10. Janos Dunkelhand
»Was macht Ihr da, alter Mann?«, rief eine Stimme von hinten. Ich ließ Rigurd, den Händler, los und schubste ihn in Richtung des Tisches. Eine seiner Wachen hatte sich erhoben. »Wagt es nicht, Hand an ihn zu legen.«
Ich gönnte dem Mann einen Blick. »Wenn Ihr ihm helfen wollt, packt eine Schaufel und legt vor dem Tor der Stallungen einen Weg frei, damit er klare Luft atmen und den Himmel sehen kann. Keinem von uns wird es schaden, die Gestirne zu erblicken.«
»Meister Rigurd?«, fragte die Wache.
»Palus, tut, was der Ser sagt. Ich will den Himmel sehen«, antwortete ihm der Händler. Er saß am Tisch, seine Hände waren zwar zu Fäusten geballt, aber ansonsten schien er wieder ruhig. Er warf einen unsicheren Blick zu Lea hinüber, die mit einem nicht sehr freundlichen Lächeln neben ihm Platz genommen hatte.
»Ihr habt es gehört, Palus«, sagte ich zur Wache. »Macht Euch nützlich.«
»Alter Mann, niemand hat Euch über uns erhoben«, sagte Palus.
»Junger Mann. Werdet so alt, wie ich es bin, bevor Ihr urteilt. Geht und nehmt eine Schaufel in die Hand. Bewegung ist gut für die Seele.«
Ich wandte mich an alle im Gastraum. Ich musste leise sprechen; versuchte ich lauter zu sein, würde mich die gebrochene Rippe schier umbringen.
»Allen von uns wird es gut tun, an die frische Luft zu kommen. Je mehr von uns graben, desto schneller wird dies geschehen.«
Der Anführer der Söldner stand auf und reckte sich. Er war vielleicht eine Handbreit kleiner als ich, aber er war massiv und kaum älter als dreißig.
»Kein schlechter Vorschlag, alter Mann. Trotzdem, er hat Recht. Wer hat Euch über uns alle erhoben?«
»Niemand. Aber wenn es ein guter Vorschlag ist, ist es dann nicht egal, aus wessen Mund er stammt? Hattet Ihr nicht Ähnliches vor?«
»Nicht ganz«, sagte er mit einem Seitenblick zu Sieglinde, den diese den Göttern sei Dank nicht mitbekam. »Aber, bei Soltars Höllen, es ist eine feine Idee.« Er wandte sich an seine Kumpane. »Los, setzt eure müden Knochen in Bewegung. Helft mir graben, ich will ebenfalls ein bisschen Freiheit spüren.«
Er lachte schallend, stemmte die Hände in die Hüften und sah sich um, wohl gewiss, dass alle Augen auf ihm ruhten. »Ich jedenfalls bin nicht zu feige, um nachzusehen, ob der Himmel nicht gestern auf uns herabfiel!«
Er warf mir einen merkwürdigen Blick zu, dann trat er den Stuhl unter einem seiner Freunde weg, woraufhin dieser fluchend aufsprang, es sich aber anders überlegte und seinem Anführer folgte. An der Tür zur Schmiede hielt der Anführer inne.
»Wie war Euer Name?«, rief er quer durch den Raum.
»Man nennt mich Havald.«
Er lachte. »Ich hätte gedacht, Ihr tragt einen Namen, den ich kenne. Nun, sei es, wie es sei. Vielleicht kennt Ihr meinen: Janos Dunkelhand.« Und damit zog er die Tür hinter sich zu, dennoch war sein Gelächter weiterhin zu hören.
Er hinterließ betretene Gesichter. Auch das Gesicht von Rigurd, dem Händler, war auf einmal fahl und blass.
Ohne dass ich es bemerkte, hatte sich Zokora ebenfalls an dem Tisch niedergelassen. Ich ließ mich langsam auf den Stuhl sinken. Sieglinde brachte uns vier Teeschalen und eine ganze Kanne, knickste höflich und verschwand wieder in Richtung Theke. Einige andere Gäste waren auch im Aufbruch begriffen; die Verlockung, wieder freien Himmel zu erblicken, war groß. Ein paar blieben zurück: der andere Händler und die Wachen sowie der Baron, der vorhin von den Gräueltaten der Dunkelelfen berichtet hatte.
Ich tauschte einen Blick mit Leandra und sogar Zokora, aber beide schüttelten den Kopf. Wir sahen den Händler an.
»Nun, Rigurd, sollte uns sein Name etwas sagen?«
Der Händler sah fassungslos aus. »Ihr habt wirklich nicht von ihm gehört?«
»Nein. Sonst würde er nicht fragen«, antwortete ihm Leandra. Sie blickte immer wieder prüfend zu mir herüber, als ich mich vorsichtig nur auf einer Seite an den Stuhl lehnte. Irgendetwas machte ich jedoch falsch, denn der stechende Schmerz ließ mich schwarze Flecken sehen.
»Janos Dunkelhand ist ein Wegelagerer, ein Bandit. Es heißt, mehr als hundert Mann folgen seinem Kommando. Man sagt auch, er habe sogar einmal eine Burg geschleift. Sein Zeichen ist die rechte Hand eines seiner Opfer. Er lässt sie stets, in Teer getränkt und angezündet, am Ort seiner Überfälle zurück.«
»Nette Geste«, sagte Leandra.
»Hat sie eine Bedeutung?«, fragte Zokora mit ihrer ruhigen Stimme. Es schwang etwas darin mit … Ich hatte eine solche Stimme schon einmal gehört, nicht ihre, es war die Stimme eines Mannes, aber dieser Unterton kam mir bekannt vor. Vielleicht fiel es mir wieder ein.
»Nein. Es ist eine Warnung und eine Herausforderung.«
»Dumm«, gab Zokora ihre Meinung kund. Ihr Blick lag auf mir und Leandra. Aber hauptsächlich auf Lea.
Ich besann mich auf den Grund, weshalb ich den Händler so freundlich an diesen Tisch gebeten hatte. »Rigurd. Ihr seid vielleicht zwei Dutzend und acht.«
Er nickte. »Ja, in etwa.«
»Ich denke, Ihr seid viel herumgekommen. Habt Ihr noch nie davon gehört, dass Menschen, sperrt man sie zusammen ein, verrückt werden? Dass die Gemüter sich erregen, dass Ärger leichter von einem Besitz ergreift?«
Er nickte bestätigend.
»Gut. Eure Worte haben beinahe ein Blutbad provoziert. Ihr erwähntet einen Werwolf. Wie kamt Ihr darauf?«
»Jeder weiß, dass ein Werwolf den Jungen gefressen hat. Nichts sonst frisst einen Menschen so gründlich auf, dass keine Spuren zurückbleiben!«
»Keine Spuren?«
»Ich habe mir den Ort angesehen. Aufgewühlte Erde, sonst nichts. Spurlos verschwunden!«
Ich schloss die Augen und massierte mir die Schläfen. »Dass Ihr keine Leiche gesehen habt, mein guter Mann, liegt daran, dass wir sie zur Seite geschafft und mit einer Segnung der Götter vorläufig zur Ruhe gebettet haben. Vielleicht solltet Ihr Eurer Fakten sicherer sein, bevor Ihr etwas sagt.«
»Es gab eine Leiche?«
»Ja.«
»Aber … Dann gibt es keinen Werwolf?« Er wirkte sichtlich erleichtert. Ich wechselte einen Blick mit Leandra. Sie nickte leicht.
»Das heißt nicht, dass es keinen Werwolf gibt. Nur wird sie es nicht sein.« Ich deutete mit dem Kinn auf Zokora.
»Warum nicht?« Er schien sich daran zu erinnern, dass er die Dunkelelfe nicht mochte, schließlich berichteten die Legenden nur von grausamen Wesen.
»Wisst Ihr, welcher Gott das Volk der Dunkelelfen führt?«
»Ja, natürlich. Omagor, der Gott der tiefen Dunkelheit. Jedes Kind weiß das.«
»Ja. Selbstverständlich. Jedes Kind weiß auch, dass Omagor ein blutrünstiger Gott ist.«
Er nickte eifrig.
»Und Solante?«
Er zuckte die Achseln. »Nie gehört.«
»Aber ich«, warf Leandra ein. »Sie nannte Solante die dunkle Schwester Astartes. In der Theologie nennt man sie anders. Sie selbst trägt den Namen Solante, wenn sie die Huldigungen der dunklen Elfen entgegennimmt …«
»Zokora ist in gewissem Sinn ein Paladin Astartes«, beendete ich Leandras Satz.
Der Händler blickte überrascht auf. »Möge mir die Göttin verzeihen, ist das wahr?« Er richtete seine Frage nun direkt an Zokora.
Diese legte den Kopf zur Seite. Ich glaubte mich zu erinnern, irgendwo gehört zu haben, dass diese Geste dem menschlichen Schulterzucken gleichkam. »Ich weiß nicht, was ein Paladin ist.«
»Ein Krieger seines Gottes, der die Aufgaben, die ihm sein Gott gab, gewissenhaft ausführt, das Wort des Gottes verkündet und bereit ist, das Schwert zu erheben, um seinen Glauben zu verteidigen«, erklärte Lea.
»Dann passt dies zu großen Teilen auf mich.«
Jetzt wusste ich auch, woher ich diesen Unterton in der Stimme kannte.
»Ihr verwendet Magie, um mit uns zu sprechen, nicht wahr?«, fragte ich die Dunkelelfe.
»Ja. Die Zunge der Vielfalt, eine Gnade meiner Göttin.« »Kannst du es sehen?«, fragte sie mich dann.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nur hören.« Leandra und sie warfen mir einen überraschten Blick zu, den ich ignorierte.
»Meister Rigurd. Wir sind hier eingeschlossen. Vielleicht vierzig Fremde, die sich nicht kennen. Ich habe noch nichts von diesem Janos gehört, ich bin von weit her. Genauso weit wie Ihr, mein Freund. Auch meine Heimat ist das Königreich Illian, genau wie es Ihres ist.« Ich wies mit meiner Teetasse auf Leandra. »Wir sind Landsleute. Vielleicht habt Ihr einmal in einem ihrer Dörfer oder Städte Eure Waren verkauft. Wir sollten zusammenhalten und uns nicht aufstacheln, Menschen zu erschlagen, nur weil sie anders sind.«
»Ich besitze nur wenige Liegenschaften in Illian«, musste mich Leandra korrigieren. Zeitgleich fand es Zokora wichtig, etwas anderes klarzustellen: »Ich bin kein Mensch.«
Ich seufzte. Ich sehnte mich zurück nach einer richtigen Schlacht. Da wusste man zwar auch nicht immer, wo vorne und hinten war, aber man hatte eine Ahnung, was passieren würde. Das Ganze war wesentlich einfacher, nicht so verworren – man schlug einem den Schädel ein, und das war’s. Dies hier erforderte weit mehr Geschick. Seit wann war es mir gegeben, zu schlichten und Streit zu verhindern? Es konnte mir doch egal sein. Oder?
Ich wandte mich wieder an den Händler. »Dieser Janos hat soeben nichts anders getan, als eine Kriegserklärung auszusprechen. Er weiß so gut wie ich, dass der Sturm nicht vorbei ist.«
»Aber er hat aufgehört.«
»Ich werde Euch gleich etwas zeigen, Meister Rigurd. Aber zuerst solltet Ihr darüber nachdenken, ob es nicht mehr Sinn macht, wenn wir zusammenhalten, anstatt uns gegenseitig zu zerfleischen. Janos zumindest lauert nur auf eine Uneinigkeit.«
»Da habt Ihr Recht, Ser Havald … dieser Sturm … er macht mich verrückt. Wahrscheinlich hat mich der Wetterumschwung ruiniert. Ein solcher Gedanke ist nicht leicht zu ertragen und lastet auf einem.«
»Das ist wahrlich zu bedauern, Ihr habt sicherlich viel Arbeit, Zeit und Gold investiert, um diesen Wagen zu beladen. Aber sagt, Ser, seid Ihr lieber ruiniert oder verstorben?«
»So gestellt ist die Frage einfach zu beantworten.« Er sah mit einem schiefen Lächeln zu mir hoch. »Ser, ich bitte Euch um Verzeihung, dass ich Euch gestoßen habe.« Er sah meinen zweifelnden Blick. »Ich meine es ernst. Ich bedauere es sehr. Auch meinen Ausbruch ihr gegenüber. Wahrscheinlich übertreiben die Legenden.«
»Tun sie nicht«, warf Zokora ein. Ich hätte sie schütteln können, aber sie war noch nicht fertig.
»Sie sagen jedoch nicht alles. Mein Volk und euer Volk haben miteinander wenig zu tun. Ich war dabei, als jene Stadt vernichtet wurde. Die Menschen hatten einen heiligen Frieden gebrochen, plünderten ein Königsgrab und wollten uns die Übeltäter nicht herausgeben. Dies ist nun dreihundert Jahre her. Eine Stadt in dreihundert Jahren, errichtet auf unserem eigenen Land, ohne die Erlaubnis unserer Herrscher, ohne den Segen unserer Priesterinnen. Wie viele Städte habt ihr Menschen selbst seitdem untereinander geschleift?«
»Zu viele«, bestätigte Leandra zerknirscht.
»Habt ihr die Menschen wirklich versklavt?«, wollte der Händler wissen. Zokora legte den Kopf wieder zur Seite. »Warum sollten wir nicht? Ihr macht das doch auch. Menschen sind als Sklaven gut geeignet. Sie vermehren sich schnell, wann und wo immer sie können, sind gelehrig und folgsam. Ich habe zwei Liebhaber, die dieser Zucht entstammen.«
Ich seufzte, laut und vernehmlich, während der Händler sie noch immer schockiert ansah. »Das ist barbarisch«, sagte er.
»Sklaverei ist auch unter Menschen üblich«, sagte Leandra. »Das Imperium von Thalak nimmt unsere Frauen als Sklaven. Genauso weibliche Kinder und Babys. Alles, was männlich ist, wird getötet. So geschehen zuletzt in Kelar.«
»Kelar ist gefallen? Wie ist das möglich?«, fragte der Händler überrascht und zugleich erschrocken. »Ich dachte, die Stadt wäre uneinnehmbar!«
»Dunkle Magie. Es heißt, der Imperator selbst habe seine dunklen Mächte auf die Stadt gelenkt«, erklärte Lea.
Ich erhob mich vorsichtig. »Ich denke, die anderen haben nun genug gegraben. Ich wollte Euch etwas zeigen. Kommt, wir sollten uns den Anblick des Himmels ebenfalls gönnen.«
»Nur noch eines.« Der Händler wandte sich an die Dunkelelfe. »Sagt, warum seid Ihr hierher gekommen?«
»Ich wollte nach Coldenstatt. Ich habe Handelswaren. Wir finden oft solche Steine, und manches, was die Menschen so erfinden, ist für uns von Nutzen.« Bevor ich sie aufhalten konnte, hatte sie ihre Hand in ihrem Beutel versenkt und präsentierte unserem Händler nun ein gutes Dutzend grauer Steine. Rigurd blieb wie vom Blitz getroffen stehen und starrte fassungslos auf ihre Hand.
»Das sind Rohdiamanten«, hauchte er.
Sie legte den Kopf zur Seite. »Wie gesagt, man nimmt die Steine dort gerne. Wir verstehen zwar nicht, warum, aber wenn Menschen Werkzeuge und guten Stahl gegen Steine tauschen wollen, sollen sie es tun.« Sie steckte die Steine wieder ein. »Allerdings dachte ich nicht, dass ich hier enden würde.«
»Es ist immer ein Risiko, den Pass um diese Jahreszeit zu bereisen«, sagte Eberhard, der Wirt, der nun zu uns trat und die Teeschalen sowie die Kanne vom Tisch abräumte. »Auch wenn es früh ist für den Schnee.«
»Vielleicht. Der Pass hätte frei sein sollen. Aber als ich spürte, wie das Wetter versammelt wurde, beeilte ich mich, hierher zu kommen. Ich mag die Kälte, aber ich mag es nicht zu erfrieren.«
Leandra drehte sich langsam zu ihr um. »Habt Ihr Euch soeben versprochen, Sera?«, fragte sie leise. Ich blinzelte. Irgendetwas war mir entgangen. Im Alter sollte man auch die Geistesschärfe verlieren, hieß es …
»Nein. Die Zunge der Vielfalt ist perfekt, sie ist von meiner Göttin gegeben, du hast das gehört, was ich sagte.«
»Das meinte ich nicht«, winkte Leandra ab. »Ihr spracht davon, dass das Wetter versammelt wurde. Nicht dass es sich ansammelte. Ist es das Werk von jemandem?«
Die Dunkelelfe sah Lea überrascht an. »Ich dachte, Maestra hieße, dass du in der Kunst der Magie unterrichtet wurdest? Ich sehe außerdem, dass in Teilen das Blut unserer Cousins in dir fließt. Sie mögen zwar dekadent sein, doch die Magie fühlen sie dennoch. Hast du es nicht gespürt?«
»Was?«
»Der Sturm. Er ist nicht natürlich.«
»Seid Ihr dessen sicher?«, fragte ich. Ich konnte mir das nicht vorstellen. Niemand konnte sich das Wetter untertan machen.
»Ja. Der Sturm wurde nicht komplett erzeugt, die Magie … wie soll ich sagen … wertete ihn nur auf. Ich denke, es war ein Fehler, hier Zuflucht zu suchen.«
»Ich werde mich zurückhalten«, versprach Rigurd. »Schließlich habe ich erfahren, dass wir so etwas wie Kollegen sind. Ihr handelt mit Waren, ich handle, vielleicht …«
Sie ignorierte ihn und sah stattdessen Lea an.
»Alles Unheil konzentriert sich hier.«