40. Der Weg
Als ich in jener Nacht schlief, Leandras Haupt auf meine Brust gebettet, träumte ich nicht, plagten mich keine Erinnerungen. Ich schlief besser denn je zuvor. Ich war der Wanderer, der Schweinehirt mit der Todesklinge, und ich hatte mich zum ersten Mal anderen Menschen anvertraut. Es hatte Linderung gebracht.
Als man uns weckte, sahen wir das müde, aber zufriedene Lächeln von Simon und seinen Leuten.
»Wir können weiter.«
Das Stück Stein, das sie herausgeschlagen hatten, war gerade groß genug, um uns über die Walze durch die Scharte zu pressen, aber es klappte.
Varosch und Zokora eilten erneut vor, aber diesmal hinderten uns keine Fallen. Der Grund dafür war einfach: Ein weiterer von Balthasars Männern lag zweigeteilt auf dem Weg.
»Ich bin mir sicher, dass Lipko alle Fallen entschärft zurückließ«, sagte Varosch. »Balthasar versuchte sie wohl wieder zu aktivieren, aber er hatte nicht Lipkos geschicktes Händchen«, meinte Palus grinsend.
»Vielleicht wurden sie auch von etwas anderem aktiviert«, überlegte Zokora und musterte den Toten, als könnte er ihr Antwort auf diese Frage geben.
»Egal. Wie heißt es? Und da waren es nur noch elf!«, flötete Janos mit Genugtuung.
Wir gingen vorsichtig weiter.
Der Gang endete an einer schmalen Brücke über einem bodenlosen Abgrund. Als wir uns vorsichtig über die Brücke bewegten, sahen wir etwas im Schein der Laterne. Ein Seil lief quer über die Brücke, die Enden verschwanden im Dunkel.
Zokora schickte ihre leuchtende Kugel hinab, um zu sehen, was sich an den jeweiligen Seilenden befand. Zwei von Janos’ Männern hingen dort, gespickt mit Armbrustbolzen.
»Neun«, zählte Janos.
Weiter vorne, an einer Kante, lag ein abgetrennter Zwergenarm mit grauer, mumifizierter Haut. Obwohl er im Eis festgewachsen war, bewegten sich seine Finger. Wieder ließ Zokora ihr Licht in den Abgrund gleiten, dort fand sie auf einer Klippe einen der drei anderen Banditen und zwei untote Zwerge. Obgleich ebenso zerschmettert von dem Sturz wie der Bandit, schlug der eine immer noch auf den Leichnam ein.
»Acht«, flüsterte Sieglinde und schlug das Zeichen der Einigkeit.
Kurz darauf erreichten wir ein Schlachtfeld; mir war, als hätte ich es schon einmal gesehen. Ich machte eine flüchtige Bemerkung, und die anderen nickten.
»Seht.« Unter dem Eis, in einer tieferen Schicht, bemerkten wir die Abdrücke von Eisenstiefeln. Fast konnte ich erkennen, wessen Spuren es waren. Um uns herum lagen erschlagene, zerstückelte Zwerge. Wie viele es waren, konnte ich nicht genau sagen. Hier hatte sich das Erste Horn damals den Zwergen entgegengestellt. Eine Schlacht, die sich nun wiederholt hatte.
»Es werden wohl einst drei Mal dreizehn gewesen sein«, sagte Zokora nachdenklich. »Eine heilige Zahl bei den Zwergen. Und auch bei uns.«
Sie zog ihren Dolch und schnitt dem Zwerg vor ihren Füßen die Rune aus der Stirn, und mit einem leisen Seufzer fiel der Untote in sich zusammen.
Ich gab den Befehl, überall wo eine Rune zu sehen war, sie herauszutrennen. Als wir langsam weiterzogen, fanden wir drei weitere Leichen, einen der Wächter Balthasars, den letzten von Janos’ Männern und einen der drei anderen Banditen.
»Fünf«, rief Zokora. »Aber sie haben gut und tapfer gekämpft.«
»Nicht gut genug«, stellte Sieglinde trocken fest. »Das Erste Horn ist hier zweimal durch, ohne einen Verlust.«
Zwei Stunden später hob Varosch die Hand. »Hier.« Er deutete auf den Boden abseits des Weges. Dort lag noch einer der Männer des Barons.
»Was ist hier passiert?«, fragte Sieglinde. »Ich sehe keine Kampfspuren.«
Zokora trat aus dem Schatten. »Seht hier und hier. Er ist ausgerutscht, schlug mit dem Kopf gegen den Stein und hat sich das Genick gebrochen. Ein Unfall.«
»Vier«, sagte Varosch nur.
Plötzlich tauchte aus der Dunkelheit vor uns eine Tür auf, wieder Zwergenarbeit, diesmal aber war in den Stein der Tür etwas gemeißelt, ein in der Kälte schnaubender Eiswolf.
»Ich glaube, das ist der Tempel.« Leandra wandte sich mir zu. »Das ging schneller und leichter, als ich dachte.«
Jan trat hinüber zu der Tür und studierte sie. »Ich glaube, wir sind da.« Er hob die Hand.
»Nicht!«, rief Zokora hastig, aber es war zu spät. Ein gleißender Blitz entlud sich aus einer kleinen Rune über dem Tor, und der Gestank von verbranntem Fleisch drang uns in die Nase, noch während unsere Augen sich von dem blendenden Blitz zu erholen suchten.
Ein leises Grollen kam von links. »Werwolf!«, rief Janos, aber dann sprang das Biest auch schon vor. Es war deutlich größer als die Kreatur, die Simons Bruder gewesen war. Schon im ersten Ansturm riss es zwei meiner Männer zu Boden. Dann sprang es in die Dunkelheit davon.
»Verdammt! Sichern!«, rief ich, wütend über mich selbst, dass ich nicht besser Acht gegeben hatte. Ich eilte zu den Verletzten. Einem hatte das Biest den Kopf abgerissen, der andere lag blutend am Boden. Es war Joakim. Im ersten Moment dachte ich, es wäre nicht schlimm, dann sah ich, dass das Wesen ihm die Klaue von unten, unterhalb der Kette, zwischen den Beinen nach oben in den Magen gerammt hatte.
Ich kniete mich neben ihn. Er sah zu mir hoch und hielt meine Hand mit einer überraschenden Stärke fest. Dann weiteten sich seine Augen, er zuckte einmal, seufzte leise und starb. Ich erhob mich und sah die anderen an.
»Wir ziehen uns etwas zurück, in eine besser zu sichernde Position«, sagte ich und trat den Weg an. Eine Weile sprach niemand, wir sahen uns nur um und versuchten in der Dunkelheit etwas zu erkennen.
Die Stelle, die ich aussuchte, war nur von zwei Seiten zugänglich. Besser als nichts. Hier bezogen wir Stellung. Ich dachte an Jan und Joakim und an den Dritten, dessen Name mir nicht einfiel. Ich würde mir die Namen merken müssen. Verdammt.
»Dieses riesige Mistvieh«, brach Janos dann das Schweigen, »muss doch zu erwischen sein.«
»Ja. Aber wie?«, fragte Palus.
»Ich werde es mit etwas ködern«, schlug Zokora vor. Ehe einer von uns reagieren konnte, verschmolz sie mit dem Schatten und war nicht mehr zu sehen.
»Sie ist mir manchmal unheimlich«, sagte Simon.
»Manchmal?« Janos grinste. Seine gute Laune war ihm offenbar nicht vergangen.
»Ich mag sie. Sie ist irgendwie süß.« Alle sahen Varosch überrascht an.
»Sie ist was?«, fragte Janos entgeistert.
»Süß. Ich meine, die Art, wie sie schaut, wenn sie etwas amüsiert ….« Er sah unsere Blicke und brach ab.
»Ich glaube nicht, dass sie weiß, was Amüsement bedeutet«, bemerkte einer der anderen trocken. »Und wenn doch …« Er schüttelte sich.
»Ist ja in Ordnung«, beeilte sich Palus zu versichern. »Jedem das seine.«
Etwa eine halbe Stunde später hörten wir alle ein fürchterliches Geheul, gepaart mit einem Fauchen, das einem die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Der Laut erinnerte mich an einen Berglöwen, aber keiner, den ich je gesehen hatte, besaß dieses Lungenvolumen.
Etwas später kam sie zurück, ihr schwarzer Umhang und Kragen über und über mit Blut bedeckt.
»Es ließ sich nicht ködern.«
»Was habt Ihr getan?«, fragte einer der Leute vorsichtig.
Zokora bedachte ihn mit einem kurzen Blick. »Ich habe ihn aufgeschlitzt und vor seinen Augen seine Eingeweide ausgerollt. Dann habe ich …«
Sie erklärte es im Detail, bevor Leandra kreidebleich die Hand hob und sie bat, damit aufzuhören.
»Ist er tot?«
»Wer? Sternheim? Er war der Wolf, müsst ihr wissen.« Zokora legte den Kopf auf die Seite. »Ob er tot ist? Vielleicht nicht«, sagte sie mit offensichtlicher Genugtuung. »Aber ich glaube nicht, dass die sechs Teile wieder zueinander finden.«
Im Hintergrund hörte ich Würgen.
»Süß?«, fragte Palus Varosch.
Der sah zu Zokora hinüber. »Nun, vielleicht jetzt gerade nicht.«
»Drei«, sagte sie nur.
Nun, da der Werwolf beseitigt war, wandten sich Zokora und Leandra gemeinsam der Rune über der Tür zu. Sie mussten über Jans verkohlte Leiche steigen, ehe jemand auf die Idee kam, sie wegzuräumen und respektvoll an die Seite zu legen.
»Eine Schutzrune, sehr alt. Ich habe so etwas noch nie gesehen«, erklärte mir Leandra.
»War es Balthasar, oder ist sie schon länger hier?«
»Die Runenmagie ist alt, die Rune selbst jedoch frisch«, sagte sie. »Solange man sie sieht, hat sie noch Kraft. Wir müssen sie entladen, dann verschwindet sie.«
»Wie entlädt man eine Rune?«
»Man löst sie aus«, informierte mich Zokora. »Das klappt immer.«
Sie sah meinen Blick, und fast schien es mir, als ob sie lächelte.
»Hat nicht der bedauernswerte Jan sie schon ausgelöst?«, fragte ich und deutete vage in Richtung des Leichnams.
»Ja, aber sie hat immer noch Kraft. Es ist eine Rune, die zweimal zündet«, stellte Leandra fest. »Eine heimtückische Falle. Man denkt, sie hätte sich bereits entladen, und dann … zisch.«
»Gibt es keinen anderen Weg?«, fragte jemand.
»Wir kennen keinen«, antwortete Leandra. »Ich bin nicht so gut, dass ich eine solche Rune auflösen könnte, und Zokora ist keine Maestra, sondern eine Priesterin, es ist die falsche Magieform für sie.«
»Wartet hier«, sagte Janos und lief den Gang zurück, den wir gekommen waren. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis er wiederkam, und in dieser Zeit fanden wir keinen Weg an der Rune vorbei. Einer der Männer erklärte sich sogar bereit, sich zu opfern, aber im selben Augenblick stand Janos vor uns – über seinen Schultern baumelte die Leiche des Mannes, der auf dem Pfad gestürzt war.
»Aus dem Weg«, rief er. Er packte den Leichnam bei den Füßen, drehte sich im Kreis, einmal, zweimal, ließ los und warf so die Leiche gegen die Tür. Ein gleißend heller Blitz erstrahlte, gefolgt von Donnergrollen … Als der Blitz vor meinen Augen verblasste, war auch die Rune verschwunden. Rauch stieg von dem toten Banditen auf.
»Gut«, sagte Zokora.
Varosch trat an die Tür heran und studierte sie. »Ich habe diese Schlösser schon zweimal gesehen.« Er fuhr mit der Hand über die Kante. »Ich bin mir sicher, der Mechanismus ist … Autsch.« Es klickte. »Seht ihr. Ich sagte euch doch, ich bekommen die Tür …« Er krümmte sich plötzlich zusammen, zuckte und fiel zu Boden.
»Varosch!«, rief Leandra und eilte zu ihm.
Als wir ihn erreichten, lag er auf dem Rücken. Schaum und Blut liefen aus seinem Mund, seine Augen waren verdreht, die Augenlider flatterten, und es schien, als ob ihn eine unsichtbare Kraft in der Mitte anhob, um seinen Rücken wie einen Bogen zu formen.
»Drückt ihn nach unten!«, rief Zokora. »Er kann sich selbst etwas brechen! Schnell, beeilt euch!« Ich tat, wie geheißen, aber es war, als wäre sein Körper aus Stahl. Mit vereinten Kräften waren Janos und ich beinahe nicht im Stande, ihn wieder in die Waagerechte zu bringen. Unter meinen Fingern spürte ich, wie Knochen brachen und steinharte Sehnen rissen. Zokora kramte derweil in ihrem Beutel, entnahm ihm ein Glas mit einer lebenden Spinne darin, nahm diese heraus, biss die Spinne entzwei und drückte das grüne Blut über Varoschs offenem Mund aus.
Varosch sackte in sich zusammen.
»Was bei den Höllen …«, rief Leandra.
»Es war Gift an der Tür«, gab Zokora Antwort, ohne von Varosch aufzusehen. Sie massierte seine Kehle. »Es löst den großen Tanz aus. Kaum jemand überlebt das. Er hat Glück, dass ich dabei bin.«
»Was ist mit ihm?«
»Lasst uns zu der Stellung zurückgehen«, sagte Zokora, »dann erkläre ich es euch.« Wir nahmen ihn vorsichtig auf und zogen uns zu unserem Lager zurück. Dort untersuchte sie ihn.
»Was könnt Ihr uns sagen?«, fragte Leandra, als die Dunkelelfe mit ihrer Untersuchung fertig schien.
»Es gibt einen Wahnsinn, der Ähnliches auslöst. Aber dies hier war Gift, ein Gift, das ich gut kenne. Der Wahnsinn ist nicht heilbar, aber dieses Gift wird seine Wirkung verlieren.« Zokora sah uns alle an. »Er wird es überleben. Aber er hat sich den Rücken gebrochen. Hier, hier und hier. Die gebrochenen Rippen und Sehnenrisse … all das heilt. Aber er wird ein Jahr nicht laufen können. Vielleicht länger!«
»Wird es so lange dauern, bis er wieder zusammenwächst?«, fragte einer der anderen.
Zokora schüttelte den Kopf. »Er wird nicht von selbst zusammenwachsen. Aber es wird ein Jahr dauern, bis ich mit einer Heiltraube wiederkommen kann. Dann kann ich ihn behandeln.«
»Ich werde eine Möglichkeit finden, Euch zu bezahlen«, sagte ich zu Zokora.
Bevor ich reagieren konnte, war sie aufgesprungen, hatte ihre klauenbewehrten Handschuhe an meinem Hals und zischte mich an. »Rigurd hat dafür bezahlt! Beleidige mich nicht!«
»Langsam«, gab ich zurück und versuchte ihrem rotglühenden Blick standzuhalten.
»Zokora«, sagte Leandra sanft. »Beruhigt Euch, bevor ihr euch gegenseitig umbringt.«
Zokora holte tief Luft und löste ihre Hände vorsichtig von meinem Hals. Genauso vorsichtig nahm ich meinen linken Dolch von der Stelle hinter ihrem Ohr.
»Als ich mich auf die Jagd vorbereitete, bat ich die Göttin um Mitstreiter«, sagte sie dann etwas leiser. »Ihre Heilung ist meine Pflicht.«
»Ich wollte Euch nicht beleidigen.«
»Ich weiß«, sagte sie. Sie kniete sich wieder neben Varosch. »Wir müssen ihn warm halten.«
Ich entfernte mich etwas, und Leandra folgte mir. »Verflucht, ist sie schnell«, sagte ich dann.
»Das klingt, als würdet Ihr sie bewundern«, sagte Janos, der sich zu uns gesellte.
»Ja. Aber sie könnte sich vielleicht entschuldigen.«
»Ich glaube nicht, dass Dunkelelfen dieses Wort kennen«, meinte Leandra mit einem Lächeln.
»Gift und Magie. Ich mag diesen Kerl immer weniger«, sagte Janos.