5. Ortenthaler Wein

 

Die Tür war verriegelt, also klopfte ich an. Eine Weile geschah nichts, und ich hatte die Hand bereits zum erneuten Klopfen gehoben, als sich die Tür schließlich öffnete und sie unmittelbar vor mir stand.

Ihre Haare waren offen, sie trug ein einfaches weißes Leinengewand, das ihr zu kurz war, ihr Langschwert hielt sie blankgezogen in der Hand. Die Spitze des Schwertes war das Erste, was ich sah, danach ihre stürmischen Augen, erst dann konnte ich genießen, wie das einfache Nachthemd ihre Figur betonte, und dass es, gegen das Licht der einsamen Kerze auf dem Tisch hinter ihr, durchscheinend war.

»Warum sollte ich Euch hereinlassen?«, fragte sie.

»Vielleicht, weil es mein Zimmer ist?«

Sie legte den Kopf zur Seite. »Das ist zumindest ein Argument.« Sie trat zurück, ich schlüpfte hinein und schloss die Tür hinter mir. Sie musterte mich prüfend, erst dann ließ sie die Klinge sinken.

Den Raum zierten ein Tisch und zwei Stühle sowie eine Anrichte, auf der eine Schüssel mit überfrorenem Wasser stand. Er verfügte sogar über einen eigenen Kamin, in dem die Flammen genauso munter tanzten wie in den Kaminen unten in der Schankstube. Dennoch konnte man nicht wirklich behaupten, es wäre warm. Sie folgte meinem Blick und landete auf ihrem eigenen Busen. Sie schaute wieder hoch und sah mir geradewegs in die Augen. »Mir ist kalt.«

»Dann solltet ihr Euch zur Ruhe begeben«, antwortete ich. Ich löste mich von dem verführerischen Anblick und begab mich hinüber zu dem kleinen Tisch. Dort lag aufgeschlagen ein kleines Buch mit sehr feinen Seiten, die Schrift tanzte vor meinen Augen, wand und umschlang sich selbst, so dass mir fast schwindelig wurde, als ich hinschaute.

Ich blinzelte und sah von dem Buch weg. »Ritualmagie? Ich dachte, heutzutage befasse man sich mehr mit unmittelbarer Einwirkung.«

»Ihr wisst eine Menge für einen alten Mann.«

»Das hat das Alter so an sich. Man schnappt hier und da etwas auf.«

Sie hatte sich die Bettdecke um ihren Körper geschlungen und tappte nun barfuß zu mir herüber, um dann an dem Tisch Platz zu nehmen. »Ritualmagie ist langsamer als unmittelbares Wirken.« Ihre Stimme war leise. »Aber sie ist ungleich mächtiger. Man kann andere Dinge mit ihr entfachen. Magie, die über eine längere Zeit Bestand hat.« Sie schloss das Buch, lehnte sich zurück und intonierte einen Sprechgesang, der so von gutturalen Lauten durchzogen war, dass ich um ihre Kehle fürchtete. Während der ganzen Zeit rührte ich mich nicht. Ich wusste nicht, was sie tat, und wollte sie weder ablenken noch aus Versehen in den Wirkungsbereich dessen gelangen, was sie gerade erschuf.

Für einen Moment wurde es dunkler im Raum, die Kerze verlöschte fast, sogar das Feuer im Kamin sank etwas in sich zusammen, und unnatürliche Kälte ließ mich frösteln. Ich verspürte den üblichen Druck auf den Schläfen, dann wie er wieder verschwand.

»Fertig«, sagte sie und lehnte sich erschöpft zurück.

»Was war das?«

»Ich habe die Tür geschlossen. Niemand wird sie vor dem Morgengrauen öffnen können.«

»Auch ich nicht?«

Mit immer noch geschlossenen Augen schüttelte sie den Kopf. »Niemand. Außer mir. Erst wenn ich die Tür berühre, ist der Spruch aufgehoben.«

Ich bewegte mich zur Tür hinüber und rüttelte an ihr. Das hieß, ich versuchte an ihr zu rütteln. Sie bewegte sich nicht. Ich klopfte gegen das Holz: Die Resonanz war in etwa so, als hätte ich eine Steinplatte berührt.

»Beeindruckend.« Ich sah zu ihr hinüber. Sie saß zurückgelehnt da, die Augen geschlossen, den Kopf in den Nacken gelegt. An ihrem Hals konnte ich die kleine Wunde sehen, die ich ihr vorhin zugefügt hatte.

»Lernt man das in den Tempeln?«

Sie schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Ritualmagie wird kaum noch verwendet. Sie erfordert zu viel Konzentration.«

Ich ging zu meinem, unserem Bett und setzte mich auf die Strohmatratze. Der Wirt hatte sich Mühe gegeben: Das Seil unten am Rahmen war fest verspannt, die Matratze frisch gefüllt.

Das Ganze war um die Hälfte breiter als mein altes Bett und füllte den Raum deutlich mehr aus. Am Fußende sah ich meinen Packen, daneben den ihren. Ihrer war deutlich größer als meiner, was mich kaum wunderte, denn ich war es seit langer Zeit gewohnt, leicht bepackt zu reisen. An der Wand befanden sich stabile Haken, dort hatte sie sorgfältig ihre Rüstung und Kleidung aufgehängt. Ihre wollenen Untersachen hingen über dem Kaminschirm, nahe genug, um bis zum Morgen trocken zu sein, weit genug weg, dass sie nicht entflammten.

Die Kerze auf dem Tisch, das Flackern des Feuers im Kamin, ihre Sachen hier im Raum verteilt, letztlich sie in einem dünnen Nachthemd, Wärme suchend in eine Decke gehüllt, barfuß: All das berührte mich seltsam.

Ich lehnte mich auf dem Bett zurück. Es war vielleicht möglich, mit ihr zusammen zu schlafen, ohne sie zu berühren, aber ich glaubte nicht daran.

Trotz des Feuers war es kühl im Raum. Die Kälte wartete außerhalb der Mauern, und im Laufe der Nacht würde sie sich einschleichen, immer tiefer eindringen in das, was wir Menschen Zuflucht nannten.

Schon jetzt hatten sich an der Außenwand feine Kristalle gebildet. Kälte und Hitze hatten etwas gemeinsam, beide breiteten sich auch durch Mauern hindurch aus.

Ich ging zum Fenster hinüber und schob das schwere Leder des Wintervorhangs zur Seite. Der Fensterladen war, wie alles in diesem Gasthof, solide und von bester Qualität. Alt, aber hervorragend verarbeitet. Die Angeln bestanden aus Messing, Eisenbänder verstärkten den Laden, in der Mitte gab es eine senkrechte Klappe, eine Schießscharte für eine Armbrust, ebenfalls mit Hanf und Talg gegen die Kälte abgedichtet. Alles war von einer hauchdünnen Eisschicht überzogen. Hier in der Fensternische, in dem Raum zwischen dem Holz des Fensterladens und dem schweren Ledervorhang, sammelte sich die Kälte wie ein Tier, das auf sein Opfer lauerte.

»Was denkt Ihr?«, fragte sie hinter mir. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, ich nahm sie wahr, roch sie, den Rosenduft und das, was sie war. Ich lehnte die Stirn gegen den Fensterladen und spürte die Kälte des Holzes.

»Ich frage mich, wie es dazu kam, dass wir uns alle an diesem Ort befinden. Hier und jetzt.«

Ich löste mich vom Fenster, verschloss den ledernen Vorhang sorgfältig und sah sie an.

»Ist es von Belang?«, fragte sie. »Meine Reise war umsonst, Ihr seid nicht der, den ich suchte. Also werde ich meinen Weg ohne Euch fortsetzen. Dieser Ort ist nur eine Station.«

Ich begab mich zu meinem Packen am Fußende des Betts, öffnete ihn und wühlte eine Weile darin, bis ich fand, was ich suchte. Mit meinem Messer öffnete ich das Siegel am Deckel des Holzzylinders und zog die bronzefarbene Flasche sorgfältig aus ihrem Bett aus Stroh. Wie lange hatte ich diese Flasche mit mir herumgetragen? Zehn Jahre, zwanzig? Ich wusste es nicht mehr, es schien, als hätte ich sie schon ewig gehabt. Zwei Zinnbecher fanden sich auch noch. Mit ihnen und der Flasche in der Hand begab ich mich zum Tisch und nahm neben Lea Platz. Als ich die Flasche und die Becher auf den Tisch stellte, musterte sie diese mit sichtbarer Überraschung, dann sah sie zu mir herüber. »Ich dachte, Ihr mögt kein weibisches Geschwätz?«

»Ihr müsst ja nicht schwätzen.«

Ich betrachtete die Flasche. Das bronzefarbene Glas verriet ihre Herkunft – nur an einem Ort der Weltenscheibe wurde in diese Flaschen abgefüllt.

»Ortenthaler Elfenwein?«, fragte sie und hob eine Augenbraue. »Welch überraschende Kostbarkeit.«

»Ihr mögt keinen Wein?«

»Das habe ich nicht gesagt.« Sie musterte mich. »Wie komme ich zu dieser Ehre?«

Ich löste mit meinem Messer das Siegel am Korken und war vertieft in meine Arbeit, während ich überlegte, was und vor allem wie ich ihr antworten sollte. Vorsichtig drehte ich den Korkenhaken ein und entkorkte die Flasche. Sogleich erreichte der Geruch des schweren Weins meine Nase.

Die Legende besagte, dass die Elfen wie alle Rassen nicht von dieser Weltenscheibe stammten. In ihrer Heimat soll es Wein gegeben haben, so gut und schwer, dass er die Götter selbst neidisch machen konnte. Ein Wein mit magischen Eigenschaften, ein Wein so vorzüglich, dass ein Sterblicher, der davon trank, süchtig wurde nach diesem Tropfen.

Die Legende besagte auch, dass ein paar wenige Trauben mit den Elfen gekommen wären, und eine einzige Rebe entsprang ihnen, und dieser einzigen Rebe wiederum entsprangen die Weinfelder des Ortenthals. Vor langer Zeit war ich selbst einmal dort gewesen und hatte die Trauben mit eigenen Augen gesehen. Der Hang schien von flüssigem Gold eingehüllt, jede der Trauben leuchtete in einem goldenen Licht, als habe sie selbst die Kraft der Sonne aufgesogen. Man sagte, dass die Reben außerhalb des Ortenthals nicht wachsen könnten, man sagte auch, dass es die Magie der Elfen sei, mit der sie diesen Ort segneten, auf dass dieser Wein dort gedieh. Man sagte überhaupt eine Menge über Elfen.

Auf jeden Fall war der Wein vorzüglich und fand sich meist nur an der Tafel von Fürsten, Königen und reichen Äbten.

»Seht es als Entschuldigung an«, bat ich, als ich ihr einschenkte. Der Wein floss schwer und träge in das Glas, eine goldene Flüssigkeit, die meinen müden Augen kleine goldene Sterne vorgaukelte, ein feines, goldenes Licht, das den Becher füllte.

Vielleicht war es keine Einbildung, denn meist trank ich diesen Wein an Orten, an denen es hell war. Vielleicht war es mir bisher nur noch nie aufgefallen.

Schweigend sah sie zu, wie ich auch mir einschenkte und anschließend die Flasche wieder sorgsam verkorkte.

Ich hob meinen Becher und sah sie an. Einen Moment nur zögerte sie, dann ergriff sie ihren. Mit einem leisen Klang berührten sich unsere zinnernen Gefäße.

»Auf dass Eure Reise weitergeht, Sera Maestra, und Ihr am Ende Eures Wegs Frieden findet.«

Sie nickte und nahm einen Schluck. Während ich trank, spürte ich, wie das flüssige Gold meine Kehle herunterrann und meinen Gaumen mit einem längst vergangenen Sommer füllte. Ich beobachtete fasziniert, wie sie schluckte. Es gab keinen Zweifel, zu lange schon war ich nicht mehr in so bezaubernder Gesellschaft gewesen.

»Was bedrückt Euch, Havald?« Ihre Augen waren fragend und aufmerksam auf mich gerichtet.

»Ich befürchte, dass dieser Sturm das Ende von vielen hier im Gasthof bringen wird.« Ich setzte das Glas ab, stand auf und begann mich meiner Rüstung und meines Obergewands zu entledigen. Mein Kettenmantel, schwer und ungeschlacht neben dem feinen Mithril ihrer Kette, landete an dem Haken neben dem ihren. Wahrhaft ein Kontrast: grob und schwarz meine Rüstung, flüssiges blaues Metall die ihre. Auch mein Lederwams wirkte alt und verbraucht neben ihrem. Wir waren gleicher Art gerüstet, und beide mochten wir gleichermaßen sorgfältig hergerichtet sein, doch ließ sich der Unterschied nicht verleugnen.

Eine Rüstung war für mich etwas Praktisches. Sie musste nicht schön sein, es käme mir gar nicht in den Sinn, eine andere Schönheit als die der Handwerkskunst in ihr zu suchen. Aber ihre Rüstung … Nicht nur, dass sie schützender war als meine, sie schmückte zugleich. Es schien, als könne es nicht anders sein, als müsse die Sera derart gewandet werden, als müsse man sie mit schönen Dingen schmücken. Maestra der arkanen Künste mochte sie sein, vielleicht eine mächtige Magierin, aber es war der uralte Zauber der Weiblichkeit, der mich hier berührte. Mich, der sich immun dagegen glaubte.

Ich entledigte mich meines Wamses. Mein Hemd, aus einfachem Leinen, war nicht mehr sauber, sondern verschwitzt und fleckig. Wie kam es, dass ein Mann dies nicht wahrnahm, bis der Blick einer Frau auf ihm ruhte? Ich zog das Hemd aus – ich hatte noch ein frisches in meinem Packen –, als sie überrascht die Luft durch die Zähne zog.

»Was ist?«

»Ich sehe gerade Eure Narben«, sagte sie, blickte zu mir hoch, dann weg von mir, in ihren Becher. »Ich hätte nicht gedacht, dass man solche Wunden überlebt.«

Ich zuckte mit den Schultern. Die meisten von ihnen waren alt, so alt, dass ich mich kaum erinnerte, woher sie stammten. Was Narben anging, waren sie besser als die meisten, nur feine weiße Striche, nicht dicke Wülste, wie das Handwerk eines Feldschers sie so gerne auf dem Fleisch zurückließ. Nur selten schmerzten oder behinderten sie mich, ich vergaß sie leicht.

»Wie alt, sagtet Ihr, seid Ihr?«, fragte sie mich.

»Ich erwähnte mein Alter nicht«, entgegnete ich ihr mit einem Lächeln. »Aber es ist gut das dreifache des Euren.«

»Menschen werden nicht so alt. Ihr seht nicht viel älter aus als vier Dutzend und zwei. Selbst dafür seid Ihr gut erhalten. Nicht so zerbrechlich, wie Ihr mich glauben ließet.«

»Es kommt auf das Leben an, das man führt.« Ich nahm das frische Hemd aus dem Packen und fühlte mich insgeheim erleichtert, dass es tatsächlich sauber war. Nicht mein Verdienst: Eine Magd im letzten Gasthof, in dem ich länger verweilt hatte, hatte mir meine Kleidung gewaschen, als Dank dafür, dass ich sie von einem schmerzenden Zahn erlöste.

»Es ist nicht jenes Alter, das man in seinen Knochen spürt, das wirklich zählt, sondern das, welches hier und hier lastet.« Ich berührte Herz und Stirn. In meinem Körper fühlte ich mich schon lange alt, was ich vor allem meinen Knochen zu verdanken hatte.

»Warum glaubt Ihr, dass hier Leute sterben werden?«

»Abgesehen von den Söldnern?«, fragte ich mit einem schiefen Lächeln.

Sie nickte. »Abgesehen von den Söldnern.«

Ich begab mich zurück zum Tisch und setzte mich hin. Meine Schritte wirkten seltsam leicht ohne das Gewicht des schweren Kettenhemds. Ich rollte meine Schultern und streckte mich, bevor ich mich wieder ihr widmete, ihr und dem Wein.

»Vor langer Zeit war ich schon einmal eingeschneit.« Ich schloss die Augen und sah jenen Ort wieder vor mir, als wäre es gestern gewesen und nicht ein Menschenleben her.

»Damals stand ich im Dienst des Grafen von Bertenstein. Es gab eine kleine Streitigkeit aufgrund der Mitgift seiner Tochter, ein Landgut, welches seiner Familie noch nominal gehörte, aber schon lange nicht mehr genutzt wurde. Die Bauern dort hatten ein lokales Recht. Wenn ein Herr seine Besitzungen für zwanzig Jahre nicht betrat, fielen diese an den Pächter.«

»Scheint sinnvoll. Es zwingt den Herrn, sich um seinen Besitz zu kümmern«, sagte sie.

Ich lächelte. »Ihr seid eine Rebellin, Sera.«

Sie lächelte zurück, und ich nahm zum ersten Mal die Perlenreihe ihrer Zähne wahr. Hastig führte ich meinen Becher zu den Lippen und nahm einen weiteren Schluck des goldenen Weins. »Abgesehen von seinem Besitz gab es noch eine Handels- und eine Zollstation an einem Pass, über den eine Handelsstraße lief. Dort befand sich auch noch ein Wehrturm. Diese Straße kontrollierte das ganze Tal, und dorthin wurde ich entsandt. Ich und zehn Männer, ein Zeichen dafür, dass der Herr Graf auch mit Gewalt das halten wollte, was er sein Eigen glaubte.«

»Kam es zum Kampf?«

»Ja. Später. Aber das ist nicht der Kern meiner Geschichte. Ähnlich wie hier lag dieser Wehrturm am Fuß eines Passes.«

»Ihr erwähntet es schon.«

»Ja. Mit dem Unterschied allerdings, dass dieser Wehrturm lange nicht benutzt worden war. Als ich dort mit meinen Kameraden eintraf, musste erst noch viel gerichtet werden. Keine Tür und kein Fensterladen waren noch an ihrem Platz, das Dach der Stallanlagen war undicht, und ein Boden im Turm war zusammengebrochen. Tauben nisteten dort, der Vogelmist bedeckte den Grund knöcheltief. Es stank, aber nicht sehr, denn es war kalt. Später Herbst. Drei Wochen schufteten wir dort. Die Einheimischen, die wir mit unserer Waffengewalt beeindrucken sollten, erschienen ab und an und sahen uns bei unserer Arbeit zu, in etwa so, wie man exotische Tiere ansieht. Eines Tages kam eine junge Frau den Pfad zum Turm hoch und teilte uns mit, dass wir den Turm noch heute verlassen sollten. Der Feldwebel, der diese Expedition leitete, lachte nur. Er fragte sie, ob sie ihm drohen wollte. Das Mädchen schüttelte nur ernsthaft den Kopf. Es wäre ein Rat und keine Drohung. Der Feldwebel sah es anders. Er gab sie der Mannschaft zum Spiel.«

Sie sah mich an. »Ihr wart Teil der Mannschaft?«

Ich nickte. »Ja. Und auch ich hatte lange keine Frau mehr gehabt. Ich wollte, ich könnte nun sagen, ich hätte mich nicht beteiligt, aber das wäre eine Lüge.«

Nichts war in ihren Augen zu lesen, als sie mich bat, fortzufahren.

»Am Morgen danach fragte der Feldwebel, ob die Frau noch lebte.« Ich sah auf meine Hände hinunter. »Wir waren vielleicht ausgehungert, aber keine Mörder. Tatsächlich ließen wir bald von ihr ab, und den Rest der Nacht verbrachten wir damit, sie trösten zu wollen.« Ich lächelte bitter. »Manchmal verstehe ich uns Männer auch nicht. Ja, sie lebte und es ging ihr nicht schlecht, sie hatte vielleicht den einen oder anderen blauen Fleck, das war alles.«

»Nicht ganz«, hörte ich Lea.

»Nicht ganz. Ja. Auf jeden Fall suchte der Feldwebel einen anderen Soldaten aus, der sie zurück ins Tal bringen sollte, aber sie weigerte sich. Sie sagte, sie wolle mit mir gehen. Der Feldwebel war überrascht, wie wir alle. Allerdings war es ihm auch einerlei. Also stimmte er zu, und ich erhielt den Auftrag, sie zurückzubringen. Der Turm war einige Wegstunden von der Siedlung entfernt, und der Pfad führte durch einen Wald. Im späten Herbst waren hier verstärkt Wölfe und auch Bären gesichtet worden. Vielleicht hatte auch der Feldwebel Gewissensbisse, wer will das sagen?«

»Warum wählte sie Euch?«

»Ich fragte sie das später auch. Ich war nicht brutal zu ihr gewesen, ließ sie anschließend in meinem Bett in Ruhe schlafen. Ich dachte, das wäre es gewesen, aber nein. Die Antwort ist einfach. Es war die Tatsache, dass ich ihr Wasser, Tuch und Seife zum Waschen gebracht hatte und sie hielt, als sie weinte.«

Sie nickte langsam. »Wie ging es weiter?«

»Noch an diesem Tag, während wir durch den Wald unterwegs waren zum Dorf, zogen die Wolken auf. Dichter Schnee hinderte schon im Wald unser Vorankommen, und erst am Abend erreichten wir die Siedlung, völlig erschöpft. Ich trug sie den größten Teil der Strecke, und ich sage Euch, dass ich selten so erfreut war, einen warmen Raum zu betreten, als ich den Bauernhof erreichte, der ihr Heim war. Auch wenn ich nicht willkommen war. Die Bauern wussten, was ihrer Tochter widerfahren war, aber sie half mir, sie sprach nur von den anderen. Abgesehen davon trug ich Rüstung und Schwert. Sechs Tage blieb ich auf dem Bauernhof, dann machte ich mich wieder auf zum Wehrturm.«

»Was war geschehen?«

»Als ich dort ankam, fand ich sie alle. Der Feldwebel hielt ewige Wache auf den Zinnen des Turms, er war hart wie ein Stein, als ich ihn fand. Die anderen … Sie hatten sich gegenseitig angefallen, fast zerfleischt. Einer, des Lesens und Schreibens kundig, hatte mit seinem eigenen Blut eine Warnung an die Wand geschrieben: Es kommt, es sucht, es frisst

»Sie haben sich gegenseitig umgebracht?«

Ich fuhr mir über die Stirn. »Ich weiß es nicht. Ich sage mir, dass es so war. Die Einheimischen jedoch sprachen von einem Wesen, einem Eisdämon, der mit dem Winter vom Pass herunterkommt und sich seine Opfer sucht. Man sagte, er möge die Wärme des Bluts und treibe seine Opfer in den Wahnsinn. Blut gab es genug im Turm und Wahnsinn wohl auch.«

Sie blickte gedankenverloren in ihren Becher. »Vielleicht habt Ihr Recht. Auch ich hörte schon Geschichten, in denen diejenigen, die eingeschneit wurden, den Verstand verloren. Seltsames geschieht mit Menschen, wenn man sie einsperrt.« Sie blickte auf zu mir. »Ich beabsichtige jedoch, diesen Ort bei klarem Geist und guter Gesundheit wieder zu verlassen. Ich gedenke nun zu Bett zu gehen. Wo werdet Ihr schlafen?«

Ich lehnte mich zurück und lachte. »Im Bett, Sera, im Bett. Ihr müsst Euch um Eure Unschuld keine Gedanken machen. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr Euer Schwert zwischen uns legen. Oder auf dem Boden schlafen.«

»Die Götter gaben mir Verstand, Ser«, antwortete sie mit einem bedeutsamen Blick. »Meine Unschuld ist nicht das Problem. Die Kälte ist es. Und es gibt nur eine Decke.«

»Ich habe noch eine Lederplane in meinem Packen. Sie riecht vielleicht nicht so besonders gut, aber …«

Sie stand auf. »Ihr werdet es lächerlich finden, Ser, aber ich habe noch nie mit einem Mann zusammen in einem Bett geschlafen. Ich denke, es ist wahrscheinlich, dass ich Eure Wärme suche. Sollte dies geschehen, denkt Euch nichts dabei. Packt die Plane aus, lieber rieche ich Leder, als dass ich mich zu Tode friere.«

»Seid unbesorgt, ich werde mir nichts Übles dabei denken, solltet Ihr Euch an mich drücken. Wollt Ihr kein Versprechen von mir, dass ich nicht über Euch herfalle?«

»Entweder Ihr tut es, dann ist ein Versprechen nichts wert, oder Ihr tut es nicht, dann brauche ich es nicht. Ser Havald, ich kann eine gute Freundin sein. Aber Ihr werdet schwerlich einen übleren Feind finden.«

Ich sah zu, wie sie ins Bett stieg und sich am anderen Rand schmal machte. Sie wählte die Seite an der Wand. Ich bückte mich und zog das Bett mit lautem Knirschen von der Wand fort.

»An kalter Wand fällt die Luft«, erklärte ich ihr auf ihren fragenden Blick hin.

»Warum stellt man dann ein Bett so oft an eine Wand?«

»Weil es selten eine solche Kälte gibt.«

Ich rollte die Lederplane ab und breitete sie über unser Bett aus. Ihre Klinge Steinherz stand neben dem Tisch. Ich sah zu ihr hinüber. Sie schüttelte den Kopf. »Wenn ich ihn brauche, kommt er.«

Ich legte meinen Dolch unter mein Bündel, das mir als Kopfkissen diente, und begab mich zu Bett. Auf dem Tisch brannte noch immer die einsame Kerze. Mit einer Handbewegung und etwas, was sie undeutlich murmelte, verlöschte sie, und Dunkelheit umfing mich.

Eine Weile lag ich noch wach. Ich hörte ihre regelmäßigen Atemzüge. Dann schlief auch ich ein.

Als ich später erwachte, lag sie an mich geschmiegt, ihr Atem blies mir in mein Ohr, und ihr Geruch erfüllte meine Sinne. Im Kamin war das Feuer zur Glut heruntergebrannt, und im schwachen Schein des Feuers sah ich, dass die Eiskristalle die ganze Wand entlanggekrochen waren. Unser Atem hatte sich auf der Lederplane niedergeschlagen. Ich zog Lea näher an mich, bedeckte uns nun fast vollständig mit meinem Reiseleder und schloss die Augen. Das Letzte, was ich sah, waren die düster glimmenden Rubine von Steinherz’ Drachenkopf, die mich argwöhnisch zu mustern schienen.