43. Tauwetter

 

Drei Tage später hörte der Sturm auf. Leandra und ich saßen an unserem Tisch, Janos und Sieglinde ebenfalls. Neben mir hatte es sich Zokora gemütlich gemacht, während Varosch vor ihr auf dem Boden kniete und ihre neuen Stiefel polierte. Alle drei Frauen hatten extrem kurzes Haar, Leandra und Zokora kaum mehr als einen Millimeter, Sieglinde vielleicht ein paar Millimeter mehr. Sie hatte ihr Haar selbst abgeschnitten.

Es war ruhig und friedlich im Gastraum, der Sturm draußen störte uns nicht, es war warm und gemütlich hier, und wir hatten nichts Besseres mehr zu tun. Außer Varosch hatten noch zwei andere das Abenteuer überlebt. Sie saßen an einem anderen Tisch und überlegten, was sie mit dem Gold machen sollten.

Holgar, der Händler, saß in seiner Ecke und warf uns ab und zu ungläubige Blicke zu. Es war Lisbeth, die heute bediente. Wenn der Händler etwas wollte, ignorierte sie ihn grundsätzlich erst einmal. Holgar hatte sich nur einmal beschwert. Varosch war dann aufgestanden und hatte ihm eine Ohrfeige gegeben. Kommentarlos, wenn man den Blick nicht zählte.

In der anderen Ecke, warm gekleidet und gewaschen, saß die letzte Überlebende von Balthasars Truppe. Zokora kümmerte sich liebevoll um sie, fütterte sie und bettete sie zur Ruhe. Niemand von uns wollte sich dem verzweifelten Blick aus diesen Augen stellen. Einmal nur sprach ich Zokora an, ob es nicht möglich wäre, ihrer Gefangenen einen schnellen Tod zu schenken.

»Was würdest du sagen, wenn ich in die Gerichtsbarkeit eurer Reiche eingriffe?«, fragte sie mich. Danach sagte niemand mehr etwas. Aber ich vermied es, zu dieser stillen, gelähmten Gestalt hinüberzusehen.

Ja, wir hatten das Gold gefunden. Es lag im Eissee unter dem Eimerbrunnen. Ich sah es beim Rückweg unter mir schimmern. Dort lag es jetzt auch noch, das Wasser war noch zu kalt zum Tauchen. Wir hatten es nicht eilig, der Sommer würde kommen. Der unglückliche Martin hatte mir durch seinen Tod bereits vorher verraten, wo der Sold zu finden war. Eberhard, der Wirt, setzte sich zu uns an den Tisch. Zwischenzeitlich hatte er den Gasthof auf den Kopf gestellt, aber nichts anderes gefunden als den zugemauerten Durchgang im Keller. Diesen hatte er mittlerweile freigelegt und festgestellt, dass sich unterhalb des Hofes ein großer Lagerraum befand, voll mit allen möglichen Materialien, von Waffen bis zur Zimmermannssäge. Genug Material, um ein Dorf zu errichten.

Ich knabberte gerade an Leandras Ohr, als es an der Tür klopfte. Die letzten Tage hatten wir uns entspannt, genossen das Leben ohne jegliche Gefahr, dennoch zuckten wir zusammen und mehrere Klingen sprangen aus ihren Scheiden, als dieses Klopfen ertönte.

Sicher, der Sturm war am Abklingen, aber ausgerechnet jetzt ein neuer Gast?

Vorsichtig ging Eberhard zur Tür, gefolgt von mir und Janos. Er öffnete sie.

Im Türrahmen stand ein schlanker, hoch gewachsener Mann. Er war vielleicht drei Dutzend und neun Jahre, hatte eisgraues kurzes Haar und ein Gesicht mit einem energischen Kinn und einer Nase, die einem Adler Ehre gemacht hätte. Seine Augen waren von blassem Grün, und er hatte Lachfalten in den Augenwinkeln. Er kam mir irgendwie bekannt vor, aber woher, vermochte ich beim besten Willen nicht zu sagen.

»Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte er. Er sprach sauber und sorgfältig wie ein Gelehrter, aber ich hatte den Akzent noch nie zuvor gehört.

Gekleidet war er in eine lange dunkelblaue Robe, ähnlich der, die Leandra einmal besessen hatte, bevor sie verglüht war. Unter dieser Robe sah ich einen hellen Wintermantel und ein weißes Leinenhemd. Ein Dolch am Gürtel war seine einzige Waffe. Ein Ring glitzerte an seiner Hand, er trug das Motiv eines Drachen, umsäumt von kleinen Edelsteinen.

»Aber nein, Ser«, sagte Eberhard. »Kommt herein.«

»Danke«, meinte der Fremde. »Mein Name ist Kennard, und ich bin froh, aus der Kälte hierher ins Warme zu können.« Er rieb sich die Hände und sah sich um. Er nickte uns allen freundlich zu und trat an unseren Tisch.

»Darf ich mich zu euch gesellen? Allein an einem Tisch … ich war zu lange allein. Freundliche Gesellschaft schadet nie.«

Damit hatte er wohl Recht. Kennard schien ein liebenswürdiger Mensch zu sein. Offensichtlich war er gebildet, auch wenn er nicht viel von den Reichen und ihren gegenwärtigen Befindlichkeiten wusste. Aber in der Geschichte kannte er sich aus, was nicht verwunderte, denn er war ein Geschichtsschreiber.

Er konnte gut zuhören, und so geschah es, dass wir ihm während der nächsten Tage, in denen der Schnee langsam schmolz, erzählten, was hier vorgefallen war.