das heutzutage ist. Wir verwenden hauptsächlich immer noch das, was aus den besseren Tagen übrig ist. Und, naja, das ist eben nicht mehr sooo viel.“ Er blickte nach unten und schien irgendetwas zu suchen, bis er plötzlich merkte, dass es sich direkt an seine Füße anschmiegte.
„Sehen Sie nur diese neuen Black Boxes. Sie haben in ihrer Entwicklung einen etwa zehnmal so hohen Etat verschlungen, wie wir ursprünglich angenommen hatten. Und sehen Sie... jetzt sind wir eben auf das angewiesen, was uns gerade in die Hände fällt.“
Ribotex fiel auf, dass Mu beim Reden wild gestikulierte. Überhaupt machte er auf ihn einen etwas hyperaktiven Eindruck. Ribotex nahm sich gerade vor, den Technischen Offizier darauf anzusprechen, als dieser von selbst eine Erklärung abgab:
„Eines der Dinge, die wir Ihnen mit auf den Weg geben können, ist ein gut wirkendes Gegengift. Es wirkt ganz ausgezeichnet gegen den gefährlichen Biss der Röntgenschlange. Man wird nach der Einnahme nur ein wenig wibbelig. Ich habe gerade erst einen Selbsttest an mir vorgenommen.“ Mu hüpfte beim Reden unruhig auf und ab.
„Moment mal“, meldete sich Jazzman zu Wort „ich denke, Röntgenschlangen gelten allgemein als ausgestorben!“
Mu wirkte für einen Moment etwas verunsichert, fasste sich aber wieder.
„Was glauben Sie, wie Sie über derartige Gerüchte denken, wenn Sie tatsächlich einmal in die peinliche Situation geraten, von einer Röntgenschlange gebissen worden zu sein?!“ Er fuchtelte mit den Armen herum. „Denken Sie nicht, dass Sie dann froh sind, unser Gegengift bei sich zu tragen?“
„Also, wenn man es so sieht...“ warf Ribotex diplomatisch ein.
„Haben Sie sonst noch etwas Nützliches für uns?“ erkundigte sich Jazzman.
„Aber selbstverständlich!“ Mu stürmte in die Halle und zog die beiden hinter sich her. Er führte sie zu einer Plattform, auf der etwas aufgestellt war, das noch von einem ölverschmiertem Laken verdeckt wurde.
Mit einem stolzen Gesichtsausdruck entfernte der weißhaarige Mu das Laken und zum Vorschein kam das Motorrad, das Jazz in der Bar erbeutet hatte.
Der Androide war darüber überaus erfreut. Er schwang sich auf die Plattform und betrachtete das Gefährt von allen Seiten. Doch schon auf den ersten Blick erschien es ihm seltsam verändert. Es war... sauber, aber das war nicht der einzige Unterschied. Man hatte einen unförmig wirkenden Beifahrerwagen an der rechten Seite befestigt. Jazzman fand, dass man es dadurch verschandelt hatte.
„Mein schönes Motorrad!“ seufzte er nur.
Ribotex dagegen schien diese neue Erweiterung zu begrüßen. Er kletterte ebenfalls auf die Plattform und ließ es sich nicht nehmen, schon einmal auf seinem künftigen Platz Probe zu sitzen.
„Musste das denn wirklich sein?“ wandte sich Jazzman an den zufrieden dreinschauenden Mu.
„Es tut mir leid, wenn Sie damit nicht zufrieden sind. Es war für Ihre Mission eine absolute Notwendigkeit. Aber lassen Sie den Kopf nicht gleich hängen: Warten Sie, bis ich Ihnen die Extras präsentiert habe, die wir eingebaut haben.“ Mu selbst tat vor Aufregung einen kleinen Luftsprung. Dann ließ er die Hebebühne herabsinken und trat an das Motorrad heran.
„Gleich hier vorn am Armaturenbrett, haben wir einen leistungsfähigen Radiowellenempfänger eingebaut. Wenn Sie ihn einschalten, werden Sie fast von überall den Stationssender empfangen können. Und das störungsfrei.“
Wäre Jazz ein Mensch gewesen, hätte er jetzt die Stirn in Falten gelegt.
„Ich verstehe nicht, wie das unserer Mission dienlich sein sollte.“ sagte er zu Mu.
„Wahrscheinlich überhaupt nicht!“ antwortete dieser fröhlich. „Aber es ist bestimmt sehr unterhaltsam, auf Ihrer langen Fahrt. Immer läuft die neuste Musik und jeden Mittwochabend wird eine von mir moderierte Wissenschaftssendung ausgestrahlt. Die müssen Sie einfach gehört haben! In der nächsten Folge erkläre ich sehr detailliert...“
„Schon gut!“ winkte der Androide ab. „Zeigen Sie uns jetzt lieber die wesentlichen Details! Wir haben wirklich nicht viel Zeit!“
Der zappelige Mu blickte Jazz beleidigt an und fuhr dann schließlich fort.
„Na gut, wenn Sie es so wollen, werde ich mich eben auf die wesentlichen Dinge beschränken!“ Mit wütenden Schritten trat er um das Motorrad herum und bückte sich dann zum Auspuff hin. „Kommen Sie bitte und schauen Sie sich dieses kleine Röhrchen hier hinten an!“
Träge kamen Jazzman und Ribotex der Aufforderung nach. Da war tatsächlich ein kleines rostiges Röhrchen am Auspuff angebracht. Es wirkte... kümmerlich.
„Was Sie da sehen, ist wirklich ein Klassiker unter den Geheimwaffen!“ Mu richtete sich mit verheißungsvollem Gestus auf. „Ein leichter Druck auf diesen Hebel hier am Lenkrad und...?“
Jazz und Ribotex wurde nach einiger Zeit bewusst, dass Mu ihnen wohl eine Frage gestellt hatte. Doch weder der Telepath noch sein Androiden-Partner wussten, worauf Mu hinaus wollte.
„Öl!“ beantwortete Mu seine eigene Frage sichtlich enttäuscht. „Aus dem Röhrchen tritt Öl aus!“
Der Androide und der Telepath blickten ihn noch immer ratlos an. In ihren Blicken schwang jedoch noch etwas anderes als Ratlosigkeit mit. Es war Langeweile.
Mu begann erneut, wild zu gestikulieren.
„Sie wissen schon! Sehr nützlich bei Verfolgungsjagden. Alle Fahrzeuge hinter Ihnen werden auf der Öllache wegrutschen!“
Zur Demonstration betätigte Mu den besagten Hebel, woraufhin tatsächlich ein Ölstrahl aus dem rostigen Röhrchen heraus quoll. Das Öl spritzte einige Meter weit und besudelte den zuvor weißen Kittel eines technischen Assistenten.
„Und Sie glauben, dass diese Technik auch bei Verfolgungsjagden durch die Wüste funktioniert?“ fragte Jazz ungläubig. „Denn wie Sie sicher wissen, gibt es in dieser Region eigentlich nur Wüste. Also, ich könnte mir vorstellen, dass das mit dem Wegrutschen auf Sand nicht so gut klappt!“
Mu wirkte verunsichert. Seine Lippen zitterten nervös und die Arme beschrieben wirre Kreise in der Luft.
„Ich muss gestehen“, räumte er zögernd ein, „dass wir diesen Sandfaktor bei der Entwicklung des Ölverteilers etwas außer Acht gelassen haben...“ Er tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Dann schnellte sein Finger triumphierend in die Höhe. „Aber sehen Sie nur, wir haben ihnen noch ein kleines Extra eingebaut, das Sie vielleicht mehr ansprechen wird: Wir nennen es den `Boost`“
Mu lenkte die Augen von Jazz und Ribotex nun auf die andere Seite des Lenkrades. Auch hier war ein Hebel angebracht worden.
„Wenn Sie diesen Hebel betätigen, sind Sie in der Lage, für kurze Zeit eine enorme Geschwindigkeit zu erreichen. Ich meine damit eine Geschwindigkeit von ca. 200 Meilen pro Stunde! Das Ergebnis unserer neusten Raketentechnologie.“
„Das ist ja wirklich ordentlich!“ staunte Ribotex. Für ihn sah dieses Motorrad eigentlich nicht so aus, als sei es für eine solche Leistung geschaffen.
„Allerdings...“ fuhr Mu fort, „ist dieses Motorrad für eine solche Leistung nicht geschaffen. Besonders bei unwegsamen Gelände könnte es da zu Komplikationen kommen.“
Mu scharrte wie ein Huhn mit den Füßen auf dem Boden. Gelegentlich machte er dabei den ein oder anderen zackigen Ausfallschritt. Es fiel Jazzman schwer einzuschätzen, was Mu gerade dachte. Also fragte er:
„Was für Komplikationen meinen Sie genau? Eher große, oder eher kleine Komplikationen?“
Mu versuchte ernst dreinzublicken. Doch seine Gesichtsmuskeln schienen jetzt ebenfalls Lust auf einen Veitstanz bekommen zu haben.
„Sagen wir mal so...“ Mu überlegte seine Worte genau. „Sie benutzen den Boost einmal und das Motorrad ist Schrott. Ein guter Grund, warum Sie den Boost am besten nur im Notfall benutzen!“