11. Das Auge des Sturms
Das große Tor des Stalls lief in Rollen auf einer eisernen Schiene über der Toröffnung. Es war unten nicht verankert, sondern pendelte in dieser Schiene. Man hob es an und schob es zur Seite.
Es gab den Blick frei auf eine blau schimmernde Wand. Der Schnee war vom Dach des Stalls abgerutscht und staute sich nun bis zur Dachkante auf. Die Wärme aus dem Stall ließ den Schnee von innen gefrieren, so dass sich Bögen aus Eis und Schnee vor uns spannten und eine kalte, aber verräterisch schöne Wand bildeten.
In diese hatte man ein Loch geschlagen. Die anderen hatten bereits, von diesem Loch ausgehend, einen Graben ausgehoben, der im rechten Winkel vom Stall weg in Richtung Brunnenhaus führte, das nur als ein Hügel im weißen Schnee zu erkennen war. Weit ging der Graben nicht, nur wenige Meter, aber genug, dass man unter dem Stalldach hervortreten und nach oben schauen konnte.
Als wir im Stall ankamen, waren nur zwei Personen im Graben, um sich den Himmel anzusehen, Janos, der Bandit, und Sternheim. Die beiden unterhielten sich dort, als wären sie sich bestens bekannt.
Die anderen, rotwangig und mit Frost in Haar, Bart und Wimpern, hatten sich vom Loch in der Eiswand zurückgezogen, weitere hielten sich in der Nähe der Tiere auf.
»Es ist wunderschön«, sagte Leandra leise und betrachtete die Wand aus gebogenem Eis. Ich gab ihr Recht, auch wenn es mir ironisch schien, dass das, was uns umbringen konnte, derart ästhetisch und erhaben sein sollte. Die Hand der Götter war in diesen glitzernden Bögen zu erkennen.
»Kommt«, sagte ich zu dem Händler und ging voran in den Graben. Der Himmel über uns war von tiefstem Blau. Wie hingehängt für uns, wirkten die beiden Monde, zwei fahle Sicheln, die ich selten in solcher Klarheit erblickt hatte.
Die Kälte erschien wie eine unbarmherzige Hand; in wenigen Sekunden hatte sie mich fest im Griff, ließ Wimpern und Haar in feinem grauen Frost erstarren. Nach drei Schritten spannte die Haut meines Gesichts. Janos und Sternheim musterten uns wortlos. Ich ignorierte sie. Ich hatte in meiner Erinnerung Recht behalten. Blickte man von hier nach Norden, konnte man die weißen Berge sehen – wie ein tiefes V ruhte der Pass zwischen den hohen Spitzen.
»Seht«, sagte ich zu Rigurd. Nicht nur er, sondern auch Janos und Sternheim folgten meinem deutenden Finger.
Das V war von einer grauen Wand erfüllt. Dieses Grau wuchs über die Spitzen der Berge empor, wo sich waagerechte dunklere Schlieren abzeichneten. Ich drehte mich langsam um die eigene Achse, mein Finger beschrieb einen Kreis und deutete dabei immer auf die gleiche graue Wand. Sie hatte uns umzingelt.
»Wir befinden uns im Auge des Sturms«, teilte ich dem Händler mit, der fassungslos meinem Finger folgte.
»Man sagt, dass so die Götter besser sehen können, was der Sturm anrichtet«, sagte Sternheim trocken.
»Aber die Wand bewegt sich nicht. Was geschieht hier?«, fragte der Händler leise.
»Was hier geschieht, weiß ich auch nicht«, antwortete ich ihm. Ich sah auf zu dem klaren blauen Himmel, in dem die Sterne funkelten, als könne man hingreifen und sie herunterholen.
»Spürt Ihr diese Kälte?«
»Das lässt sich ja wohl kaum vermeiden.«
»Schon bemerkt, dass in einer sternenklaren Nacht die Kälte stärker wird?« Er nickte langsam. Sowohl Janos als auch Sternheim sahen mich fasziniert an.
»Solange der Sturm sich nicht bewegt, wird die Kälte stärker. Er saugt die Wärme und die Feuchtigkeit aus seinem Inneren. Es nährt ihn. Es wird kälter und kälter werden, vielleicht so kalt, dass die Luft selbst gefriert.«
»Ist das möglich?« Es war überraschenderweise Janos, der sich an mich richtete.
»Fragt die Maestra. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eines: Niemals in meinen Jahren habe ich einen solchen Sturm gesehen.« Ich wandte mich an den Räuberhauptmann und die Wache. »Hat er sich bewegt, seitdem ihr mit dem Graben angefangen habt?«
Sie sahen sich an, schauten auf zur grauen Mauer, wieder zurück zu mir und schüttelten den Kopf.
Ich hob meine Hand und hauchte sie an, sah zu, wie sich der feine Frost auf meiner Haut niederschlug. Ich schloss sie wieder, sie fühlte sich bereits steif an. Kein Windhauch ging, es war absolut still. Überhaupt war es ungewohnt ruhig, selbst die Tiere in der Stallung gaben keinen Laut von sich.
»Wir werden schon noch erfahren, warum Soltar für die schlimmsten Mörder und Verräter eine Hölle aus Eis bereithält«, sagte ich. Ich warf einen Blick in Janos’ Richtung. Dieser schaute ausdruckslos zurück.
»Woher wollt Ihr das alles wissen?«, fragte mich schließlich Sternheim.
»Manches hat man schon mal erlebt und kommt so in den Genuss, bereits vorher zu wissen, was einen später umbringen wird.«
»Kein Sturm wird mich töten«, zischte Janos. Seine Augen glitzerten herausfordernd unter den vereisten Augenbrauen.
»Ich habe auch nicht die Absicht zu sterben.« Ich wusste nicht, warum ich ihm das sagte. »Aber man weiß nie, was geschehen wird.« Damit begab ich mich wieder durch den Graben zurück zum Stall. Vorhin waren mir die Stallungen noch kühl erschienen, jetzt aber fühlten sie sich an wie ein offener Kamin, dem ich mich näherte. Die Haut im Gesicht und auf den Händen fing an zu kribbeln und zu jucken.
Rigurd hob seine Hand, um sich den Frost aus dem Haar zu bürsten, doch ich hielt ihn auf. »Wartet damit. Fahrt Ihr nun durch Eure Haare, könnte es sein, dass sie brechen.«
»Das glaube ich nicht«, sagte er. Er tat es und behielt Recht. »Also wisst Ihr doch nicht alles.«
»Ich habe es auch nie behauptet. Ich hörte nur, dass so etwas geschehen kann. Vielleicht versucht Ihr es morgen früh noch einmal. Es wird noch deutlich kälter werden.«
Plötzlich musste ich husten, die kalte Luft hatte auch meine Kehle angegriffen. Aber meine Kehle erschien mir mein geringstes Problem, denn als ich hustete und mir dabei die Hand vor den Mund hielt, hatte ich das Gefühl, dass mich tausend glühende Spieße durchbohrten. Eine Säule bot mir Halt, vielleicht wäre ich ohne sie zusammengebrochen.
Ich hob meine Hand und sah sie an; sie war rot gesprenkelt. Ich ließ sie wieder sinken, hoffte, dass es niemand sonst gesehen hatte, und lehnte mich gegen den Pfosten, als ob ich nachdenken würde, die Arme vor mir verschränkt.
Viele Dinge hörte man so im Leben. Unter anderem auch, dass es sein konnte, dass eine Rippe einem die Lunge durchbohrte, wenn sie ungünstig brach. Dann, so hatte ich gehört, floss das Blut in die Lunge und der Unglückliche ertrank in seinem eigenen Blut.
Heilung gab es keine.
So unspektakulär also. Kein Kampf, jedenfalls keinen, den man zählen sollte. Kein heldenhafter letzter Einsatz, keine große Tat. Nur ein Sturz, wie er jedem passieren konnte. Ich hob meinen Blick zum Stalldach hinauf. Wer sagte, dass die Götter keinen Sinn für Ironie hatten? Wie lange noch? Stunden? Die nächste Nacht? Der Morgen? Hier und jetzt? Sollte ich mich hinlegen oder sollte ich stehen? Sollte ich versuchen auf mein Zimmer zu gelangen?
Wie starb es sich, wenn man langsam im eigenen Blut ertrank? Hatte man dabei Schmerzen oder war es ein leiser Tod? Als ich davon hörte, dass so etwas passieren konnte, hatte ich vergessen zu fragen.
»Was ist?«, fragte Lea mich leise. Sie war neben mich getreten und beobachtete mich besorgt. Offenbar war ich nicht so gut im Schauspielern wie ich dachte.
Ich überlegte kurz und entschloss mich, ehrlich zu sein.
»Beim Sturz habe ich mir eine Rippe gebrochen. Sie hat sich wohl in meine Lunge gebohrt. Ich verblute im Inneren.«
»Oh.«
Ich sah zu ihr hinunter. Nur ein wenig, sie war zwei Handbreit kleiner als ich, eine große Frau, Leandra. »Achtet auf Euch, ja?«
»Vielleicht täuscht Ihr Euch ja«, sagte sie hoffnungsvoll. Ich hob wortlos meine Hand und zeigte ihr das Blut.
»So etwas habe ich schon öfter gesehen. Vielleicht seid Ihr nur krank …« Ja, richtig. Alle Krankheiten, von denen ich gehört hatte, bei denen man Blut hustete, waren nicht minder tödlich, vor allem im Winter. Aber nein, krank war ich nicht. Ich war schon lange nicht mehr krank gewesen. Sehr lange.
»Nein, es ist die Rippe. Ich spüre es.« Ich legte meine Hand an die Stelle. »Hier.«
»Wie fühlt es sich an?«
»Ein leichtes Brennen, nicht mehr. Die Rippe selbst schmerzt deutlicher.«
Sie legte den Kopf zur Seite und sah mich aus ihren violetten Augen an. Wieder konnte ich ihren Ausdruck nicht deuten. »Ihr nehmt es recht gelassen. Vorhin noch wolltet Ihr leben«, sagte sie dann.
Ich zuckte die Achseln, ein Fehler, wie mir meine Seite mitteilte. Ich wartete, bis ich wieder Luft bekam. »Es ist wohl Schicksal. Ich habe schon mal einen Menschen so sterben sehen. Ich glaube, ich bleibe hier stehen und warte, bis die Kälte mich mitnimmt. Das sollte ein angenehmerer Tod sein, als mich zu Tode zu husten. Es heißt, Erfrieren wäre, als schliefe man ein.«
»Ich dachte, Ihr wärt bereit zu kämpfen. Wollt Ihr einfach aufgeben? Euch hier hinstellen und auf den Tod warten? Ihr könntet Euch immer noch täuschen.«
»Ja«, sagte ich. Irgendwie war ich erleichtert. So hatte das Schicksal mir die Entscheidung doch abgenommen. Hätte ich nicht solche Schmerzen verspürt, hätte ich darüber gelacht.
»Gebt nicht einfach auf.« Sie war näher herangetreten, so nahe, dass sich unsere Lippen beinahe berührten. Ich spürte ihren Atem auf meinem Gesicht.
»Gerne würde ich Euch den Gefallen tun, Sera. Verratet mir nur, was ich machen soll.«
»Vielleicht kann man die Rippe richten, sie herausziehen …«
Ungläubig starrte ich sie an. »Ich weiß nicht, ob man ein Loch in der Lunge nähen kann. Ich weiß auch nicht so genau, wie eine Lunge aussieht. Wie ein Schwamm, glaube ich, der sich voll saugen wird …«
»Vielleicht kann man das Blut ablassen«, sagte sie, aber ihre Stimme klang zweifelnd.
»Wie bei einem Fass? Wollt Ihr mir einen Spundhahn setzen?«
»Wovon redet Ihr?« Es war Rigurd, der Händler. Leandra erklärte es ihm in kurzen Worten und einem Tonfall, der ihn bleich werden ließ. Es war ziemlich klar, wen sie dafür verantwortlich machte.
»Oh«, sagte er dann.
Das hörte ich nun zum zweiten Mal. Ich starb und der andere brachte lediglich ein Oh hervor. Ich war aus irgendeinem Grund erheitert. Als ob mein eigener Tod für mich einen Witz verborgen hielt, den nur ich kannte. In gewissem Sinn war es auch so. Er brachte mich um und sagte einfach nur Oh. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass es schadet, ich hätte wirklich laut gelacht.
»Wie könnt Ihr nur dastehen und so etwas sagen? Als ob Ihr über das Essen reden würdet!«, sprach Leandra, ihr Ton fast schon erbost. Hört auf, dachte ich, sonst muss ich wirklich noch losprusten. Auch früher schon war ich gestürzt, aber da hatte ich auch noch Knochen gehabt, die nicht so brüchig waren.
»Was soll ich sonst tun, Maestra? Habt Ihr einen Vorschlag, ich folge ihm gerne.«
»Gilt das auch für mich?«, fragte Zokora.
»Sicherlich.« Ich hätte eine Verbeugung gemacht, sah aber davon ab. Ich hatte die seltsame Vorstellung, dass, senkte ich meinen Kopf, ich auslaufen würde wie eine alte, verbeulte Kanne.
»Ich weiß nicht, wie die helle Schwester es handhabt, aber im Dienst von Solante frage ich dich, ob du etwas besitzt, was du meiner Göttin geben kannst, etwas, was von Wert für dich ist, um dich zu heilen.«
»Heilen?«, fragte Leandra. »Durch Magie?«
Zokora warf ihr einen mitleidigen Blick zu. »Nein. Durch die Hand meiner Göttin.«
»Ihr seid im Stande, so etwas zu heilen?«, fragte ich. Zokora sah mich an. »Genau das sagte ich. Hörst du schlecht? Das kann ich nämlich nicht behandeln.«
»Ich habe die Worte vernommen, aber ich bin überrascht.«
»Ob du überrascht bist oder nicht, interessiert mich wenig. Du bist ein Mensch, Menschen wissen nicht viel. Also, besitzt du etwas von Wert, was du meiner Göttin geben kannst? Wärst du jünger, könntest du ihr vielleicht fünf Jahre Arbeit geben. Oder … vielleicht dein Pferd?«
Irgendwie passte es mir nicht, ihr Zeus zu verkaufen. Es hieß, die dunklen Elfen lebten in Höhlen unter der Erde. Zeus würde sich da nicht wohl fühlen.
»Nein. Ich besitze sonst nicht viel. Wenn ich alles verkaufte, was ich besitze, vor allem mein treues Reittier, käme ich auf vielleicht zwanzig Goldstücke. Aber ich weiß nicht, ob jemand bereit wäre, mein Pferd zu erwerben.«
»Gold zählt nicht viel, es mag vielleicht von Wert sein, aber nicht als Ausgleich für eine Person. Keine Persönlichkeit ist damit verbunden, die die Spende wertvoll machen würde. Was ist mit diesem Packen auf deiner Schulter?«
»Nein, auch das nicht.« Ich sah Leandra an. »Sofern es möglich ist, möchte ich, dass dies hier ungeöffnet mit mir begraben wird. Markiert mein Grab nicht.«
»Zurzeit sieht es eher so aus, als ob ich Euch zu dem Stallburschen in die Kiste legen müsste«, antwortete sie trocken. Sie hatte sich wieder gefangen, ihr Blick schweifte zwischen mir und der Dunkelelfe hin und her.
»Aber ich werde versuchen, Euren Wünschen zu entsprechen.«
Ich wandte mich an Zokora. »Ihr seht, mein Leben ist nicht wertvoll. Es wäre auch so bald beendet gewesen.«
»Probleme, alter Mann?«, fragte Janos, der von draußen hereinkam. Ich wusste nicht, wie er es so lange dort ausgehalten hatte, er war über und über mit Frost bedeckt.
»Nicht der Rede wert«, meinte ich.
Er nickte mir zu. »Dann ist es ja gut. Ich gehe jetzt einen trinken. Es ist etwas kühl dort draußen.«
Damit ging er, dicht gefolgt von Sternheim, der sich bewegte, als wäre er doppelt so alt wie ich. Ich sah sein Gesicht, die weiße Haut … und nickte für mich. Bald würde er wissen, dass er einen hohen Preis für seine Sturheit bezahlte. Ich erkannte Frostbrand, wenn ich ihn sah.
»Es tut mir Leid«, sagte Rigurd zerknirscht. Er wandte sich an Zokora. »Es war meine Schuld, wie Ihr wisst. Kann ich für ihn bezahlen?«
Zokora sah ihn an. »Du magst mich nicht, hältst mich für ein Ungeheuer. Soll ich deine Worte jetzt ernster nehmen als vorhin?«
Er nickte. »Es ist eine Ehrenschuld.«
»Ihr Menschen und eure Ehre. Sag, Händler, hast du eine Frau?« Vorsichtig nickte er.
»Kinder?« Wieder nickte er.
»Gut. Dann will ich ein Kind von dir.«
Erschrocken wich der Händler zurück. »Niemals! Eher sterbe ich!«
Zokora sah ihn überrascht an. Lea fing an zu lachen.
»Ich dachte, ihr Menschen vögelt gerne? Meine Liebhaber sagen, ich wäre gut im Bettsport.«
»Ach, das …« Der Händler blinzelte ungläubig.
»Menschen sind fruchtbarer, als wir es sind. Meine Liebhaber sind schon zu lange bei uns, und nach zu langer Zeit in den Höhlen können auch sie nicht mehr zeugen. Gib mir eine Nacht, diese Nacht. Damit sei deine Schuld dann beglichen.«
»Was wird in dieser Nacht passieren?«, fragte er zögerlich. Leandra und ich verfolgten das Gespräch zwischen der Dunkelelfe und dem Händler. Es war unterhaltender als manches Schauspiel.
Zokora legte den Kopf auf die Seite. »Du wirst mich besteigen. Oder ich dich …«
»Das meinte ich nicht.« Der Händler klang gleichzeitig nervös, verlegen und verängstigt. »Ich meine … wird es Blut geben?«
Zokoras Augen weiteten sich, dann lachte sie und sah zum ersten Mal wirklich menschlich aus. »Du meinst, ob ich dich fesseln, mit Klingen, Klauen und Zähnen traktieren und dich hinterher gar braten und in kleinen Stücken auffressen werde? Du musst mir mehr von diesen Geschichten erzählen, die du über uns gehört hast.« Sie warf Leandra und mir einen Blick zu, ich könnte schwören, dass er schelmisch war. »Ich denke, es wird nicht anders sein als zwischen Menschen auch. Es ist, wie soll ich sagen, die gleiche Weise.« Sie trat an den Händler heran und ließ einen behandschuhten Finger über seine noch von der Kälte gerötete Wange gleiten. »Nur …«, sagte sie mit einem Lächeln, das eine ganz besondere Qualität in sich barg. »Nur vielleicht etwas … wilder.«
»Oh«, sagte er.
Zokora trat an mich heran, griff in ihren Beutel und nahm etwas heraus, das aussah wie eine Bernsteinkugel.
»Mund auf.« Ich öffnete den Mund.
»Schlucken.« Ich schluckte.
Ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus, und etwas knirschte in mir, ein dumpfer Druck an meiner Seite ließ nach.
»Das war es«, sagte sie.
»Das war es?«, fragte ich zweifelnd. Ich hatte schon viel gesehen oder erlebt, noch mehr auf Basaren und in Gasthäusern gehört, aber das hier …
»Auch eure Maestros sind in der Lage, heilende Tränke zu brauen«, sagte sie dann.
Lea nickte. »In Laboren und mit langen Ritualen, ja. Ich kann es nicht, nicht hier, nicht aus dem Stegreif.«
»Nun, so in etwa ist es bei uns auch. Nur ist es kein Trank, sondern eine Traube. Eine Weintraube.«
»Ortenthal?«
»Die gleiche Rebe. Als Grundlage.« Sie musterte mich. »Fühlst du dich schon besser?«
Ich verharrte in meiner Haltung, aber ich nickte. »Ja. Ich danke Euch. Ich denke, die Geschichten über Euch sind wirklich übertrieben. Ihr kennt doch Gnade. Etwas, das man Eurem Volk immer absprechen will.«
Sie lächelte. »Ich weiß nicht, ob das so ist. Ich lernte hundert Jahre die Kunst der Heilung. Und doppelt so lange lernte ich die Kunst des Folterns. Frevelt gegen meine Göttin, und Ihr werdet wissen, dass manche Geschichten wahr sein können. Außerdem war es keine Gnade. Ich vermute, es wird mir nutzen, wenn du lebst.«
»Egoismus?«, fragte Leandra mit einem Lächeln.
»Nichts anderes als das«, bestätigte die Dunkelelfe mit einem dünnen Lächeln. Sie wandte sich an den Händler, der regungslos dastand und sie anstarrte. »Rigurd heißt du, nicht wahr? Heute Nacht.«
»Aber …«
»Wenn du Angst hast, kannst du deine Wachen mitbringen.«
»Das wird nicht nötig sein«, stammelte er. Sie nickte und ging wortlos davon. Er sah ihr nach, dann zu uns, um ihr dann ebenfalls zu folgen.
»Interessante Frau«, sagte Lea und sah mich an. »Euch geht es wirklich besser?«
»Ja.« Ich löste mich von der Säule und holte vorsichtig tief Luft. Es schmerzte nicht. »Müsstet Ihr sie nicht hassen, weil sie eine Dunkelelfe ist? Der Zwist zwischen Elfen und Dunkelelfen ist legendär.«
Sie machte eine gleichgültige Geste. »Vielleicht würde meine Großmutter sie hassen. Sie lebt wohl noch, aber ich habe sie nie kennen gelernt, also kann es mir einerlei sein. Ich finde Zokora einfach nur faszinierend.«
»Das ist sie, ohne Zweifel. Ich glaube, die Geschichten stimmen alle, aber man muss sie anders lesen.«
»Ich glaube, ich weiß, was Ihr meint. Ich frage mich, von wie vielen anderen der Geschichten man das auch sagen kann.«
»Es werden einige sein«, antwortete ich und begab mich näher an das Loch im Eiswall. Ich sah nach draußen: Der Himmel war dunkler geworden, die Nacht nahte langsam, die Kälte, die durch das Loch hereinkam, war schneidend. Wir waren allein, alle anderen hatten sich zurückgezogen. Das Tor stand noch offen.
Gemeinsam und mit allerlei Mühe schoben wir es wieder zu.
Dann gingen auch wir zurück zum Gastraum. Wir schwiegen beide, hingen unseren Gedanken nach. Was sie dachte, wusste ich nicht. Mir jedenfalls gingen die seltsamsten Gedanken durch den Kopf.