7. Eine Bestie

 

»Was soll ich nun tun?«, fragte der Wirt leise.

Ich blickte zu ihm herunter. »Kümmert Euch um die Tiere.« Ich wechselte einen Blick mit Lea. Sie nickte leicht. »Wir kümmern uns um den Jungen und den Hund, bevor sie beide festfrieren.«

Während wir dies taten, schlichen die anderen Gäste an uns vorbei, bleiche Gesichter und angstgeweitete Augen musterten uns und das, was wir in altes Leinentuch einwickelten. Hund und junges Herrchen brachten wir in das Lager nebenan und verstauten sie in einer Kiste. Dort war es kalt genug. Anschließend kratzte ich die Erde ab, ein mühsames Unterfangen, weil es schon anfing zu frieren, tat sie in einen Beutel und beschloss, auch diesen im Lager in der gleichen Kiste unterzubringen, neben der Leiche des Jungen. Als ich mit dem Beutel in der Hand das Lager betrat, sah ich, dass Lea vor dem kleinen Altar kniete und betete.

Schweigend entsorgte ich den Beutel mit blutgetränkter Erde und wartete, bis sie fertig war.

»Wir können jede Hilfe brauchen«, sagte ich.

Sie nickte langsam. »Kann ich etwas tun?«, fragte sie mich dann.

»Holt eine Flasche Wein aus dem Schankraum. Ich helfe dem Wirt, die Kühe zu melken.«

»Wofür Wein? Ihr wollt doch nicht am frühen Morgen …«

»Holt ihn einfach. Ihr werdet sehen.« Sie musterte mich mit einem fragenden Blick und ging.

Zu zweit sollte es eine Frage von wenigen Minuten sein, bis die letzte Kuh gemolken war. Der Wirt hatte die meisten schon erleichtert, bevor ich überhaupt anfing.

»Ser«, rief der Wirt mich zu sich. »Seht Euch das an.«

Ich ging zu ihm, er war bleich, bleicher noch als beim Anblick des Jungen. Er hielt mir den Eimer entgegen; er hatte ihn kurz vorher in einen größeren Bottich geleert, so befand sich nicht viel Milch darin. Sie sah seltsam aus, dann erreichte der Geruch meine Nase.

»Seht.« Er griff an den Euter und molk kurz weiter. Die Kuh gab dabei einen jämmerlichen Muhlaut von sich.

»Geronnen.«

Im Euter geronnen. Der Wirt und ich waren sprachlos. Die Kuh stand nicht weit von dem Ort, an dem der Junge gelegen hatte, und sie war mehr als nur nervös. Als ich meine Hand auf ihr Fell legte, spürte ich, wie sie zitterte.

»Sagt niemandem etwas davon«, wies ich den Wirt an. Er nickte nur und molk die Kuh weiter. Ich wusste nicht, was mit ihr geschehen würde, bliebe sie mit dieser Milch im Euter zurück, ich wollte es auch nicht wissen.

Ich war mit meiner letzten Kuh fertig, als Lea mit einer Flasche in der Hand erschien. Ich ging zu ihr, schlug mit meinem Dolch den Hals der Flasche ab und ließ einen Schluck in meine Kehle laufen. Das brachte mir einen missbilligenden Blick ihrerseits ein.

»Nicht der beste Jahrgang«, sagte ich und verzog dabei das Gesicht. Sauer, wie die meisten Weine. Aber gut für das, was ich wollte. Ich verteilte den Inhalt der Flasche über den Boden.

»Tiere mögen den Geruch von Wein nicht. Aber sie mögen ihn lieber als den von Blut.«

Sie sah mich an und verstand. »Es beruhigt mich, dass Ihr kein Säufer seid.«

»In der momentanen Situation macht es keinen Unterschied. Wir sind alle aufeinander angewiesen, Säufer oder nicht.«

Ich warf die Flasche in eine Tonne mit anderem Unrat und ging zu meinem Hengst hinüber, der mich mit einem vorwurfsvollen Blick begrüßte, der mir sagte, dass ich mich zu wenig um ihn gekümmert hatte. Auch Lea ging zu ihrem Pferd, und wir führten sie beide aus den Boxen heraus und verbrachten eine ruhige und wortlose Zeit damit, unsere Tiere zu striegeln und zu füttern. Sie ritt eine Stute, und unsere Pferde beäugten sich, wie es mir schien, genauso misstrauisch, wie es ihre Reiter manchmal taten.

Ich säuberte gerade Zeus’ Hufe, als Lea das Schweigen brach. »Nun, Havald, was denkt Ihr?«

Ich pulte den Dreck aus dem Huf heraus und gab Zeus das Zeichen, den anderen Huf zu heben, was er auch folgsam tat.

»Zwei Dinge. Es ist noch hier, und es ist kein gewöhnliches Tier.«

»Ja«, sagte sie. »Ich sehe es genauso, auch wenn ich es nicht glauben mag. Was meint Ihr, war der Junge das Ziel, oder war es nur Zufall?«

»Keine Ahnung«, entgegnete ich. Ich wandte mich Zeus’ Hinterhufen zu. »Das werden wir beim nächsten Mal wissen.«

»Ihr denkt, es wird ein nächstes Mal geben?«

»Ja. Was auch immer es ist, es ist ein Raubtier. Raubtiere fressen jeden Tag, wenn sie können. Es wird nicht widerstehen.« Ich klopfte Zeus auf den Rücken, und er schwenkte seinen Kopf herum, sah mich aus seinen großen Augen an.

»Fertig, mein Junge.« Ich führte ihn in seine Box zurück und gab ihm einen verrunzelten Apfel, den ich aus einer kleinen Tonne nahe dem Eingang geklaut hatte. Winterapfel oder nicht, Zeus machte kurzen Prozess mit ihm.

»Und hier ist Nahrung in Hülle und Fülle.« Ich hielt meine Hand hoch, so dass Lea sie sah. »Die Krallen sind breiter als meine gestreckte Hand. Es ist demzufolge groß, vielleicht so groß wie ich es bin. Und stark. Ich könnte den Hund nicht so weit werfen, wie es ihn geworfen hat. Es hat ein Maul so groß wie das eines Bären, vielleicht sogar größer. Aber es ist kein Bär.«

»Sondern?«

»Das weiß ich nicht. Aber ich zeige Euch etwas.«

Sie führte ihr Pferd zurück, verriegelte die Box und folgte mir. Ich hatte meinen Dolch benutzt, um das Stück Erde auszuschneiden, und es an die Stalltür gelehnt, damit es schneller einfror. In dem Stück blutgetränkte Erde war ein Tatzenabdruck zu sehen.

»Ich erinnere mich gar nicht, eine Spur gesehen zu haben«, sagte sie.

»Es waren auch keine zu sehen. Diese hier war unter dem Stoff der Jacke des Jungen verborgen.«

»Wollt Ihr sagen, dass das Biest seine Spuren verwischte?«

»Ja.«

Wir studierten den Abdruck. Er war in der Tat so groß wie die Pranke eines Bären. Doch ich kannte solche Spuren, hatte sie oft genug im Schnee gesehen und wusste, dass es sich um etwas anderes handeln musste.

»Wolf«, sagte sie.

»Ja, vermutlich. Aber ein ziemlich großer Wolf.«

»Jetzt kommt mir nicht mit Werwölfen! Das sind Ammenmärchen«, sagte sie voller Hoffnung, das Thema sei damit erledigt. Doch zugleich glaubte sie selbst nicht daran.

»Es heißt auch immer, es gäbe keine Drachen. Aber ich selbst sah einen.«

»Na, dass es Drachen gibt, weiß ich. Die Geschichte würde ich trotzdem gerne einmal hören«, sagte sie dann.

»Vielleicht erzähle ich sie Euch heute Nacht, bevor wir zu Bett gehen.«

»Das hört sich seltsam an für mich«, sagte sie. Ihren Blick vermochte ich nicht zu deuten.

»Ich weiß«, meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Als seien wir ein Paar. Jetzt aber sollten wir uns um unser Frühstück kümmern.«

»Ihr habt nach dem Ganzen noch Hunger?«

»Nein. Aber ich lebe gerne. Deshalb habe ich eine eiserne Regel«, erklärte ich ihr, als ich die Tür zum Lager für sie aufhielt. Wir warfen beide einen verstohlenen Blick in Richtung der Kiste, in der der Junge mit seinem Hund ruhte.

»Und diese Regel lautet?«

»Kein Essen ausschlagen, denn man weiß nicht, wann man die Kraft braucht, die es einem gibt. Kälte, Leandra, zehrt an den Kräften wie kaum etwas anderes.«

In der Schmiede blieb sie plötzlich stehen und legte mir ihre Hand auf den Arm.

»Ihr sagtet eben etwas.«

»Ich weiß nicht, was Ihr meint.«

»Ihr sagtet, Ihr lebt gerne. Gestern Abend hatte ich nicht den Eindruck. Eher dachte ich, Ihr wartet darauf, dass Euch der Tod ereilt.«

Ich sah sie überrascht an. Mir wurde bewusst, dass ich lächelte. Es fühlte sich ungewohnt an. »Nun, seitdem muss etwas passiert sein, was mich anders denken lässt.«

Ihre violetten Augen ruhten einen Moment lang auf mir, dann lächelte sie leicht. »Das freut mich, Havald.«

Als ich ihr folgte, bewunderte ich ihren Gang. Packte man einen Mann in einen schweren Kettenmantel, hängte ihm ein Schwert und ein Bastardschwert um, würde er stampfen wie ein Walross. Aber sie, sie ging mit der Geschmeidigkeit einer Katze. Ich warf einen Blick nach oben Richtung Himmel. Sie hatte wirklich Recht: Ich hatte vergessen, dass das Leben einen erfreuen konnte. Ich dankte den Göttern für das Geschenk, das sie uns Männern gaben.

Den Gang der Frauen genießen zu können.