27. Die Balance der Magie

 

»Was hast du außerdem herausgefunden?«, fragte ich die Maestra und tippte auf das alte Buch, das vor ihr auf dem Tisch lag.

»Vieles von dem, was hier geschrieben steht, ist für uns nicht von Interesse«, antwortete sie. »Zahlen, Soldlisten, Marschbefehle. Aber ich weiß nun, was hier geschah. Ich werde es dir erzählen, auch wenn ich weit ausholen muss. Nur so viel sei vorab gesagt: Das alte Imperium hat diesen Ort hier mit Bedacht gewählt. Ich hätte es wissen müssen, hätte es erkennen sollen, hätte ich bloß daran gedacht, danach zu schauen.« Sie beugte sich vor. »Seitdem ich hier bin, sind meine Kräfte gewachsen.« Sie sah mich so bedeutungsvoll an, dass ich sofort verstand, worauf sie hinauswollte.

»Hat es mit dem Ort hier zu tun?«

»Ja. Kennst du die Gesetze des Gleichgewichts der Magie?«

»Ich habe davon gehört. Nichts kann verschwinden, und nichts wird erschaffen. Magie ist Manipulation, Umformung.«

Sie nickte. »Wir Maestros wandeln das eine in das andere. Manchmal muss man, um etwas zu schaffen, es in eine Rohform umwandeln. Es ist wie eine reine Kraft, wir nennen das Energie.«

»Was ist Energie?«

Sie legte die Stirn in Furchen. »Ich habe ein einfaches Beispiel für dich. Wenn du einen Stein in die Luft wirfst, gibst du ihm mit deiner Kraft eine Energie mit, den Schwung. Ist er aufgebraucht, fällt der Stein wieder und holt sich auf dem Rückweg den Schwung zurück, um mit Wucht auf dem Boden aufzuschlagen.«

Wie ich einen Stein warf, wusste ich, wenn sie das Energie nannte, in Ordnung. Ich nickte.

»Wenn ich nun diese Energie buchstäblich zur Verfügung habe, sozusagen den Schwung ohne den Stein, ist es einfacher, damit Magie zu wirken.«

Ja, das leuchtete mir ein.

»Energie ist in allem, was sich bewegt, und alles bewegt sich. Leben selbst ist Energie, manche sagen, es sei die stärkste Form überhaupt.«

»Deshalb hört man in den Legenden immer wieder, dass es Magie gäbe, die im Augenblick des Todes entsteht und so am mächtigsten ist, weil sie die Energie des nicht gelebten Lebens beinhaltet.«

Leandra sah mich überrascht an, dann nickte sie zustimmend. »Ja, so ist es. Aber Energie ist in allem, ist überall im Gleichgewicht. Das liegt daran, dass alles miteinander verbunden ist, wie in einem feinen Netz miteinander verwoben.«

Ich wischte die Bratensoße mit dem letzten Stück Brot auf und schob dann die Platte von mir. »Erzähl weiter.«

»Es gibt Orte, an denen diese Energie stärker fließt als an anderen. Besitzt jemand die Gabe zur Magie, kann er dies nicht nur sehen, sondern die Energie auch manipulieren, damit etwas erschaffen. Du weißt, dass ich die Energie für einen Zauber aus der Umgebung entziehe, zur Not auch mir selbst, meinem Leben sozusagen.«

»Ein Zauber, der misslingt, kann dich also Lebensjahre kosten?«, fragte ich vorsichtig.

»Ich befürchte, für den Wärmezauber gestern Abend sind Jahre meines Lebens draufgegangen. Er … er missriet ein wenig.«

Ich musterte sie sorgfältig, konnte allerdings nichts erkennen. Sie war genauso schön und jung wie gestern.

Sie sah meinen Blick und lächelte leicht, legte ihre Hand beruhigend auf meine. »In meinen Adern fließt nicht nur ein wenig Elfenblut. Ich bin zur Hälfte Elfe. Wenn ich nicht noch mehr Fehler begehe, wird mein erstes graues Haar noch Jahrhunderte auf sich warten lassen.«

»Du bist … unsterblich?«, hauchte ich.

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber es wird wohl vier bis fünf Jahrhunderte dauern, bis ich alt werde.«

Das beruhigte mich tatsächlich. Eine Lebenspanne, die sich in Jahrhunderten messen ließ, war eine Sache, Unsterblichkeit eine andere. Wobei wahre Unsterblichkeit den Göttern vorbehalten war, ein Elf konnte stolpern und sich den Hals brechen und war dann genauso tot wie jeder andere auch. Mit ein Grund, weshalb Elfen so vorsichtig waren. Ich sah zu unserer Dunkelelfe hinüber, die sich von Rigurd mit Apfelstückchen füttern ließ. Beide schienen es zu genießen und waren Zentrum verstohlener Blicke. Sie wirkte anders, nicht so distanziert wie vorher, eher exotisch verführerisch. Ich fragte mich, wie viele der Zuschauer gerne mit Rigurd tauschen würden.

Sie erntete auch verstohlene Blicke der Briganten, aber egal, wie dumm sie auch waren, mit einer Dunkelelfe wollten sie sich wohl nicht anlegen.

Leandra folgte meinem Blick und lachte leise. »Vielleicht liegt darin der Grund, weshalb sich Elfen und Dunkelelfen nicht leiden können«, sagte sie mit einem Lächeln.

»Einer von vielen«, erwiderte ich. Ich erinnerte mich nur zu gut an Zokoras Worte, sie habe das Foltern zweihundert Jahre lang erlernt.

»Erzähl weiter vom Wesen der Magie.«

»Gut. Wenn magische Energie freigesetzt wird, ist dies vergleichbar mit einem Seil, das Orte verbindet, Orte, die in ihrer Energie zueinander eine Differenz aufweisen, die über dieses Seil ausgeglichen wird.«

»Wie ein Fluss?«

»Das passt gut. Ja, die Energie fließt hindurch, ein Maestro kann sie sehen, anfassen, manipulieren. Befindet er sich an einem solchen Ort, wird seine Kraft um ein Vielfaches größer. Wir nennen das eine Kraftlinie.«

Sie nahm einen Schluck von meinem Wein, sah meinen Blick und lächelte. »Mein Hals ist trocken«, sagte sie dann.

Ich hob den Becher hoch, Sieglinde nickte bestätigend und eilte alsbald mit einer neuen Flasche herbei, um sie uns mit einem strahlenden Lächeln hinzustellen, bevor sie wieder verschwand.

»Ich verstehe die Frauen nicht«, sagte ich, hinter ihr herblickend.

»Zurzeit kann ich dir nur zustimmen«, meinte Leandra und deutete auf ihren Becher. Ich goss ihr Wein nach und sah dabei zu, wie der Wein ihre vollen Lippen benetzte, als sie trank.

»Eine solche Kraftlinie läuft durch diesen Ort?«

»Ja, aber da ist mehr. Es gibt einige wenige sagenumwobene Orte, an denen sich solche Kraftlinien kreuzen.«

»Und dort ist die Macht der Magie noch größer?«

»Ja. Schau, es gibt sechs Arten von Energie. Wind, Wasser, Erde, Feuer, Natur und Licht.«

»Licht?«

»Die reinste Form. Jede Kraftlinie besteht zum größten Teil aus dem einen, zu einem kleineren Teil aus allem anderen. Will ich nun einen Zauber wirken, der mich fliegen lässt, ist die beste Energie die …«

»… des Windes.«

»Ja. Ich muss sie nicht sehr verändern. Will ich eine Brücke bauen …«

»… Erde und Wasser.«

»Genau. Stell dir nun einen Ort vor, an dem sich mehrere solcher Linien treffen.«

»Für einen Maestro wäre ein solcher Ort von unermesslichem Nutzen.«

Sie nickte vielsagend. »In den Tempeln lehrt man uns, dass Askir deshalb so mächtig war, weil sein Herrscher ein Magier war, der seine Hauptstadt auf dem Zentrum eines solchen Kreuzungspunkts, einer solchen Zusammenkunft von Kraftlinien, gründete. So mächtig waren sie, dass er Steinblöcke mit seinem Willen erschaffen konnte, um aus ihnen die Mauern der Stadt zu errichten.«

Ich zog zweifelnd eine Augenbraue hoch. Sie lachte. »Vergiss nicht, es sind Legenden. Aber der Tempel von Astarte in Illian ist auf einem Kreuzungspunkt von Wasser und Erde erbaut. Solche Orte sind oft heilige Stätten, von Ureinwohnern verehrt, die zwar oft nicht wissen, was es ist, aber ahnen und spüren, dass es ein besonderer Ort sein muss.«

»Hier kreuzen sich diese Linien aus Energie?«

»Es war wohl einmal so geplant. Unten, im Raum unterhalb des Turms. Es scheint, als gäbe es eine Möglichkeit, den Verlauf von Kraftlinien zu verändern und umzuleiten, so wie ein Kanal das Wasser leitet. So weit kam es aber nie. Dort unten verlaufen keine Kraftlinien, aber sie müssen sich an einem anderen Ort in der Nähe befinden, von wo sie hierher verlegt werden sollten. Der Raum dort unten war dafür gedacht. Eines noch: In allen Legenden wird erzählt, dass es nur einen einzigen Ort gibt, an dem sich sechs Linien treffen, dort steht Askannons Zitadelle, der Grundstein seiner Macht.«

»Solche Orte sind selten?«

»Extrem selten.«

»Hier unter dem Turm sollten solche Kraftlinien künstlich zusammengeführt, von einem Ort in der Nähe hierher verlagert werden?«

Sie nickte.

»Das erklärt zumindest, warum in dieser Einöde eine Garnison errichtet wurde.«

»Ja«, sagte sie. »Zumal hier irgendwo acht dieser Linien zusammenlaufen.«

Ich schwieg einen Moment, versuchte zu verstehen, was sie mir soeben gesagt hatte. »Ein Magier muss sich fühlen, als würde er auf einem unermesslichen Schatz sitzen.«

Sie lachte. »Ja und nein. Die meisten wird es fürchterlich frustrieren. Würde ich versuchen, diese Energie zu verwenden, ich würde als ein Häuflein Asche niederregnen. Es bedarf besonderer Fähigkeiten, mit solchen Dingen umzugehen. Ich zum Beispiel bin nicht stark genug, eine solche Kraftlinie zu berühren, ohne dabei zu vergehen. Ich würde hineingesogen werden in diese Energie …«

»Was ist ein solcher Ort dann wert?«

»Nun, es fällt seiner Umgebung leichter, Magie zu wirken. Das ist das eine. Das andere ist, dass Askannon nicht irgendein Magier war oder ist, sondern jemand, der diese Linien beherrschen konnte. Daher auch seine unermessliche Macht.« Sie hob das Buch hoch. »Der Ort, in dessen Nähe wir hier gerade sitzen, ist der Grund, weshalb Askir unsere Vorfahren hierher sandte, warum diese Länder besiedelt wurden. Der Grund, weshalb seine Legionen die Barbaren vertrieben und hier eine Festung errichteten. Er wollte verhindern, dass dieser Ort anderen in die Hände fiel, anderen, die so vielleicht mächtiger werden konnten, als er selbst es war.«

Ich blinzelte. Dann sah ich sie an; sie schien zu warten, bis ich verstand. »Thalak. Thalak will hierher?«

»Ja. Dieser verlassene, unscheinbare Ort ist das Zentrum unseres Schicksals, und das schon seit Jahrhunderten.« Ihr Gesicht verdüsterte sich. »Die Machtgelüste eines einzelnen Mannes formten uns, brachten uns hierher … warfen uns in diesen Krieg … alles wegen eines einzigen Mannes, Askannon, des ewigen Herrschers.«

»Ich fange an, ihn nicht zu mögen«, sagte ich und goss mir Wein nach. »Was ist hier geschehen?«, fragte ich dann und blickte auf das Buch in ihren Händen.