3. Der Turm
Der Gasthof war karreeartig angeordnet, jede der Seiten bestand aus einem Gebäude – linker Hand befand sich das Haupthaus, dann die Schmiede, das Lager und, das größte von ihnen, die Stallungen. Ich ging zu meinem, nein, unserem Tisch zurück und nahm mein Lederbündel auf.
Als ich mich abwandte, erhob sich Lea ebenfalls. Sie nahm Steinherz und hängte es in das Geschirr ein, eine abwesende Geste, so häufig durchgeführt, dass es keines Gedankens ihrerseits bedurfte.
»Wo wollt Ihr hin?«, fragte sie mich.
»Zum Turm.«
In einer solchen Gegend war der Baumeister eines Gasthofs gut beraten, ihn wehrhaft zu gestalten. So verhielt es sich auch mit diesem Gebäude. Der hintere Teil des Haupthauses schloss an einen rechteckigen Turm an, der das Haus um zwei Stockwerke überragte. Einer ernsthaften Belagerung würde der Turm kaum standhalten, aber gegen einen Überfall von Räubern oder gegen umherstreifende Briganten mochte er Schutz gewähren. Sofern sie nicht bereits durch die Tore eingetreten waren. Betrieb man einen Gasthof, konnte man sich nie sicher sein, wem man Haus und Hof öffnete.
»Ich will mir ansehen, wie schlimm es ist.«
»Ich komme mit.«
Ich nickte nur und ging voran. Es war nicht das erste Mal, dass ich im Hammerkopf nächtigte. Ich war schon eine Zeit lang hier und hatte die Absicht, hier den Winter zu verbringen. Ohne die Söldner wäre dies ein angenehmer Plan gewesen, vielleicht hätte ich auch die Gunst einer der Töchter gewinnen können. Kaum etwas wärmte einem die alten Knochen so gut wie eine junge Frau.
Die Tür zum Turm war nicht verschlossen. Ich musterte sie eingehend. Es war eine schwere Eichentür, mit Stahlbändern verstärkt und, soviel ich wusste, der einzige Zugang zum Turm. Vom Gastraum aus führte nur ein schmaler Gang hierher, so dass man kaum eine Ramme verwenden konnte, um die Tür einzuschlagen. Die Tür selbst war oben und unten im Stein verzapft. Ungewöhnlich war auch das schwere Schloss; selten sah man Derartiges an abgelegenen Orten wie diesem. Es erschien mir alt, aber mit großem Geschick gefertigt. Dieses Schloss war nicht das Einzige, was die Insassen des Turms zu schützen vermochte: Der innen liegende Riegel bestand aus solidem Stahl, so schwer, dass man vermutlich zwei Männer brauchte, um ihn vorzulegen. Oder einen, wenn er nur verzweifelt genug war.
Wir tauschten einen Blick, Lea und ich. Der Stein des Turms war mehr als angemessen für seine Aufgabe, etwa die doppelte Breite eines erwachsenen Mannes, gut und sauber verfugt. Wer auch immer den Turm gebaut hatte, wusste, was er tat, der Stein hatte sich so gut wie gar nicht gesetzt, und die Fugen zwischen dem Stein waren zu fein, um die Klinge eines Dolches einzuführen.
Durch die stabile Tür gelangten wir in den unteren Raum des Turms. Eine steile Leiter führte zum nächsten Stockwerk, höher über unseren Köpfen als üblich. Eine Festung war das nicht, aber mit den bescheidenen Mitteln, die einem Gasthof zur Verfügung standen, hatte jemand auch daran gedacht.
Lea berührte mich mit ihrer Hand und wies mich auf den Fuß der Leiter hin.
Die Sprossen waren ausgetreten, die Leiter selbst ziemlich massiv. An den Seiten waren noch die eisernen Ringe zu erkennen, durch die einst ein Seil nach oben geführt hatte. Schon vor langer Zeit hatte jemand die Leiter mit groben Zargen im Boden befestigt, vielleicht hatte sie ihm zu sehr gewackelt. Sollte jemand danach trachten, diesen Raum zu erstürmen, war es nicht mehr möglich, die Leiter nach oben zu ziehen, auch wenn der Baumeister es einst so beabsichtigt hatte.
Hinter der Leiter führte eine offene Falltür in den Keller. Ich warf nur einen kurzen Blick hinein; er zeigte mir den Keller voller Säcke und Fässer mit versiegelten Spundlöchern: Vorrat für den Winter war wohl genug vorhanden.
Im ersten Stock fanden wir die Quartiere des Wirts, drei kleine Zimmer, eines für ihn, eines, das ihm wohl als Arbeitszimmer diente, und eines für seine drei Töchter, alle an den Kamin angrenzend, an welchem sich die Wendeltreppe nach oben anlehnte.
Wir hörten Schritte unter uns, tauschten einen weiteren Blick und wichen an die Wände zurück. Wer auch immer die steile Stiege heraufkam, würde mich sehen und Leandra im Rücken haben.
Es war nur der Wirt, gekommen, um sein Bett abzubauen. Er sah mich ängstlich an.
»Guter Mann, wir wollen nur auf den Turmfried, einen Blick auf das Wetter werfen.«
»Dies sind meine privaten Räume. Ich erlaube … ich möchte nicht, dass sich Gäste hier aufhalten.«
»Ich verstehe. Aber wir verfolgen keine üble Absicht. Sagt, guter Mann, habt Ihr vielleicht irgendwo zweimal dreißig Fuß an Seil, das die Last eines Ochsen tragen könnte?«
Verunsichert nickte er. Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet. »Ja, sicherlich. Im Stall müsste so etwas zu finden sein. Warum?«
Ich fuhr mit der Hand über die hölzerne Winde, die hinter mir, gegenüber der stabilen Falltür, welche den Aufgang verschließen konnte, an die Wand montiert war. Sie war alt, das Holz schon gedunkelt, und hier und da hatten sich Spinnweben angesammelt. Aber ich hegte keinen Zweifel daran, dass sie noch funktionierte.
»Es wäre vielleicht von Vorteil, wenn man die Stiege hinaufziehen könnte.« Ich sah, wie sein Blick meiner Hand folgte, die Stiege und die Winde musterte und dann erschreckt zu mir zurückkehrte. Seine Augen weiteten sich, als er sich der Bedeutung meiner Worte bewusst wurde.
»Meint Ihr, es wird dazu kommen?«, fragte er.
»Vielleicht. Vielleicht opfern sich auch Eure Töchter.« Lea gab einen erbosten Laut von sich. Ich sah zu ihr hinüber, und ihre Augen funkelten wieder.
»Ich würde das nicht wollen.« Die Stimme des Wirts war leise. Ich konnte ihn verstehen. Hätte ich Töchter, ich wollte sie nicht im selben Land mit diesem Halunkenpack wissen, und seine befanden sich im selben Raum.
»Besorgt das Seil, löst die Krampen«, teilte ich ihm mit. »Nur zur Vorsicht. Heute Nacht wird wohl kaum etwas passieren, noch habt Ihr Zeit. Nutzt sie, um Euch vorzubereiten.«
Er war nun bleich im Gesicht, aber er nickte.
Ich wandte mich der Treppe zu, mit der Absicht, den Turm weiter zu erkunden, als er mich am Ärmel fasste.
»Herr, wenn es so weit kommen sollte, mögen die Götter verhindern, dass es geschieht, aber, Ser, Sera, werdet Ihr mir helfen? Ich weiß, dass wir nur unbedeutende Freibauern sind, aber ich liebe meine Töchter, und sie können nichts dafür, in unbedeutendem Stand geboren zu sein.«
Ich sah auf seine Hand hinunter, die sich nun langsam von meinem Ärmel löste.
»Sehe ich aus, als wäre ich in hohem Stand geboren?«
»Nein. Aber ich weiß, dass Ihr viele Sprachen sprecht, lesen und schreiben könnt, und ich sah, wie Ihr zu essen pflegt. Kein Freibauer hat diese Tischsitten.« Er wurde rot. »Ich bat sogar meine Töchter, besonders aufmerksam an Eurem Tisch zu bedienen, damit sie lernen, wie man am Hofe speist.«
Ich spürte Leas Blick in meinem Rücken, sah die Augen des Wirts und musste lächeln ob seiner Einschätzung, auch wenn mir nicht wirklich nach Lächeln war.
»Gut. Aber wie kommt Ihr darauf, dass es unser Stand ist, der uns beeinflussen würde, Euch zu helfen oder nicht?«
Er senkte den Blick zu Boden. »Es war nur eine Frage, Ser, geboren aus dem verängstigten Herzen eines Vaters.«
»Wollt Ihr meine Meinung hören?«, fragte ich den Mann. Er sah hoffnungsvoll zu mir auf und nickte.
»Ihr solltet nachsehen, wie es um Eure Vorräte hier bestellt ist. Vielleicht ist nicht alles hier, was Ihr braucht, vielleicht sind andere Waren woanders verteilt. Seht zu, dass die Stiege wieder hochgezogen werden kann. Haltet Waffen, hauptsächlich Armbrüste, sofern Ihr sie besitzt, bereit. Schlaft hier, schließt die Tür unten, wenn Ihr Euch zur Ruhe begebt, und vergewissert Euch, dass niemand im Turm auf Euch wartet, wenn Ihr Euch hierher zurückzieht.«
»Und meine Mädchen?«
Ich zögerte einen Moment. Was sollte ich ihm raten? Mir erschien es am ungefährlichsten, wenn sich die Mädchen den Wünschen der Männer fügten. Taten sie es nicht, befürchtete ich, dass die Männer sich trotzdem nahmen, was sie wollten, doch dann mit Gewalt. Ich sah die ängstlichen Augen des Wirts auf mir ruhen und entschloss mich, ihm eine Antwort zu geben, die mir so einfühlsam wie möglich erschien.
»Sprecht mit ihnen. Macht ihnen klar, was sie erwartet. Sollte etwas passieren, so soll eine jede direkt hierher fliehen, wenn sie das noch kann. Denkt nicht an Kampf. Und diejenige, die als Erste ergriffen wird, soll Zeit kaufen für ihre Schwestern. Vielleicht ist ihr der Gedanke ein Trost, dass ihnen nicht das Gleiche widerfährt.«
Der Wirt blickte hoch zu mir. »Ihr seid ein kalter Mann, Ser.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was passieren wird. So rettet Ihr vielleicht zwei von dreien. Überlegt es Euch.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich wäre kein Vater, der den Göttern mit erhobenen Augen entgegentreten kann, könnte ich so entscheiden.«
Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. »Nicht Ihr entscheidet. Ich sagte nicht, dass Ihr eine Eurer Töchter den Wölfen zum Fraß vorwerfen sollt. Ich sagte, Ihr sollt die anderen retten. Darin liegt ein Unterschied.«
»Ja. Ich sehe ihn wohl. Aber er liegt nicht im Ergebnis. Dennoch danke ich Euch für Euren Rat. Ich werde beten, dass ich ihn nicht beherzigen muss.« Er machte eine Geste hin zur Treppe. »Geht und seht, was Ihr zu sehen wünscht. Ich wäre den hohen Herrschaften verbunden, wenn ich mein Heim bald wieder mein Eigen nennen könnte.« Noch lieber hätte er uns der Räume verwiesen.
Ich nahm die Hand von seiner Schulter. Er wich mir nicht aus. Hier stand ein Mann vor mir, dachte ich, der gerade eine Entscheidung gefällt hatte.