3.

 

An einem völlig anderen Ort.

„Er hat das Essen bestellt, also lasst mich schon rein Jungs!“

Die beiden Wachen, die sich wegen ihres schmalbrüstigen Erscheinungsbildes, einzig und allein dadurch als Wachen zu erkennen gaben, dass sie demonstrativ die prunkvolle Tür versperrten, sahen sich gegenseitig verwundert an.

„Wie bitte hat er das Essen denn bestellt?“ fragte einer der Wachen den mittelgroßen Teenager mit dem wirren Haarschnitt und dem großen Essenstablett. „Ich habe nicht mitbekommen, dass hier irgendeine Bestellung rausgegangen ist.“ Die Speisen sahen übrigens überaus schmackhaft aus, wenn man bedachte, wovon sich der durchschnittliche Bewohner dieser Stadt ernährte.

„Na wie wohl? Er hat das Essen natürlich per Gedankenbefehl direkt aus der Küche geordert“, antwortete der Junge ungeduldig. Er war eher schlicht gekleidet und passte daher optisch überhaupt nicht in dieses vornehme Etablissement. Dies hatte selbstverständlich einen Grund, der von den Wachen auch sofort durchschaut wurde, ohne dass es besonders bemerkenswert für sie gewesen wäre: Der Essensbote verfügte augenscheinlich über keinerlei illusionäre Begabungen. Doch dies war nicht so ungewöhnlich, denn sicherlich hatte auch er Spezialgebiete, auf denen er beeindrucken konnte. Denn ansonsten wäre er natürlich kein Mitglied dieser großartigen Vereinigung und dürfte sich dementsprechend auch gar nicht an diesem Ort aufhalten. Oder mehr noch: Er dürfte gar nicht erst von ihm wissen.

„He, du hast wohl vergessen, dass wir hier eine Kleidungsvorschrift haben“, bemerkte der eine Wächter. Er selbst trug einen perfekt sitzenden Nadelstreifenanzug - oder besser, er schien einen perfekt sitzenden Nadelstreifenanzug zu tragen. Denn der Essensbote war nicht so naiv zu glauben, dass es in dieser Gegend noch einen Schneider gab, der einen solchen Anzug anfertigen konnte. „Wenn ich mal kurz Abhilfe schaffen darf...“, sagte der andere, scheinbar nicht weniger vornehm gekleidete Wachposten. Er blinzelte kurz mit den Augen und schon war auch der Küchenjunge ein potentieller Kandidat für jeden Abschlussball. Er sah an sich herunter und konnte nicht umhin, Gefallen an diesem neuen Outfit zu finden.

„Würdet ihr mich jetzt endlich zu ihm durchlassen, das Essen wird sonst noch kalt!“ Unruhig trat er von einem Fuß auf den anderen.

Die Augen der Wachen klebten jetzt wieder auf dem, was sich auf dem langsam schwer werdenden Tablett befand.

„Ach ja, das Essen...“, seufzte der eine und strich mit der Zunge über die Lippen.

„Warte mal, sind wir als Leibwächter nicht verpflichtet, die Speisen vorzukosten?“ fiel seinem Kollegen plötzlich ein. „Ich meine, in unserem Arbeitsvertrag ist von so etwas die Rede gewesen.“

Schon nahm er das dem Essen beiliegende Besteck zur Hand und genehmigte sich pflichtbewusst einige Bissen von dem köstlichen Kaviar. „Hmmmm! Es ist lange her, dass ich zuletzt so guten Kaviar probiert habe“, lobte er anerkennend.

„Na gut, alles klar“, unterbrach der Küchenjunge den Genuss des selbsternannten Vorkosters. „Vielleicht sollten wir ja auch noch was für den großen Boss aufheben. Er klang… äh...bei der Gedankenübertragung sehr hungrig.“

„Eigentlich ist es seltsam...“, überlegte der andere Wächter laut. „Ich dachte, der Große Denker befände sich in tiefer Meditation, um Kraft zu sammeln, für den lange erwartetenDreizehnten Ruf. Wie kann er dann, mal eben so, was zu essen bestellen?“

„Äh... heißt es nicht immer, der Hunger kann Berge versetzen, oder so?!“ stammelte der junge Mann nervös und wenig überzeugend.

„Bei einer so intensiven Meditation, macht man sich doch als erstes von solch körperlichen Bedürfnissen, wie Hunger und Durst frei“, wunderte sich der eine Wächter mit noch vollem Mund. 

„Er...äh… wollte vielleicht vorher noch mal so richtig zuschlagen...“, warf der Essensbote ein.

„Moment, wie kommt es, dass ich dein Gesicht hier noch nie irgendwo zuvor gesehen habe?“ Der Leibgardist des Großen Denkers musterte die picklige Visage des Jungen misstrauisch. „Zeig mir doch mal deinen Mitgliedsausweis!“

„Eine Sekunde... Oh, ich muss ihn wohl Zuhause liegengelassen haben, ich...“

„Eeargh, mir ist auf einmal so komisch zumute...“ Der noch immer kauende Wächter wurde plötzlich kalkweiß und begann zu schwanken.

„Hey, was geht denn hier vor?“ rief sein Kollege alarmiert. „Ich glaube, du kommst jetzt lieber erst mal mit, mein Freundchen!“

Er packte den Jungen am Arm. Doch dieser presste ihm mit einem schnellen Ruck das Tablett ins Gesicht, sprang zurück und zog etwas Metallenes aus der Hosentasche. Es handelte sich um ein kompliziert wirkendes elektronisches Gerät, das den Eindruck vermittelte, in großer Eile zusammengebaut worden zu sein. Die Maße betrugen etwa zehn mal zehn Zentimeter und überall blinkten Leuchtdioden.

Das Tablett fiel zu Boden und entblößte das verdutzte Gesicht des Leibgardisten, das über und über mit Kaviar verschmiert war. Der Wächter, der den wohlklingenden Namen Quirnseus trug, hustete, rieb sich mit einer raschen Handbewegung den Kaviar von den Augen und begann, laut zu rufen:

„Alarm! Alarm! Ein Attentäter in den geheimen Gemächern des Großen Denkers!“

Er trat einen Schritt auf den Eindringling zu, blieb dann jedoch unsicher stehen, als er die komische Apparatur in dessen Händen sah.   

Quirnseus hatte zwar wenig Erfahrung in professioneller Terroristenbekämpfung, doch es gab einen Merksatz, den wirklich jeder Wächter intensiv verinnerlicht hatte: Attentäter mit provisorisch zusammengebastelten Apparaten sind oft gefährlicher, als solche mit modernen Kampfwaffen. In den meisten Fällen handelt es sich dabei nämlich um Bomben.

Nervös fingerte der junge Eindringling an dieser vermeintlichen Bombe herum. Dann schien er den richtigen Knopf gefunden zu haben. Der Apparat gab ein verdächtiges Summen von sich. Aber immerhin kein Ticken, dachte Quirnseus erleichtert. Neben ihm brach sein Kollege gerade würgend zusammen. Der Wächter fasste sich ein Herz.

„Leg das Ding sofort auf den Boden!“ forderte er den Jungen auf, der sich aber nun auf sein Bastelerzeugnis konzentrierte, ohne es noch weiter mit den Händen zu bedienen. 

„Zu spät, Großmaul!“ flüsterte der junge Attentäter mit vor Konzentration zusammengepressten Zähnen. Dann presste er auch die Augen zusammen.

Unmittelbar darauf fuhr der Apparat drei antennenartige Beine aus und trat damit auch gleich einen Schritt auf die beiden Wächter zu. Diese wichen erschrocken zurück - oder besser, sie versuchten erschrocken zurückzuweichen, da Quirnseus sofort mit dem Rücken gegen die Türe stieß und sich sein Partner vor Krämpfen ohnehin kaum bewegen konnte. Aus diesem Grund erwischte der dreibeinige Kasten, auch zuerst den am Boden liegenden Gardisten. Mit einem lauten `Plöpp`, das genau so klang, als würde jemand den Korken aus einer unter Hochdruck stehenden Champagnerflasche ziehen, sauste ein pfeilartiges Geschoß aus einem kleinen Rohr, das an der seltsamen Apparatur angebracht war. Anstelle einer Spitze verfügte dieses Geschoß über einen kleinen Saugknopf, welcher sich nach dem Auftreffen sofort an der glatten Stirn des würgenden Wächters fest sog. Dabei stellte Quirnseus verwundert fest, dass der Pfeil mit der Maschine noch immer durch einen dünnen Draht verbunden war. Was hatte das bloß zu bedeuten?

„Formatierungssequenz starten!“ antwortete eine mechanische Roboterstimme, aus dem diabolischen Kasten, auf die unausgesprochene Frage des fassungslosen Leibgardisten.

Ohne weitere Verzögerung ließ die Maschine eine elektronische Gehirnwäsche anlaufen, wobei der beklagenswerte Gardist, wie unter starken Stromstößen hin und her zuckte.

Oh! Da hört sich aber der Spaß auf, dachte Quirnseus empört, als er den ersten Schreck überwand und sein berufliches Verantwortungsgefühl zurückkehrte.

Er beschloss, den Apparat, der noch immer mit seinem Partner beschäftigt war, zu ignorieren und sich stattdessen zuerst um dessen pickligen Besitzer zu kümmern. Mit etwas Glück würde er sich an diesem Burschen noch nicht einmal die Finger schmutzig machen. Denn immerhin gehörte Quirnseus nicht ohne Grund zu den dreißig anerkanntesten Psi-Meistern der übrig gebliebenen Welt.

Mit voller Kraft führte er eine kurze Gedankenattacke aus, drang unbemerkt in den konzentrierten Geist des jungen Attentäters und packte dann unbarmherzig zu. Dies wirkte sich - verhältnismäßig unspektakulär - so aus, dass der junge Bursche lautlos und ohnmächtig zusammensackte.

Im gleichen Augenblick stellte auch seine kleine Erfindung ihre teuflische Tätigkeit ein. Der inzwischen rauchende Saugknopf löste sich pfeifend vom Kopf des drangsalierten Wächters, wobei ein kreisrunder Abdruck auf der Stirn zurückblieb. Dann zog die Maschine blitzschnell ihre Antennenbeine ein und zwar so blitzschnell, dass sich unweigerlich der Eindruck einstellte, der Apparat würde für einen Moment reglos in der Luft schweben. Schließlich schlug er laut krachend am Boden auf und verteilte dort sein elektronisches Innenleben.                 

„He, da drüben ist es!“ schallte die Stimme des Sicherheitschefs reichlich verspätet über den Flur. Kurz darauf kam dann auch gleich das gesamte Sicherheitsteam herbeigeeilt. Es bestand aus dem hektischen Sicherheitschef, Samuel Sam, und seinen drei mehr oder weniger gut ausgebildeten Leuten. Sie alle trugen vornehme, illusionäre Anzüge und sahen dadurch wie gemeine Mafiosi aus. 

Verärgert blickte Quirnseus ihnen entgegen.

„Ihr Jungs habt genau das richtige Timing“, brummte er das vom schnellen Lauf atemlose Team an. „Gerade habe ich den Terroristen selbst überwältigt. Er hatte ein Attentat auf den Großen Denker im Sinn, aber jetzt besteht keine Gefahr mehr. Nur Karlestron hier hat es etwas unglücklich erwischt.“ Er deutete auf seinen am Boden liegenden Partner, der damit begonnen hatte, wie ein Baby rumzubrabbeln.

„Es ist nicht meine Schuld“, versuchte sich Samuel Sam keuchend zu rechtfertigen. „Meine Männer und ich können unsere Augen schließlich nicht überall haben. Wir sind so schnell gekommen, wie wir konnten.“

Der Sicherheitschef schwitzte. So ein kurzer Sprint wie gerade eben gehörte nicht gerade zu seinen alltäglichen Bewegungsübungen: Meist saß er nur am Schreibtisch und füllte Dienstformulare aus. Momentan versuchte er vergeblich, den engen Kragen seines illusionären Anzuges zu lockern.

„Schon gut, schon gut, ich will ja niemandem Vorwürfe machen“, lenkte Quirnseus ein. Was hatte es für einen Sinn, sich über einen solch unfähigen Haufen aufzuregen? „Aber seid jetzt bitte so gut und sperrt den Knirps hier in eine sichere Zelle, bevor er wieder aufwacht. Ausquetschen kann ihn ja dann später der Zweite Denker.“

Die Männer des Sicherheitsteams zuckten unmerklich zusammen, als sie diese letzte Äußerung hörten. Slize, der so genannte Zweite Denker, war ein überaus unangenehmer Zeitgenosse, mit dem es keiner gerne zu tun bekam.

„Nett wäre es auch“, fuhr Quirnseus im Plauderton fort, „wenn einer von euch einen Arzt für Karlestron rufen könnte. Ich glaube diese Kiste da“, er zeigte auf die verstreuten Überreste der Maschine, „hat ihm wirklich übel mitgespielt.“

Das Sicherheitsteam versuchte den Anweisungen seines Vorgesetzten (Quirnseus galt in seiner Funktion als Leibwächter des Großen Denkers als besonders hochgestellt) so schnell wie möglich Folge zu leisten. Sie legten dem bewusstlosen Attentäter Elektrohandschellen und Psi-Blocker an und schleppten ihn ins Kellergewölbe, wo sich der enorm sichere Sicherheitstrakt befand.

Einige Zeit später kam ein hauseigenes Sanitätsteam vorbei, um den gehirnformatierten Karlestron auf einer Bahre in die Krankenstation zu befördern.

„Machs gut alter Kumpel, hoffentlich kriegen sie dich wieder hin!“ rief Quirnseus seinem Partner nach, woraufhin dieser nur zustimmend gluckste.     

Dann wurde endlich wieder alles ruhig. Quirnseus atmete erleichtert auf. Wenn es diesem Kerl tatsächlich gelungen wäre, den Großen Denker auszuschalten..., überlegte er bei sich. Einige Zeit lang stand er noch wachend und nachsinnend da, bis ihm schließlich einfiel, dass es sicherlich sinnvoll sei, die Überreste des komischen Kastens einzusammeln. Er ging auf die Knie und machte sich ans Werk.

Mit dem Ding wollte er verhindern, dass derDreizehnte Rufzustande kommt, beinahe...

„Ähh... Entschuldigung, Mister Wächter...“

Durch diese zaghaft ausgesprochenen Worte, wurde Quirnseus aus den ernsten Gedanken gerissen. Erschrocken wirbelte er herum und blickte in das verkrampfte Gesicht eines Lehrlingssklaven, der mit zusammengepressten Beinen vor ihm stand. Eigentlich handelte es sich bei den Lehrlingssklaven der großen Vereinigung um ganz normale Lehrlinge, aber sie wurden von allen behandelt wie Sklaven und aus diesem Grund von den meisten auch als solche bezeichnet.

„Was willst du, Skla... äh Lehrling?“ fragte Quirnseus streng.

„Oh, ich dachte nur, jetzt wo hier die ganze Aufregung endlich vorbei ist... also es ist ja so gut wie niemand hier, ich meine... wäre da jetzt nicht die beste Gelegenheit für mich, mal kurz für kleine Telepathen auszutreten... Sir?“ fragte der Lehrlingssklave mit einem Redeschwall, der darauf hindeutete, dass er sich zuvor unzählige Male überlegt hatte, was er eigentlich sagen wollte, nur um dann über die eigenen Gedanken zu stolpern.

Quirnseus musterte den Jungen mit einem durchdringenden Blick.

„Na schön. Ausnahmsweise“, antwortete er dann in einem beherrschten Tonfall. „Aber in spätestens fünf Minuten musst du wieder deinen Platz eingenommen haben. Was sollen sonst die Leute denken, die hier vorbeikommen.“

Der Lehrling bedankte sich hastig und eilte dann schnellen Schrittes davon.

An der Stelle, wo er zuvor noch gestanden hatte, veränderte sich das Aussehen der goldverzierten, prunkvollen Wand mit einem Male, so dass eine sehr unschöne Lücke entstand, die aussah, wie die Wand einer schlecht geputzten Fabrikhalle. Mutierte Ratten hatten sich darin ihre Nester gebaut und überall klebten schmierige Spinnweben. Es wirkte fast wie ein hässlicher Riss in der Realität, aber in Wahrheit war es natürlich ein hässlicher Riss Realität in der Illusion. 

„Beeile dich gefälligst!“ rief Quirnseus dem laufenden Lehrlingssklaven hinterher. „Wer das sieht, muss ja denken, wir hausen hier in einem Dreckloch!“

 

Für eine Greifzange voll Dollar
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