35. Aufbruch in das dunkle Land

 

»Es tut mir leid, Wirt, dass wir deine ganze Ware entführen«, sagte Leandra später. Wir befanden uns noch immer im Gastraum, dort wurde gerade eine weitere Kiste geöffnet, die von zwei Männern aus dem Lager geholt worden war. Die Männer standen am Kamin, nicht nahe, denn davor war die Hitze unerträglich, und massierten ihre Hände. Der Weg durch die Schmiede zum Lager und zurück war grausam: Schlug man ein Tuch vor das Gesicht, gefror darin augenblicklich der Atem.

Eberhard machte eine vage Geste. »Mir ist es gleich. Die Ware liegt hier und erscheint mir jetzt von größerem Nutzen, als wenn ich sie horten wollte.« Er sah sie an. »Ich kann Euch nicht sagen, wie dankbar ich bin, dass Ihr Sieglinde an ihrem Vorhaben gehindert habt.«

»Das waren nicht wir«, sagte Leandra leise. »Letztlich zeigte es sich, dass Ehre kein unbekanntes Wort ist.«

Sie griff in die Kiste und entnahm ihr einen langen Mantel aus hellgrauem Leder mit einem schwarzweißen Innenpelz.

»Was ist das für ein Tier?«, fragte sie, als sie das weiche Fell durch ihre Finger gleiten ließ. »Es ist wunderschön!«

Eberhard zuckte mit den Schultern. »Ich habe nie einen gesehen, aber es soll ein Eisotter sein. Diese Ware hat mein Vater gekauft. Es sind gute Wintermäntel, aus den Barbarenlanden, wo man sich täglich vor der Kälte schützen muss, und er schrieb daneben, dass ein jeder drei Goldstücke kosten solle. Seht.«

Er nahm einen Becher und füllte ihn mit Wasser, um dann den Inhalt über den Pelz zu schütten. Das Wasser lief ab und hinterließ den Pelz so trocken wie zuvor.

»Dieser Mantel ist wirklich sein Gold wert«, sagte einer der Wächter ehrfurchtsvoll. »Ist es Magie?«

Der Wirt hob die Schultern. »Davon ist mir nichts bekannt.«

»Wenn ich daran denke, wie oft ich nass und durchgefroren und mit wundem Hintern auf meinem Sattel saß, dann sage ich euch, dass dieser Mantel sein Gold wert ist«, meinte der Wächter.

»Wie ist dein Name, junger Mann?«, fragte ich ihn bei dieser Gelegenheit.

»Joakim, Ser.«

»Bist du in etwas besonders geschickt?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich bin recht gut mit dem Schwert und einer Armbrust, aber das ist alles.« Er sah auf und schaute etwas verdrossen drein. »Ich kann auch kochen.«

Ich schlug ihm auf die Schultern. »Glaub mir, du bist wahrscheinlich der wichtigste Mann.«

Ich wandte mich an den Wirt. »Eure Töchter sind nun sicher. Holt sie und lasst sie für uns Nahrung vorbereiten, für vier Tage. Joakim wird ihnen helfen, Rationen zu packen.«

Er nickte und wollte sich abwenden, aber ich hielt ihn zurück. »Sagt, habt ihr in Eurem wundersamen Lager auch Nüsse?«

Eberhard rieb sich grübelnd die Nase. »Ich glaube schon, nur weiß ich nicht, ob sie noch gut sind.«

»Geht und findet es heraus. Habt Ihr vielleicht auch Rosinen?«

Er nickte. »Ja, aber kein ganzes Fass, ein halbes vielleicht. Mehr konnte ich mir nicht leisten.«

Ich klopfte ihm auf die Schultern. »Die Götter seien gepriesen, dass Ihr sie Euch überhaupt leisten konntet. Es gibt kaum eine bessere Nahrung als Rosinen und Nüsse.«

»Ich habe noch nie Rosinen gegessen«, sagte einer der Bergarbeiter mit andachtsvoller Stimme. Er zupfte mit nervösen Händen an seinem Kettenmantel. »Ich wusste nicht, dass diese Mäntel so schwer sind, ich kann mich kaum darin bewegen«, sagte er.

»Was habt Ihr darunter?«

»Zu viel«, antwortete Leandra für ihn. »Zieht die Kette wieder aus und lasst nur ein Wams an. Lasst die Mäntel auf der Kette liegen und nicht darunter.«

»Ja, Sera.«

Schließlich warf ich einen Blick auf unsere kleine Armee. Überall lagen Schwerter, Schilde und Äxte sowie Rüstungsteile herum, in einer Ecke stapelten sich die Kisten, alsbald würden sie im Feuer landen. Die Männer standen um die Tische herum, probierten Kleidung und Rüstung an, schwangen Waffen, um die Balance zu testen, oder schlugen sich den Magen voll.

»Was hältst du von ihnen?«, fragte mich Leandra leise.

»Ich hatte schon schlechtere Männer. Die meisten wissen, wie man mit einem Schwert umgeht. Und Simons Leute … schau.« Die Bergarbeiter hatten sich Pickäxte gegriffen, deren Schäfte sie kürzten und mit Leder einbanden.

»Keiner von ihnen kann ein Schwert halten, aber treffen sie mit ihren Picken, geht es durch die Rüstung wie heißes Eisen durch Butter.«

»Ja, aber nur wenn sie nicht zuerst aufgespießt werden«, sagte sie.

»Dann geben wir ihnen Armbrüste.«

»Solange sie nicht hinter uns stehen, wenn sie abdrücken. Bei den Göttern, sieh nur!«

Vorhin hatte sich Zokora Rigurds Körper geschnappt und mit ihm entfernt. Ein paar der Wachen boten ihr Hilfe an – sie hatte es geschafft, sich den Respekt der Männer zu verdienen –, aber sie schüttelte den Kopf. Sie wollte ihn waschen und segnen, ein Ritual, das sie allein durchführen wollte.

Jetzt war sie zurück, und ich verstand, warum die Dunkelelfen Furcht in die Herzen der Menschen treiben konnten. Auch sie trug nun einen Kettenmantel, nicht minder fein gearbeitet wie der von Leandra, nur war das Material ihrer Rüstung schwarz wie die Nacht.

»Antamihrl«, erklärte Leandra leise. Ein rauchschwarzer Umhang mit sparsamen silbernen Verzierungen wallte um die Dunkelelfe, und wie unten im Keller tanzten kleine silberne Funken um sie herum. Sie hatte sich das Gesicht geschminkt. War sie vorher dunkel gewesen, so war ihr Gesicht unter der Haube ihres Mantels nun ein schwarzes Loch, in dem ihre Augen rötlich glühten. Unter den schrecklichen Augen leuchteten fahl zwei silberne Linien im Schatten ihrer Kapuze. Auf ihrem Busen lag eine schwere silberne Kette mit einem Anhänger, der den Kopf einer Eiskatze darstellte. An ihren Händen trug sie Kettenhandschuhe, die an den Fingern verstärkt waren und zu Krallen ausliefen. Sie sah die Blicke und lächelte grimmig.

»Niemand hier muss Angst vor mir haben«, sagte sie und zeigte blutrote Zähne.

»Götter, da bin ich aber froh!«, entfuhr es einem Wächter.

»Ja«, sagte sie in ihrer ruhigen Stimme. »Seid froh, dass ihr nicht die Gejagten seid.«

Ich war nicht leicht zu beeindrucken, aber als ich sie so sah, lief mir ein Schauer über den Rücken.

»Siehst du die Kette?«, fragte ich Leandra. Sie nickte. Zokoras Halskette unterschied sich kaum von der Wolfskette, die ich in meiner Tasche trug, und jetzt erst verstand ich, was sie damals meinte, als sie gesagt hatte, ihr Omen wäre die Katze.

Zokora gesellte sich zu uns und schaute zu mir hoch. »Ich bin bereit.« Ich sah sie, doch ich spürte sie nicht, üblicherweise fühlte ich die Nähe anderer Personen, aber von ihr ging nichts aus, ich wusste nur, wo sie stand, weil ich sie sah. Erblickte man etwas und schloss dann die Augen, sah man es zwar nicht mehr, konnte sich aber vorstellen, dass es hier oder dort sein müsste. Schloss ich die Augen, war es, als ob ich Zokora vergessen würde.

»Was tut Ihr da?«, fragte ich sie leise.

Sie lächelte. Die blutroten Zähne waren wahrhaft ein Anblick für starke Nerven. »Die dunkle Schwester verleiht ihren Dienerinnen die eine oder andere Gabe, auch gibt es Fähigkeiten, die in unserem Blut liegen. Ihr seht mich, weil ich es will. Andere werden mich nicht sehen.«

»Und Eure Spuren wird man wohl auch nicht finden können, nicht wahr?«, fragte Leandra.

»Ja«, antwortete Zokora.

Ich zögerte. »Zokora, erlaubt mir eine Frage. Wer seid Ihr? Ich meine, wir ziehen zusammen in den Kampf, ich würde …«

»Eine Dunkelelfe.« Sie sah meinen Blick und lächelte. »Diesmal werde ich Eure Neugier befriedigen. Mein Name ist Zokora a Zerash, erste Tochter der obersten Säule, oberste Dienerin der dunklen Schwester. Nach Euren Jahren bin ich siebenhundertundzwanzig Jahre alt. Im Namen meiner Göttin erschlug ich vierundvierzig Krieger und zweihundert andere. Seit dreihundertundzwölf Jahren stelle ich mich jedes Jahr der Herausforderung der Göttin.«

»Ein ritueller Zweikampf gegen eine andere Dienerin?«, fragte Leandra leise.

Zokora nickte. »Die zähle ich nicht zu den Erschlagenen, denn es war die Göttin, die meine Hand führte.«

»Was bedeutet Tochter der obersten Säule?«, fragte ich.

Sie lachte. »Das bedeutet, dass ich nach dem Tod meiner Mutter über das dunkle Land herrschen werde.« Sie ballte die Fäuste. »Rigurd war nur ein Mensch, aber er war mein, und sein Blut wird in den Adern meiner Söhne fließen. Ich mochte ihn.« Das Glühen ihrer Augen wurde stärker. Obwohl sie direkt vor mir stand, sah ich nichts von ihrem Gesicht außer diesen Augen, die silbernen Linien darunter und ihre blutroten Zähne.

»Dieser Nekromant hat sich in mein Reich begeben«, zischte sie. »Einen größeren Fehler hat er nie begangen.«

Ich schaute ihr nach, als sie sich in ihre Ecke setzte, um dort regungslos zu verharren.

»Erinnere mich daran, niemals einen Dunkelelfen zu verärgern«, sagte ich leise zu Leandra.

»Sie ist eine Prinzessin. Meinst du, dass das stimmt?«

»Sie hat keinen Grund, nicht die Wahrheit zu sagen«, antwortete ich. »Auch wenn ich nicht glaube, dass es der passende Titel ist. Wer weiß schon, wie Dunkelelfen ihre Herrscher sehen. Ich mache mir vielmehr Gedanken darüber, ob sie wirklich so viele Gegner erschlagen hat. Wenn ja, hatten wir hier Glück, dass Zokoras Zorn nicht uns traf.« Ich beugte mich zu Leandra hinunter und strich ihr über ihre glatte Wange.

»Sag, was ist das mit deinen Augen? Ich weiß, dass das Rot in ihnen oft mit Zorn einhergeht, aber was bedeutet es?«

Leandra sah zu mir hoch, das rote Glühen verblasste, und ich sah wieder das Violett der Augen, die ich so liebte.

»Dunkelelfen haben mehr als Elfen die Fähigkeit, im Dunkeln zu sehen. Wir sehen Wärme. Wenn es so kalt ist wie jetzt, offenbart sich diese Fähigkeit mit diesem roten Leuchten.«

»Kein Zauber?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn ich wütend bin, zeigt das rote Leuchten auch meinen Zorn.« Sie sah zu Zokora hinüber. »Deutlicher kann man unsere gemeinsame Herkunft kaum erkennbar machen, oder?«

»Bist du sicher, dass du nur eine halbe Elfe bist?«

Leandra lachte. »Nein, denn so kann man es nicht sagen. Niemand kann wissen, wie sich das Blut von Elfen und Menschen mischt, es ergibt sich mit der Zeit. Es gab Kinder, die Elfen wurden, andere wurden Menschen oder eine Mischung, wie ich es bin.« Sie lachte. »Ich weiß nicht, ob es stimmt, wenn ja, ist es ein Gerücht, das Elfen ungern hören, denn es heißt auch, dass manchmal der Verbindung zweier Elfen ein Mensch entspringt. Es gibt Elfen, die sagen, ein Mensch sei ein Elf ohne Magie – was niemand unter den Elfen gerne hört, halten sie sich doch für etwas Besseres als unsereins.«

»Und wozu zählst du dich, Leandra?«, fragte ich leise.

»Einst hätte ich gesagt, zu beiden. Aber nun bin ich älter. Mein Herz ist das eines Menschen. Aber wenn ich Zokora sehe, schwingt in meinem Blut der Wunsch nach der dunklen Jagd mit.«

»Die dunkle Jagd?«

»Vergiss nicht, ich wuchs nicht bei den Elfen auf, also ist es nicht eigenes Wissen. Aber ich habe viel in den Archiven der Tempelschule gelesen. Du hast von der wilden Jagd gehört?«

Ich nickte. »Man sagt, dass einmal alle hundert Jahre oder so Elfen zu einer heiligen rituellen Jagd aufbrechen. Ein Mensch sollte sich dann von ihnen fern halten, denn alles, was ihnen im Weg steht, ist gefährdet. Angeblich sind sie dann nicht bei Sinnen.« Das war auch schon alles, was ich wusste.

»Da ist etwas Wahres dran. Es ist ein heiliges Ritual, und jene, die daran teilnehmen, atmen heilige Kräuter ein und werden dadurch wohl etwas ekstatisch. Die dunkle Jagd ist ein ähnliches Ritual der Dunkelelfen, doch niemand hat je eine gesehen und konnte davon berichten.«

Ich sah zu Zokora hinüber. »Sie wirkt nicht so, als ob sie betäubende Dämpfe eingeatmet hätte.«

Leandra lachte kurz und trocken. »Die Elfen auf der wilden Jagd atmen sie, um den Blutdurst zu wecken, der sonst von jedem Elfen ein Leben lang unterdrückt wird. Meinst du, man müsse diesen Blutdurst bei Zokora noch wecken?«

Ich musterte Zokora. Sie sah auf und lächelte mich grimmig an.

»Nein«, sagte ich. »Ich glaube, das ist wirklich nicht nötig.« Ich betrachtete das Treiben um mich herum. »Ich werde es Zokora gleichtun und rasten, bis es losgeht.«

Ich ergriff einen jener Wintermäntel, begab mich zu unserem Tisch, setzte mich nieder, so bequem es ging, und deckte mich mit dem Mantel zu.

»Weckt mich in drei Stunden«, bat ich Eberhard, der herbeieilte, um zu fragen, ob er etwas für mich tun könnte. »Dann brechen wir auf.«

»Erst dann?«, fragte er. »Hat dann der Baron nicht einen zu großen Vorsprung?«

Leandra setzte sich zu mir. »Nein. Wir sind einfach noch nicht so weit. Drei Stunden sind optimistisch geschätzt.«

»Werdet Ihr auch schlafen wollen?«, fragte Eberhard.

Leandra schüttelte den Kopf. »Ich nicht.«