10.
Der Mann von der Stadtwache staunte nicht schlecht, als er das komische Paar musterte, das in Sancta Wasta Einlass erbat. Es handelte sich um zwei Männer, soweit sich das feststellen ließ. Der eine war, trotz der hohen Temperaturen ganz in einen schwarzen Umhang gehüllt, unter dem er irgendwelche großen Gegenstände zu verbergen schien. Der andere war klein, nackt und hatte beide Arme sowie das rechte Bein mit Holzbrettern geschient.
Misstrauisch kniff der Mann von der Stadtwache die Augenbrauen zusammen.
„So“, sagte er, „Sie wollen also hier in Sancta Wasta einkehren, um wichtige Geschäfte zu erledigen. Dürfte ich vielleicht wissen, um welche Art von Geschäft es sich dabei handelt?“
„Wir wollen gewisse Dinge einkaufen...“, antwortete der Große.
Der Stadtwächter beugte den behelmten Kopf leicht nach vorn.
„Was für Dinge wollen Sie einkaufen, wenn ich fragen darf?“
„Geigerzähler“, meldete sich der kleine Glatzkopf zu Wort. „Geigerzähler, wir haben gehört, dass man die hier günstig bekommen kann. Wir wollen damit Handel treiben.“
„So, so, Handel treiben“, wiederholte der Wächter langsam. „Ich muss Sie leider fragen, ob Sie irgendwelche Waffen bei sich tragen...“ Bei den letzten Worten beobachtete er vor allem den großen Umhangträger.
Doch dieser blieb scheinbar ungerührt.
„Das einzige, was wir mit uns tragen, ist das hier...“ Unauffällig hielt er dem Wachposten ein Bündel Dollarnoten hin, das dieser schnell in den Taschen verschwinden ließ.
„Na, wenn das so ist: Herzlich willkommen in Sancta Wasta, der Oase des Südens!“
Schnell passierten die beiden ungleichen Gestalten das Stadttor.
„So ein Mist“, ärgerte sich Jazzmann der künstliche Kopfgeldjäger. „500 Dollar weniger, und das nur, weil im entscheidenden Moment deine Illusionskräfte versagen.“
Ribotex humpelte auf seinem lädierten Bein hinter ihm her.
„Es ist das Gift aus dem Blasrohr“, sagte er. „Ich kann schon wieder kleine Illusionen erzeugen, aber die halten nicht allzu lange.“
„Na dann läuft ja alles bestens: Kein Geld mehr, das Motorrad ist Schrott und mein Partner ist nichts mehr als ein lästiger Klotz an meinem Bein.“
„Immerhin hast du es geschafft, dein Unterprogramm für Ironie zu verbessern“, entgegnete der geschundene Telepath. „Wenn das so weitergeht, entwickelst du dich noch zu einem richtigen Zyniker. Aber was unsere Situation angeht, kann ich nur sagen: Ein Glück, dass wir noch leben. Nach diesem Höllenritt grenzt das fast an ein Wunder. Ich finde, ein bisschen weniger Schubkraft und dieser Booster wäre eine ganz akzeptable Sache. Aber so hat es das Motorrad geradezu in der Luft zerrissen. Ich glaube, es ist in dem Moment passiert, in dem wir die Schallmauer durchstießen.“
„Wenigstens ist es mir gelungen, uns in die richtige Richtung zu manövrieren“, bemerkte Jazzman nicht ohne Stolz. „Wir sind unversehrt an unserem Zielort angekommen.“
„Unversehrt? Du hast gut reden.“ Vorsichtig bewegte Ribotex den linken Arm. Es schmerzte.
Die beiden Agenten drängten sich durch die geschäftigen Straßen von Sancta Wasta, der größten Stadt des südlichen Sektors. Und es war auch die Stadt mit den größten Gebäuden, die ihrerseits den größten Verfall aufwiesen. Überall bröckelte der schlecht verarbeitete Putz von den Hauswänden. Offenbar konnten viele der Stadtbewohner schon froh sein, wenn ihre Wohnungen überhaupt Hauswände besaßen, denn oft konnte man die spärlich eingerichteten Wohnzimmer direkt von der Straße aus einsehen. Und was diese Straßen betraf: Sie legten die Vermutung nahe, dass sich die Straßenreinigung schon seit mehreren Jahren im Streik befand. Knöchelhoch stapelte sich der Dreck auf dem Fußweg. Darüber, welche Arten von Ungeziefer in den allgegenwärtigen Müllhaufen wohl ihre Nester aufgeschlagen hatten, dachte man am besten gar nicht nach. Und die zahlreichen Bewohner der Stadt schien das auch gar nicht zu kümmern. Jeder war viel zu sehr mit Überleben beschäftigt, ein Zeitvertreib, der in Sancta Wasta die volle Aufmerksamkeit erforderte. Denn die Stadt unterstand nicht dem Militär und so gab es hier auch nirgends Sicherheitstrupps. Außer einer schlecht organisierten Freelancepolizei, sorgte niemand für Recht und Ordnung. Und diese selbsternannten Ordnungshüter versuchten nicht einmal, den Schein von Unbestechlichkeit zu wahren. Überall in der Stadt warben sie mit großen Plakaten, deren Texte zum Beispiel lauteten: „DIEBSTAHL ODER MORD? MACH GELD LOCKER UND NIEMAND IST VOR ORT! EURE WACKEREN JUNGS VON DER FREELANCE POLIZEI!“
Jazzmann und Ribotex sahen eine Vielzahl verschiedener Gesichter, die wiederum eine Vielzahl verschiedener Mutationen aufwiesen. Vom muskelüberwuchertem Gigant bis zum degenerierten Zwerg gab es alle nur erdenklichen Zwischenstufen zu bewundern.
Die beiden Agenten schenkten dem bunten Treiben wenig Beachtung, immerhin waren sie nicht als Touristen unterwegs, sondern hatten einen wichtigen Auftrag zu erledigen.
„Also gut, da sind wir“, rief Jazzmann um den ohrenbetäubenden Straßenlärm zu übertönen, wobei er natürlich darauf achtete, dass seine Worte nur von Ribotex gehört wurden. „Hier in Sancta Wasta soll Result also seinen Hauptstützpunkt haben. Angeblich handelt es sich um einen prunkvollen Palast, das heißt, wir sind mit Sicherheit am falschen Ende der Stadt.“ Er deutete auf die Umgebung, in der ein Palast wirklich einen außerordentlichen Stilbruch bedeutet hätte.
„Ich habe schon einige Jahre hier gelebt“, bemerkte Ribotex stirnrunzelnd. „Ein Palast ist mir aber nirgends zu Gesicht gekommen. Ich meine, er wäre mir sicherlich aufgefallen...“
Sehnsüchtig blickte Ribotex zu einem Straßenverkaufsstand, an dem ein buckliger Verkäufer Kleidung zu Wucherpreisen verscherbelte. In seinem hauchdünnen Stringtanga fühlte der Telepath sich unter all den Leuten doch etwas unwohl. Er hatte das ungute Gefühl, von jedem angestarrt zu werden. Gerne wäre er in eine luftige Hose geschlüpft. Doch ihre Reisekasse ließ solche Ausgaben leider nicht zu.
Jazz versuchte einer sechsköpfigen Reisegruppe, bestehend aus vier Personen auszuweichen.
„Ok, wo sollen wir mit der Suche beginnen?“ überlegte er laut.
„Erinnere dich, was Bodin uns erzählt hat“, sagte Ribotex. „Der Stadtrat soll angeblich aus lauter Sympathisanten bestehen. Vielleicht ist das eine gute Fährte.“
„In dem Fall sehen wir uns am besten mal nach dem Rathaus um, wenn es in diesem Hexenkessel so etwas überhaupt gibt.“ Vergeblich hielt der Androide nach einem Stadtplan Ausschau.
Nach vier Stunden zermürbender Wanderschaft durch die stinkenden Straßen inmitten stinkender Müllhaufen und stinkender Passanten, waren Jazzman und Ribotex in ihrer Mission noch immer keinen Schritt weiter gekommen.
„Die ganze Sache beginnt mir gewaltig zu stinken“, ärgerte sich der erschöpfte Ribotex. Er war müde und hungrig. Eigentlich mehr hungrig als müde, aber nur unwesentlich. Außerdem war er durstig und zwar noch viel mehr als er müde und hungrig war.
Wenigstens hatten sich seine Psi-Kräfte etwas regeneriert: Über dem Tanga brachte er immerhin eine illusionäre Shorts zustande. Besser als nichts.
„Mein Herr, Sie sehen durstig aus“, sprach Ribotex ein fetter pockennarbiger Händler an. Um die Hüften hatte er mehrere Wasserschläuche geschlungen. Zwar konnte der Händler leicht erkennen, dass Ribotex kein Geld bei sich trug, aber sein Begleiter mit dem schwarzen Umhang wirkte dafür umso wohlhabender.
„Oh ja, Wasser“, lechzte Ribotex. Schon beim Gedanken an Wasser lief ihm eben dieses im Mund zusammen. „Jazz, ich bin ein Mensch. Ich muss trinken. Mir ist egal, ob du das für eine sinnvolle Investition hältst, oder nicht.“
Jazz gab sich skeptisch.
„Einen Moment“, sagte er und fing an, in der Aktentasche zu kramen. Dann fischte er einen etwa armlangen Gegenstand daraus hervor.
„Was bitte ist das“, fragte Ribotex staunend.
Jazz schaltete das Gerät ein und hielt es an die Wasserschläuche.
„Oh, das ist nur mein Geigerzähler“, antwortete er betont gelassen.
„Oh nein“, rief der dicke Händler voll Unbehagen. Wenn er eines nicht ausstehen konnte, dann waren das überkritische Kunden. Er hatte allen Grund dazu.
Der Geigerzähler begann, schneller und schneller zu klappern.
„Ich glaube, du solltest besser nichts von dieser verseuchten Brühe trinken“, riet Jazz seinem durstigen Partner.
„Einen Moment mal“, reagierte Ribotex zornig. Er zog den schwitzenden Händler an dessen Kragen zu sich heran. „Soll das heißen, du wolltest mir radioaktiv verseuchtes Wasser verkaufen?“
„Halb so wild“, versuchte der Händler zu beschwichtigen. „Das ganze Gerede über die Folgen von Radioaktivität, das wird doch völlig übertrieben...“
„So, übertrieben, sagt du“, fauchte Ribotex. „Wie wäre es dann, wenn du selbst mal von deinem Wasser probierst?“
„Ich habe gerade keinen Durst“, entgegnete der Händler.
„Aber du wolltest, dass ich davon trinke...“
„He, was ist denn da drüben los?“ unterbrach Jazzman die beiden Streitenden. Er deutete auf eine Menschenmasse, die sich geschlossen die Straße hochdrängte. „Gibt es da vielleicht irgendwas umsonst?“
„Sagen Sie bloß, Sie haben noch nichts davon gehört“, ereiferte sich der pockennarbige Händler, der froh war, vom Thema ablenken zu können. „In Sancta Wasta wird schon seit Tagen von nichts anderem mehr gesprochen.“
„Ich verstehe nicht“, wunderte sich Ribotex. „Wovon wird denn da gesprochen?“
„Die große Präsentation“, antwortete der Händler. „Heute wird der Stadt zum ersten Mal Magdalena, Die Rose der Wüste, vorgestellt. Die Sache steigt um fünf Uhr auf dem Karabinerplatz und jetzt ist es viertel vor fünf.“
Und tatsächlich: Die Menschenmasse, die sich ihren Weg zum Karabinerplatz bahnte, wurde zusehends größer. Bald waren alle umliegenden Straßen rettungslos überfüllt. Jazzman, Ribotex und der Wasserhändler wurden von der Menge einfach mitgerissen.
„Die Rose der Wüste?“ fragte Jazzman, der schon viel herumgekommen war. „Ich habe noch nie von ihr gehört.“
„Sie muss eine göttliche Schönheit sein“, schwärmte der Händler, aus dessen Wasserschläuchen durch den Druck sämtliches Wasser gepresst wurde. „Noch niemand außer dem Bürgermeister soll sie bisher zu Gesicht bekommen haben, aber alle erwarten einen wahrhaftigen Engel. Sie wird die Schutzpatronin unserer bescheidenen Stadt werden.“
Mit beachtlicher Geschwindigkeit wurden die beiden Agenten zum Karabinerplatz hin getrieben. Ribotex war darüber alles andere als unglücklich. Er betrachtete gerne schöne Frauen. Und er war neugierig, von einer Rose der Wüste hatte auch er bislang noch nichts gehört.
Auf einmal ging ein wahrer Freudenschrei durch die Menge. Alles deutete aufgeregt nach oben in die Luft.
Als Jazzman und Ribotex ihre höchst unterschiedlichen Häupter gen Himmel reckten, erkannten sie, dass von mehreren Strahlern ein gewaltiges, dreidimensionales Holoplakat über die verrotteten Dächer der Stadt projiziert wurde. Es war so gigantisch groß und hell erleuchtet, dass es von jedem Winkel der Stadt aus gut zu erkennen sein musste.
In riesigen Lettern waren in fünf verschiedenen Sprachen folgende Worte zu lesen:
„IHR GUTEN BÜRGER VON SANCTA WASTA! SEHT SIE EUCH AN! DAS IST EURE SCHUTZPATRONIN: MAGDALENA, DIE ROSE DER WÜSTE“ Und darunter etwas kleiner: „KAUFT EUCH T-SHIRTS MIT ORIGINAL FANAUFDRUCK DER RASSIGEN ROSE! JETZT BEI PERCY POTTKOFF MODEBOUTIQUE, GLEICH UM DIE ECKE!“
„Meine Güte, Percy Pottkoff, das ist doch mein Schwager“, rief der Wasserhändler aufgebracht. „Wie ist er nur an dieses Wahnsinnsgeschäft herangekommen?“
Doch niemand achtete auf ihn. Alle Augen waren nur auf das lächelnde Hologesicht gerichtet, das den ganzen Himmel ausfüllte. Es war ein Schnappschuss der Rose selbst. Ein kollektiver Seufzer ging durch die Massen.
„Jazzman?“ fragte Ribotex vorsichtig. „Dabei kann es sich doch nur um eine zufällige Ähnlichkeit handeln oder?“
Der Kopfgeldjägerandroide schüttelte langsam den Kopf.
„Diese Visage würde ich unter Millionen erkennen!“