32. Der kalte Hauch des Eises

 

Sie wollte gerade etwas sagen, als hinter uns eine leise Stimme ertönte.

»Papa …«

Es war Maria.

Eberhard eilte sofort zu ihr, lauschte ihren Worten und gab uns ein Zeichen, zu ihm zu kommen.

»Ihr solltet Euch das ansehen.«

»Was ist?«, fragte Leandra, als wir dem Wirt und seiner Tochter folgten.

»Ich weiß es auch nicht«, rief er über seine Schulter, »aber sie sagt, der Turm mache seltsame Geräusche.«

Wir folgten Maria bis in die Gemächer des Wirts. Ihre Schwester Lisbeth wartete dort auf uns mit einer Armbrust in den Händen. Sie legte sie beiseite, als sie uns sah, und warf sich ihrem Vater in die Arme.

»Papa, ich habe Angst.«

Seitdem ich das letzte Mal hier gewesen war, hatte der Wirt die Treppe nach oben abgedichtet und klafterweise Brennholz herangeschafft. Jedes Fenster war mit dicken Decken versiegelt, Kerzen erfüllten den Raum mit einem warmen Glanz. Kostbare Teppiche bedeckten den kalten Stein zu unseren Füßen, bunte Tücher hingen unter der Decke. Die Flammen in dem großen Kamin tanzten und prasselten. Es war kühl, aber nicht kalt hier.

Es war gemütlich.

Knack!

Das Geräusch kam von oben und ähnelte dem eines Fußes, der auf ein Holz tritt. Alle sahen wir zur Decke auf, dann auf die versiegelte Treppe. Angsterfüllt schaute der Wirt uns an.

Leandra seufzte, und wir tauschten einen Blick.

Sie wandte sich an den Wirt. »Wir werden für Euch nach dem Rechten sehen.«

Eberhard nickte dankbar und fing an, die Tür freizulegen. Das Eis knirschte, als er die Tür aufzog, dann rieselten Eiskristalle auf den Boden. Die Kälte, die durch die Wendeltreppe auf uns herabfiel, war wie ein Schlag ins Gesicht. Ich wickelte mir meinen Umhang um den Mund und betrat vorsichtig die eisglatte Treppe, Leandra folgte mir mit einer Laterne.

Fingerdicke Platten aus Eis knackten und brachen ab, als ich die Tür zum nächsten Stockwerk öffnete. War es erst vorgestern gewesen, dass ich hier Leandra niedergeschlagen hatte?

Als Leandra die Laterne hinter mir hochhob und den Raum ausleuchtete, versagte mir der Atem. Die Kälte hatte das Zimmer in einen schimmernden Palast verwandelt, jede Fläche war überzogen von einem bläulich glitzernden Panzer aus fingerdickem Eis, dünne Eiszapfen hingen von der Decke herab und trafen auf dem Boden Stalagmiten, die sich ihnen entgegenreckten. Unser Atem wehte wie Nebel in den Raum, um dann als Schnee zu Boden zu sinken.

»Bei den Göttern«, sagte Leandra leise.

Knack!

Diesmal war das Geräusch deutlich und laut zu hören. Der Schein der Laterne leuchtete auf den Ort des Ursprungs. Zuerst sah ich nicht, was es sein könnte, doch dann bemerkte ich die feine Linie im Eis an der einen Wand und die noch feinere Linie im Stein dahinter.

»Die Kälte sprengt den Stein!«, hauchte Leandra. Ich nickte. Wäre der Turm weniger massiv gebaut, gäbe es Grund zur Sorge, aber selbst mit einem Riss hielten die mächtigen Mauern noch, aber wie lange?

Die Kälte war bitter, aber ich entschloss mich, den Turm zu ersteigen. Als ich die Tür des Turmhauses aufstieß, splitterte ein Teil ab und fiel zu Boden, wo das Holz in Dutzende Stücke zerbarst.

Es war totenstill hier oben, kein Luftzug ging, nur mein Atem rauschte in meinen Ohren und fror an meinem Mund.

Wir traten hinaus in eine Nacht, so schwarz und so sternenklar, dass ein jeder Stern mit einer Brillanz erschien, als wolle er uns gefallen. Die beiden Monde waren so scharf und klar gezeichnet, dass ich vermeinte, Formen und Strukturen auf den Sicheln zu erkennen. Es war, als blicke man aus der Tiefe eines Brunnens nach oben.

»Schau«, hörte ich Leandra. Sie sprach kaum lauter als ein Lufthauch.

Über uns, am Firmament, formten die Sterne das Bild eines Wolfs. Ich traute meinen Augen nicht: Wie konnten sich die Sterne selbst verändern? Aber dann verstand ich. Hier war die altbekannte Hand Astartes mit ihrer Ähre, dort das Schwert Borons, aber zwischen ihnen standen Sterne, die man sonst nicht sah, und sie verbanden die Zeichen unserer Götter zu jenem eisigen Wolf, der nun über unseren Häuptern das Firmament beherrschte. Vor den Nüstern des Wolfs schien die Luft zu flimmern, als atme er, doch das war nur die heiße Luft aus dem Kamin. Hier oben war selbst der Kamin vereist; ein Stück Stein war von ihm abgesprungen und lag, in Eis gepackt, zu meinen Füßen.

Um uns herum zuckten Blitze in der Ferne, doch der Donner erreichte uns nicht. Der Sturm war noch immer dort, wo er seit Tagen stand, eingefroren an einem Ort, genau wie wir es waren.

Als ich ihr antworten wollte, spürte ich, dass sich meine Lippen schwer taten, sich von meinem Umhang zu lösen. Wortlos begaben wir uns wieder nach unten.

Vorhin war mir der Raum der Familie kühl erschienen, jetzt war die warme Luft eine Wohltat, die meine Haut mit tausend Nadelstichen quälte und meine Augen tränen ließ. Ich ließ mich in einen Stuhl sinken und sah zu, wie der Treppenaufgang wieder verschlossen und versiegelt wurde.

»Was ist es?«, fragte Eberhard furchtsam.

»Es ist die Kälte, Wirt«, antwortete ich ihm mit steifen, schmerzenden Lippen. Ich bewegte meine Hände: Sie waren feuerrot und prickelten, als hätte ich sie in heißes Wasser getaucht. »Die Kälte bricht den Stein.«

Eberhard bat uns, auch die anderen Räume des Gasthofs zu untersuchen, um festzustellen, wie weit das Eis nun vorgedrungen war. Also suchten Leandra und ich auch unser Zimmer auf. Allein der Gang dorthin war schon mit eisigen Blumen verziert, die vor wenigen Stunden noch nicht dort gewesen waren. Letzte Nacht hatte Leandra einen Zauber gewirkt, der uns Wärme gab, diese Nacht erschien allein der Gedanke daran sinnlos, denn das Eis war endgültig eingedrungen in das Gemäuer.

»Mit all dem, was zu tun war, Martins Leiche, die Versorgung der anderen Töchter im Turm, ist es kein Wunder, dass niemand auf die Glut im Kamin achtete«, sagte ich dann.

Leandra schüttelte leicht den Kopf. »Schau doch, es ist Glut im Kamin.«

Ich betrat den Raum vorsichtig und löste meinen Packen aus dem Eis. »Wie kann das sein? Wie kalt kann Kälte werden?«

Leandra nahm ebenfalls ihren Packen auf, oder versuchte es, denn eine der ledernen Schlaufen brach. Vorsichtig nahm sie ihr Buch, das von der Kälte nicht berührt schien, und steckte es ein, dann verließen wir den Raum, schlossen die Tür sorgfältig hinter uns und begaben uns zurück.

»Um auf deine Frage einzugehen«, sagte Leandra, als ich an der Tür zum Turm klopfte, »der Großmagister unserer Schule sagte, dass es möglich sei, Luft gefrieren zu lassen, so dass sie niederfällt wie Schnee.«

»Er meinte sicherlich den Atem.«

»Nein. Er meinte, die Luft selbst könne zu Eis werden.«

»Das kann nicht sein.«

Sie blieb stehen und sah zu mir auf. »Bist du sicher?«

Der Wirt begrüßte uns mit sehr willkommenem heißem Tee. »Wir fanden überall das Gleiche«, teilte Leandra dem Wirt mit, während ich ihre Hände massierte. »Die Tiere im Stall – ein paar werden überleben, aber nicht viele. Schmiede und Lager – die Kälte schneidet dort Messern gleich. Die oberen Stockwerke …« Sie schüttelte den Kopf. »Dass Ihr hier Wärme habt, verdankt Ihr dem Baumeister des Turms und seinen dicken Mauern. Aber alles, was sonst über den Schnee ragt, ist Opfer der Kälte geworden. Nur noch dieser Ort, der Gastraum, Küche und Waschküche, bieten Schutz vor der Kälte.«

Der Wirt nickte verdrossen. »Ich verstehe.« Er suchte meinen Blick. »Ser, sagt mir die Wahrheit … werden wir sterben?«

»Noch nicht. Durch deinen Fleiß und deine Voraussicht haben wir Brennmaterial – zur Not versammeln wir uns in der Küche um die Öfen. Aber dauert dieser unnatürliche Frost an, wird es noch kälter. Dann wird keiner von uns den Sommer erleben.«

»Wie lange?«, fragte Eberhard leise. Lisbeth schmiegte sich an ihn und sah uns mit großen Augen an.

»Normalerweise würde ich sagen, so lange wie das Holz reicht«, antwortete Leandra genauso leise. Sie zögerte. »Die Kälte ist nicht natürlichen Ursprungs.«

Ich sah sie verblüfft an. »Hast du nicht gesagt, dies wäre nicht möglich?«

»Da wusste ich noch nicht, dass sich hier magische Energien kreuzen.« Sie hob ihren Blick, ihre violetten Augen schienen mein Innerstes zu suchen. »Der Sturm wird vom Kreuzungspunkt der Magie geschürt, der Knoten hier … etwas geschieht, was uns alle in den eisigen Tod treiben wird.«

»Vielleicht. Aber warum jetzt, nach all den Jahrhunderten?«

»Etwas hat es ausgelöst. Irgendjemand brachte irgendetwas an diesen Ort und entfesselte diese Kräfte. Die Statuette.« Sie griff in ihren Umhang und holte die Wolfskette heraus. »Und das hier. Ich sagte dir schon, dass ich Magie auf dieser Kette fand. Alte und mächtige Magie. Es ist der Beweis für meine Vermutung. Die Magie hier wächst und wächst und entzieht uns zugleich die Wärme des Lebens.«

Ich sah mir das schwere Silber genauer an und hob abwehrend die Hand. »Nimm sie weg.«

»Du kannst sie selbst einstecken«, sagte sie und ließ sie in meine Hand gleiten. »Solange du sie nicht umlegst, geschieht nichts. Dies ist alte Magie, sie wurde hier seit jenen Tagen nicht mehr gesehen. Jemand brachte sie zurück.«

»Zurück?«

»Ja. Sie stammt ursprünglich von diesem Ort. Ein Amulett der Barbaren, mit dem sich ihre Schamanen in Wölfe verwandelten, so wie der Kommandant es beschrieben hat. Balthasar trug sechs dieser Ketten bei sich, als er nach der Meuterei von hier verschwand. Damals allerdings waren sie ihrer Wirkung beraubt.« Sie schloss meine Hand um die schwere Kette. »Diese Ketten hängen mit dem zusammen, was hier geschieht, und sind verbunden mit der Macht des Kreuzungspunkts.«

»Und wenn wir sie zerstören?«

»Wissen wir nicht, was passiert. Aber eines ist sicher.« Sie rieb sich die Hände, um sie zu wärmen. »Etwas ist mit dem Kreuzungspunkt nicht in Ordnung. Du erinnerst dich, dass Balthasar das Tor zurück nach Askir nicht öffnen konnte? Etwas geschah damals, etwas, von dem wir nichts wissen. Der Kreuzungspunkt ist damals deaktiviert und nun reaktiviert worden. Und nun ist er aus dem Gleichgewicht.«

»Na dann.« Ich warf die Kette hoch, fing sie auf und steckte sie ein. »So wissen wir wenigstens, was zu tun ist.«

»Und was wäre das, Ser?«, fragte Eberhard.

»Wir müssen diesen magischen Kreuzungspunkt suchen und wieder in die Waage bringen, müssen reparieren, was beschädigt wurde.«

»Und wie?«, fragte Leandra.

»Du wirst es wissen, wenn wir dort sind«, antwortete ich ihr. »Du bist die Maestra.«

Der Wirt schüttelte den Kopf. »Niemand wird es wagen, dorthin zu gehen. Wie wollt Ihr diesen Tempel suchen? Niemand weiß, wo er sich befindet.« Mit einem Stirnrunzeln richtete er sich an Leandra. »Oder stand der Weg zu ihm in jenem Buch beschrieben?«

Sie schüttelte den Kopf. »Leider nicht.«

»Wir werden eine Möglichkeit finden«, sagte ich und war bemüht, meine Stimme zuversichtlich klingen zu lassen.

»Wenn nicht, dann werden wir alle erfrieren«, antwortete der Wirt wenig beruhigt.

Ich dachte an die Soldaten unter uns. »Wenigstens befinden wir uns dann in bester Gesellschaft.«

»Aber Ihr werdet gehen?«, fragte der Wirt.

»Ja«, sagte ich. »Morgen, nach dem Frühstück.«

»Ich werde Euch ein Festmahl bereiten, eines Fürsten würdig«, versprach Eberhard.

»Hauptsache, es ist warm«, erwiderte Leandra.