2. Gefangene des Sturms
Draußen pfiff der Wind, das Feuer im Kamin tanzte im Zug der Esse, selbst die dicken Mauern des Gasthofs kühlten langsam ab. Eines der Schankmädchen bemühte sich, die Ritzen der Fenster mit in Talg getränkten Seilen abzudichten. Mehr als ein Söldner folgte ihren anmutigen Bewegungen mit gierigen Blicken, andere hatten die schlanke Gestalt an meinem Tisch fixiert.
Wenn mein Gefühl Recht behielt, so würden wir die nächsten Tage hier verbringen müssen. Bevor sie gekommen war, hatte es mich nicht wirklich interessiert, was geschehen würde. Aber nun war sie hier, und ich fing wieder an, mir Gedanken zu machen. Also sah ich mir die anderen Personen im Gasthof an, mit denen wir uns die nächste Zeit, ob wir wollten oder nicht, Essen und Dach teilen müssten. Allesamt waren wir Gefangene des Sturms.
Zum größten Teil waren die Gäste einfache Reisende. Zwei Händler waren kurz vor Mittag gemeinsam eingetroffen. Ihre großen Handelswagen standen schwer beladen im Hof, eine Versuchung für jeden Halsabschneider, der schnell reich werden wollte. Eine Versuchung, die kaum durch die acht Wachen gemindert wurde, die den kleinen Wagenzug begleiteten, zeigten sie doch nur, dass die Ware von erheblichem Wert sein musste.
Dort drüben, in der Ecke neben dem zweiten Kamin, befand sich eine Reisegesellschaft. Die Art der reichen und prächtigen Gewänder war mir unbekannt, ich hörte nur im Vorbeigehen, dass die Herrschaften aus Lehemar stammten. Wenn dies so war, dann hatten sie einen weiten Weg hinter sich. Die Gruppe bestand aus einem älteren Mann und zwei jungen Frauen, beide recht hübsch anzusehen. Sie wurden von drei Kämpfern begleitet, die ihren Sold wohl damit verdienten, Sorge darum zu tragen, dass die Ehre der Töchter unangetastet blieb. Die drei Kämpfer trugen das gleiche Wappen auf ihrer Brust, also waren sie nicht nur für die Reise angeheuert worden, sondern standen dauerhaft im Sold der Familie. Der Mann verbrachte seine Zeit damit, sich missbilligend umzusehen, die Töchter erschienen mir zu schüchtern, um ohne Erlaubnis zu atmen. Tief in ihre Umhänge gehüllt, betrachteten sie scheu das Geschehen um sich herum. Wenn eine von ihnen bisher gesprochen hatte, so war mir das entgangen. Ich konnte mir nur einen Grund vorstellen, warum eine solche Gesellschaft eine derartige Reise tat, und der war, eine oder beide Töchter zu verheiraten. Wahrscheinlich waren sie froh, den mürrischen Blicken des Vaters entkommen zu können.
Andere Gäste waren Bergarbeiter aus den nahe gelegenen Kupferminen, wohl auf der Heimreise, um die kommenden Festtage mit ihren Familien zu verbringen. Des Weiteren war da ein Kuhhirte, dessen Herde zum größten Teil außerhalb der Mauern des Gasthofs erfrieren würde. Schon jetzt hatte er seinen Kummer darüber ertränkt und lag laut schnarchend vor einem der beiden Kamine. Dann gab es da noch eine Person, ebenfalls tief in ihren Umhang gehüllt, die Kapuze weit ins Gesicht gezogen, die die zweitbeste Position des Raums für sich beanspruchte. Vom taktischen Standpunkt aus betrachtet. Die Wärme der beiden Kamine reichte wohl kaum in diese Ecke. Auch diese Person war ein später Gast: Erst kurz vor Sonnenuntergang hatte die schlanke Gestalt den Gasthof betreten, und noch konnte ich sie nicht so recht einordnen. Das Einzige, was ich von dieser Person wusste, war, dass die zwei Pferde, die sie in die Stallungen des Gasthofs eingestellt hatte, von bester Qualität waren. Ob dieser Gast unter seinem Umhang und dem Wams eine Rüstung trug, vermochte ich nicht zu erkennen, jedoch lehnte neben ihm ein Langschwert an der Wand.
Und natürlich die »Söldner« – um ihnen eine Bezeichnung zu geben, die vielleicht ein wenig zu schmeichelhaft war, aber erträglicher, als sie so zu bezeichnen, wie sie es wahrscheinlich verdienten: Briganten, Gesetzlose, Räuber, Mörder oder einfach nur Pack. Es gab neun von ihnen. Sie kamen zusammen, kurz nach Sonnenuntergang, aber ich war mir nicht sicher, ob sie wirklich zusammengehörten. Vielleicht zwei kleine Gruppen, die sich auf dem Weg zum Gasthof zusammengefunden hatten und für die Dauer des Schneesturms Frieden schlossen. Oder aber eine Zusammenarbeit vereinbart hatten.
Die eine Gruppe der Söldner bestand aus sechs hart gesottenen Gesellen, ihre Fellumhänge waren, wie der Rest von ihnen, völlig verdreckt. Es war deutlich zu erkennen, dass sie ihre Zeit selten unter Dächern verbrachten.
Selbst im Gemisch der Gerüche, die einen Gastraum erfüllten, inmitten des Geruchs von Bier, Schnaps und nasser Wolle, des Rauchs vom Kamin und des Bratengeruchs aus der Küche, konnte ich sie riechen, ein bitterer Gestank nach altem Schweiß und Blut. Den ganzen Abend schon musterten sie die anderen Gäste, ließen ihre Blicke wieder und wieder über die Wachen der Händler und der Reisegesellschaft schweifen, wanderten scheinbar ziellos durch den Gasthof, achteten auf Treppen, Türen, Ein- und Ausgänge. Oder musterten gierig die schlanke Form des Schankmädchens.
Die drei anderen Söldner waren vielleicht genau das, was sie zu sein schienen – gepflegter als die Sechsergruppe, trugen sie allesamt mit Stahlplättchen verstärkte Lederrüstungen und waren mit Dolch und Langschwert bewaffnet. Sie wirkten professionell und ruhig. Während die erste Gruppe immer lauter wurde und jeden im Raum aufforderte, über ihre anzüglichen Witze zu lachen, hielt sich diese Dreiergruppe zurück und leerte nur langsam, wenn auch stetig ihre Becher.
Der Gasthof verfügte über nur wenige Zimmer: zwei Einzelzimmer, zwei, die mit sechs Betten ausgestattet waren, sowie zwei größere Schlafsäle unter dem Dachfirst. Andere Gäste waren eingeladen, im Heu über den Stallungen zu übernachten. Bedachte man, wie kalt es wahrscheinlich werden würde, war der Stall keine schlechte Wahl. Es gab weit mehr Vieh als Menschen, und die Stallungen waren zum Bersten voll. Die Körperwärme des Viehs würde sicher vor dem Erfrieren schützen.
Ich besaß eines der beiden Einzelzimmer und wusste, dass alle Räume belegt waren. Die feine Reisegesellschaft hatte auch schon kein Zimmer mehr bekommen, und der Mann hatte so lange lautstark protestiert, dass wir alle erleichtert waren, als er sich endlich entschloss, sich hinzusetzen und ruhig zu sein.
Aus alldem folgte, dass die Sera im Stall schlafen konnte oder im Gemeinschaftsraum.
Die Gesellschaft war jedenfalls nicht die, welche ich mir gewünscht hätte, um eingeschneit zu werden.
Zum Gasthof selbst gehörte der Wirt, jemand in der Küche, den oder die ich nur mit den Töpfen hantieren hörte, ein Stallbursche, der wahrscheinlich mit der Menge an Vieh überfordert war, drei Schankmädchen im Alter zwischen fünfzehn und zwanzig Jahren, jung, schlank und nicht schlecht anzuschauen. Auch alte Augen konnten sich an anmutigen Bewegungen erfreuen. Die Männer sahen ihnen nach, aber bei den meisten im Raum machte mir das weniger Sorgen. Kopfzerbrechen bereitete mir, dass auch der Blick manch eines Söldners auf diesen weiblichen Rundungen lag, der von dem Verlangen sprach, sich zu nehmen, was ihm gefiel.
Da der Gasthof weit entfernt von jeder Siedlung lag, war es nicht verwunderlich, dass der Wirt auch zwei junge, kräftige Knechte beschäftigte, die die grobe Arbeit leisteten. Sie trugen kurze, mit Leder umwickelte Knüppel an ihrer Seite. Das mochte vielleicht reichen, um einem Betrunkenen Benehmen beizubringen, gegen die neun Söldner hatten sie wohl kaum eine Chance.
Ich wandte mich wieder der Sera Maestra zu.
»Ihr habt keinen geeigneten Zeitpunkt gewählt, um diesen Ort aufzusuchen.«
Sie zog eine Augenbraue hoch, fahl wie der Rest von ihr, aber dennoch markant. Ihre Augen hatten den rötlichen Schimmer verloren, vielleicht war es nur meine Einbildung oder der Widerschein des Feuers in einem der Kamine gewesen. Nun jedoch waren sie violett, eine unvergleichliche Farbe. In der Zeit, in der ich die Leute im Gastraum gemustert hatte, hatte sie sich wieder gefangen. Hatte sie zuvor zugleich traurig, erbost und frustriert gewirkt, schien sie sich jetzt zu amüsieren. Vielleicht über mich.
»Ihr fürchtet um meine Sicherheit?«
Ich sah sie an. »Ich weiß, dass Ihr eine Maestra seid. Ihr habt es lauthals verkündet, als Ihr den Raum betratet. Meine alten Ohren sind noch im Stande, Worte zu hören, wenn man sie nur laut genug proklamiert. Aber Ihr habt damit zugleich eine Herausforderung ausgesprochen. Manche Menschen sehen nur das Äußere. Und erliegen vielleicht der Verlockung, ohne sich über den Preis Gedanken zu machen. Und auch Ihr benötigt Euren Schlaf.«
»Worauf wollt Ihr hinaus?«
Ich seufzte. »Ich werde den Wirt anweisen, ein weiteres Bett in meinen Raum zu stellen.«
»Und bietet mir so galant Euren Schutz für die Nacht an?« Sie lachte. »Wärt Ihr ein anderer, würde ich Euch unlautere Absichten unterstellen.«
»Wenn Ihr unlautere Absichten wollt, dann wendet Euch an die Söldner.« Sie drehte sich in ihrem Sitz um. Die Unterhaltung der Sechsergruppe war leiser geworden, sie sprachen untereinander, aber immer wieder warfen sie Blicke auf die Schankmädchen, die mittlerweile vorsichtig waren, wenn sie an diesem Tisch bedienten. Diese Söldner, oder eher doch Briganten, erinnerten mich an ein Rudel Wölfe, welches sich überlegt, wie es am besten ein Reh aus der Herde löst.
Einer der Söldner, der Anführer, bemerkte den Blick der Maestra und musterte sie unverfroren; ein breites, gehässiges Lächeln entstand auf seinen Lippen und zeigte kräftige grauweiße Zähne wie die eines Raubtiers. Dieser Anblick war eher zu ertragen als das Lachen einiger seiner Kumpane, dort sah man auch den einen oder anderen geschwärzten Zahnstumpf. Zahnschmerzen führten nicht zu einem ruhigen Gemüt.
Sie reagierte nicht auf den Blick, ließ den ihren weiter über den Raum schweifen, vernahm wohl dasselbe wie ich und wandte sich wieder mir zu.
»Ich sehe, was Ihr meint. Aber ich sehe auch insgesamt elf Wachen.« Auch sie rechnete die Knechte des Gasthofs nicht hinzu.
Ich nickte. »Vielleicht ist der eine oder andere Gast ebenfalls bereit, mit kaltem Stahl sein Leben zu verteidigen. Also sagen wir, dass es vielleicht fünfzehn wehrhafte Personen gibt. Sollten unsere Freunde hier etwas planen, wären sie in der Unterzahl. Ist es das, was Ihr denkt?«
»So in etwa. Ich habe keine große Sorge. Ich bin gut ausgebildet in der Kunst des Schwertkampfs, und Steinherz wird mir beistehen.« Sie sah zu ihrem Schwert herüber. Die Rubine, die die Augen des Drachenkopfs bildeten, musterten mich spöttisch.
»Ein Bannschwert vermag viel. Aber es soll schon Gelegenheiten gegeben haben, bei denen auch ein Schwertgebundener verstarb, obwohl er die Klinge in seiner Hand hielt«, sagte ich trocken.
Es hieß, dass die Seelen derer, die ein solches Schwert vorher geführt hatten, in der Klinge ihre letzte Ruhe fanden und so den Fähigkeiten des Schwerts immer wieder neue hinzufügten.
»Gefällt Euch der Gedanke, Euch zu den anderen in der Klinge zu gesellen, wenn Eure Zeit gekommen ist?«, fragte ich sie.
»Nein. Aber es hat mich angenommen, und wäre Steinherz nicht gewesen, wäre meine Seele bereits verloren. Aber ich glaube nicht daran, dass die Seele selbst gebannt wird. Vielleicht das, was die Seele nicht mehr braucht, wenn sie die Hallen der Götter betritt: Wissen, Erfahrungen und anderes.«
Ich nickte. »Vielleicht ist es so. Ich stelle es mir jedenfalls nicht besonders angenehm vor, den Rest der Weltenzeit in ein Stück kalten Stahl gebannt zu verbringen.«
»Es muss nicht so kommen«, sagte sie mit einem Lächeln. »Bevor ich sterbe, muss ich es nur loslassen.«
»Ja, so sagt man«, entgegnete ich ihr. »Ich frage mich nur, ob dies auch möglich ist. Vielleicht, wenn man im Bett getötet wird, aber allzu oft sterben die Träger dieser Schwerter in ihren Stiefeln, mit dem Schwert in der Hand.«
»Ich habe vorerst nicht die Absicht zu sterben«, antwortete sie. Ihr Blick war bedeutungsschwer. Entweder weil sie eine Maestra war und die Meister der Magie oft ein unnatürlich langes Leben führten, oder weil sie auf ihre Abstammung anspielte. Sollte sie Elfenblut in sich tragen – wenn ich sie ansah, erschien mir das als wahrscheinlich –, dann zählte sie die Jahre wie ein Mensch die Wochen.
Vielleicht traf beides zu.
Jedenfalls sagte mir ihr Blick, dass sie wirklich nicht glaubte, sie könne sterben. Maestra oder Elfenblut, eine Spanne kalten Stahls durch das Herz durchtrennte jeden Lebensfaden. Eine bittere Lektion, die sie noch lernen musste.
»Wie dem auch sei, ich nehme Euer Angebot an.« Sie beugte sich etwas vor, und ich roch sie. Die Wolle des Umhangs, das Leder ihrer Weste, den Schnee, ihr Pferd und sie – und einen fernen Duft von Rosen. Parfüm. Wie lange war es her, dass ich mich in Gesellschaft bewegt hatte, die Parfüm verwendete? Ich wollte nicht daran denken.
Mein Blick ruhte auf ihrem Gesicht, der zarten, schimmernden Haut, den überraschend schwarzen Wimpern, den violetten Augen, die in einem Ton schimmerten, den ich nie zuvor gesehen hatte. Ihre Nase war scharf, aber doch fein gezeichnet; ich beobachtete fasziniert, wie ihre Nasenflügel bebten, folgte der Spur ihres Pulses an ihrem Hals und rief mich zur Ordnung. Ich dachte, ich wäre gegen die Versuchung durch die Weiblichkeit mittlerweile gefeit, aber sie hatte mich ergriffen.
Als sie mir ihre Geschichte erzählt hatte, überfiel mich eine ungeheuerliche Vermutung, und auch jetzt suchte ich in ihren Zügen nach einem Hinweis, aber dann schüttelte ich den Kopf.
»Was ist?«, fragte sie.
»Nichts. Ein dummer Gedanke. Sagt, wie kommt es, dass Ihr es seid, die auf diese gefährliche Mission geschickt wurde?«
»Niemand schickte mich«, informierte sie mich. »Ich bot meine Dienste freiwillig an. Die Königin hat nur wenige Getreue, deren Loyalität ihr und der Krone gegenüber ohne Zweifel ist. Gebunden an Steinherz, als Meister der Magie und ausgebildet in der Kunst des Kampfes, der Strategie und der Diplomatie, denke ich, dass ich ein geeigneter Bote ihrer Worte bin.«
»Ich nehme an, Ihr kennt die Königin gut?«, fragte ich, wider Willen neugierig. »Wie ist sie, die Königin von Illian?«
»Krank und ans Bett gefesselt, schon seit langem«, seufzte die Sera. Ihr Blick ruhte nun in der Ferne, sah vielleicht die alte Kronburg und die königliche Kammer darin. »Aber ihr Geist ist von bewundernswerter Schärfe und ihr Wille ungebrochen.« Sie legte die Hände um ihren Becher und drückte so fest zu, dass die Knöchel bleich hervorstanden. »Man sagt, das Volk liebt sie wegen ihrer Weisheit. Trüge man sie auf einer Bahre in die Schlacht, ein jeder würde ihr folgen. Sieht man sie, so ist man beeindruckt von der Willensstärke, die in ihren Augen lodert wie eine Flamme.«
»Also wurde ihre Verletzung nie geheilt?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist wohl so, dass eine Verletzung des Rückgrats auch mit Magie nur schwer heilbar ist. Ich bin in der Kunst der Heilung nicht besonders bewandert, es scheint aber so, als gäbe es eine Verbindung zwischen dem, was man in Händen und Beinen fühlt, und dem Kopf, wo der Verstand sitzt, der die Glieder lenkt. Diese Verbindung läuft durch das Rückgrat.«
Ich nickte. Das war mir bekannt. Ein Hieb dorthin, und ein Gegner stand selten wieder auf.
»Als sie damals als Prinzessin von den Zinnen stürzte, war es ein Wunder, dass sie überhaupt überlebte. Aber ihr Rückgrat brach und trennte dabei wohl jene Verbindung, einem Schwertstreich gleich.«
Ich konnte fast ihre Gedanken lesen. »Es war nicht minder heimtückisch. Konnte man den Täter jemals fassen?«
Sie funkelte mich an, dann holte sie tief Luft. Unwillkürlich folgten meine Augen der Bewegung ihrer Brüste, woraufhin ihr Gesichtsausdruck spöttisch wurde. Ich beeilte mich wegzuschauen.
»Nein. Der Täter wurde niemals gefunden. Fünf kommen infrage, das weiß sie, aber alle fünf sind über jeden Verdacht erhaben und zu wichtig, um einfach so einer Befragung unterzogen zu werden.«
»Kann nicht auch die Magie Wahrheit von Lüge unterscheiden?«, fragte ich unschuldig.
»Kann sie. Wenn gewisse Umstände gegeben sind.« Sie klang frustriert. »Meint Ihr nicht, dass wir auf diesen Gedanken nicht auch schon gekommen wären? Aber allein die Aufforderung, sich im Tempel des Boron einer Befragung durch einen Priester oder mich zu unterziehen, grenzt an eine Beleidigung.«
»Man sollte meinen, dass die vier, die unschuldig sind, einer solchen Befragung zustimmen würden, allein, um des Täters habhaft zu werden.«
»Sollte man meinen, ja.« Sie sah wieder in die Ferne, und ihr Gesicht verriet die Verachtung, die sie empfand. »Aber aus irgendwelchen Gründen scheinen sie es anders zu sehen. Vielleicht sind sie ja alle daran beteiligt, vielleicht war es eine Verschwörung. Vielleicht …«
»… war es auch jemand anders. Ein ungeschickter Küchenjunge oder ein betrunkener Soldat. Oder kann sich die Königin wieder erinnern?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Sie stand auf den Zinnen, in Gedanken versunken, als sie den Stoß von hinten spürte. Im Fallen sah sie einen roten Mantel. Dies schließt den Küchenjungen aus, aber kaum jemanden sonst. Ihr seid sicher, dass Ihr nicht Ser Roderic seid?«
Ich nickte. »Ziemlich sicher.« Mit dem Finger tippte ich auf das Zeichen der Dreieinigkeit, das ich zuvor in den Tisch gebrannt hatte. »Das sollte Beweis genug sein. Krieger können nicht zaubern.«
»Ich wüsste allerdings Möglichkeiten, das Zeichen auch ohne magische Fähigkeiten zu vollziehen, und andere damit in die Irre zu führen.« Sie hielt meinen Blick einen Moment lang fest, konnte aber in meinen Augen nichts entdecken. »Da wir wohl demnächst Zimmer und Bettlager teilen werden, bitte ich um Euren Namen, Ser.«
Ich lehnte mich zurück, die formale Art ihrer Frage erheiterte mich. »Nennt mich einfach Havald.«
»Ich kenne dieses Wort. Heißt es nicht der Vergessene?«
»Unter anderem. Das ist wohl die gebräuchlichste Bedeutung. Eine andere nennt mich verflucht.«
»Nun, seid Ihr es? Verflucht?«
»Manchmal meine ich es zu sein«, antwortete ich ihr. »Aber wenn ich ehrlich bin, denke ich, dass ich genauso verflucht bin wie ein jeder, dessen Schicksal Widrigkeiten in sich birgt. Oft hat man das Gefühl, für irgendetwas bestraft zu werden. Aber es ist kein Fluch, der auf einem lastet, sondern nur das Leben.« Ich lehnte mich zurück und starrte in die Ferne. »Wenn man ein gewisses Alter erreicht, kommen einem die Taten der Jugend oft sinnlos vor, erscheint es, als ob das Leben, das man führte, keinen Wert hatte. Vergessen trifft es wohl eher als verflucht.«
Sie sah etwas erstaunt aus. »Es war eigentlich keine ernst gemeinte Frage, und doch habt Ihr Euch die Antwort gut überlegt. Ich bräuchte nicht darüber nachzudenken.«
Ich lachte leise. »Ihr seid auch noch jung.«
»Woher wollt Ihr das wissen? Ich könnte älter sein als Ihr, mein Aussehen sagt nichts über die Zahl der Jahre, die ich trage.« Sie wirkte leicht pikiert und vielleicht auch etwas neugierig. Ich ertappte mich dabei, dass ich begann, ihre Gesellschaft zu genießen. Es war wirklich zu lange her, dass ich den Duft von Rosen gerochen hatte.
»Es ist nicht Euer Aussehen, Sera, es ist Eure Art, Euer Enthusiasmus, wie Ihr sprecht und dabei Euer Gesicht Eure Gedanken verrät.«
»Ich bin schon lange erwachsen.«
»Ja, das mag sein.« Ich sah es nur zu gut, selbst unter ihrem Umhang und dem Kettenmantel erahnte ich eine vollkommene Frau.
»Ihr seid erwachsen, ja, aber Ihr seid nicht alt. Wenn Ihr alt werdet, werdet Ihr wissen, was ich meine.«
»Muss ich jetzt mein Haupt vor der Weisheit des Alters beugen?«, fragte sie mich mit einem schelmischen Lächeln.
Ich schüttelte den Kopf. »Mitnichten, Sera. Weisheit kommt nicht von allein, nur weil man älter wird, man muss sie suchen. Ich befürchte, ich suchte eher das Gegenteil. Torheit kann ich in jedem Maße bieten, aber Weisheit findet Ihr bei einem anderen.« Ich trank noch einen Schluck Wein. »Nun kennt Ihr meinen Namen, Sera. Ich war zugegen und weiß, wie Ihr Euch vorgestellt habt. De Girancourt. Ein ungewöhnlicher Name, flamisch vielleicht?«
Sie nickte. »Ich bin im Herzogtum Flamen geboren, da habt Ihr Recht.«
»Nun, ich habe nicht die Absicht, Euch ständig mit Eurem vollen Titel anzusprechen. Gibt es einen Namen, der etwas weniger aufträgt? Es ist vielleicht nicht die beste Art, um Euch vor einer Gefahr zu warnen: Sera Maestra de Girancourt, ducken!«
»Wenn ich denn der Warnung bedarf. Nach Euren eigenen Worten seid Ihr alt und verbraucht, nach meinen bin ich jung und kampferprobt.« Sie lachte, als sie mein Gesicht sah. »Ihr seid so ernst, Havald. Mein Name ist Leandra. Nennt mich Lea, wenn Ihr wollt.«
»Leandra. Lea.« Ein schöner Name. Die Tapfere. Tapfer zu sein hatte oft mit der Unbill des Lebens oder mit Schmerzen zu tun. Ich wünschte ihr, dass sie nicht oft tapfer sein musste.
Mittlerweile war das Geräusch des Sturms etwas zurückgegangen, klang gedämpfter. Jeder hier im Gastraum wusste, was dies bedeutete. Ich nickte Lea zu und erhob mich, begab mich zum Wirt, um ihm mitzuteilen, dass er ein weiteres Bett in mein Zimmer bringen möge.
»Ich habe kein einzelnes Bett mehr frei«, sagte er mit einem ängstlichen Blick in Leas Richtung. »Es tut mir wirklich sehr Leid.«
Ich winkte ab. Ich hatte ja noch die Zeit, zu überlegen, ob ich in meinem Alter galant sein und ihr das Bett anbieten wollte oder ob sie ihre jungen Knochen auf den Boden betten musste. Eines war sicher, sollte ich auf dem Boden schlafen, wäre ich am nächsten Tag steif wie ein Türpfosten.
»Ich könnte vielleicht …«, unterbrach der Wirt meine Gedanken.
»Ja?«
»Ich könnte vielleicht mein Bett in Euren Raum bringen lassen. Meine Frau ist schon vor langer Zeit von mir gegangen, und meine Töchter …« Seine Stimme versagte, als er meinen Blick sah. An seinem Familienleben war ich nun wirklich nicht interessiert.
»Gut, das erscheint mir eine geeignete Lösung«, sagte ich dann. »Seht zu, dass es bald geschieht.«
»Ihr wollt Euch schon zur Ruhe begeben?« Diesmal lag sein ängstlicher Blick auf den Briganten. Einer von ihnen zog gerade eines der Schankmädchen auf seinen Schoß und befingerte es, während es verzweifelt versuchte zu entkommen. Als es ihr unter lautem Gegröle gelang, konnte man mehr Haut sehen, als ihr wohl lieb war.
Die meisten Schankmädchen waren einem Abenteuer mit einem Gast nicht abgeneigt. Der Klang von Silber oder gar Gold war bekannt dafür, die prüdesten Weiberherzen zu erwärmen. Selbst ungewaschen und verdreckt, wie diese Männer waren – eine Goldmünze wirkte wahrscheinlich Wunder.
Doch vielleicht verhielt es sich auch anders. Es gab eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den Mädchen und dem Wirt, und seine besorgten Augen sagten mir den Rest. »Eure Töchter?«
»Ja«, antwortete er leise. »Alle drei.«
Ich folgte seinem Blick und sah das Mädchen, wie es seine Kleider ordnete, mit hochrotem Kopf und, wie es mir schien, den Tränen nah.
»Sind sie züchtig?«
»Züchtig genug. Eine jede von ihnen hat schon einen Galan gefunden, aber wie nicht anders zu erwarten, waren es keine, die blieben. Aber sie sind nicht verdorben, und wenn sie ihre Gunst verschenken, ist es nicht gegen Gold oder Silber.«
So sicher wie er war ich mir da nicht, aber ich verstand, was er meinte. Ich hatte insgeheim die Hoffnung, dass die Banditen sich vielleicht mit den Mädchen entspannten und sogar ihre Pläne, so sie denn welche hatten, aufgaben. Nun wusste ich es besser. Die Mädchen würden nicht zur Ruhe beitragen, im Gegenteil.
Ich begab mich zur Tür des Gasthofs, eine solide Angelegenheit, auf der ganzen linken Seite von einem stabilen Lederband getragen und sauber in den Rahmen eingepasst. Im Mauerwerk konnte man die Spuren älterer Türangeln erkennen; vor langer Zeit war diese Tür wohl einmal zerschlagen worden. Umlaufende Lederfalze halfen gegen den kalten Zug an Wintertagen, aber selbst hier, nahe der Tür, verspürte ich keinen Zug, nur Kälte.
In Augenhöhe des Wirts war eine hölzerne Klappe in die Tür eingelassen; ich musste mich etwas bücken, als ich sie zur Seite schob, um nach draußen zu blicken.
Schnee war das, was ich sah, hochgetürmt bis über die Klappe. In der relativ kurzen Zeit, seitdem Leandra das Gasthaus betreten hatte, war das geschehen, was ich befürchtet hatte.
Wir waren tatsächlich tief eingeschneit.