21. Die Suche nach Martin
Kaum hatte ich den Teller mit dem letzten Kanten Brot abgewischt, stand Eberhard schon neben uns. »Seid Ihr fertig? Ich meine, ich will nicht …«
Ich seufzte. »Ja, Wirt, wir sind fertig. Wenn Ihr so großzügig wärt und mir erlaubt, noch einen letzten Schluck Tee zu trinken …«
»Ich wollte Euch nicht bedrängen, es ist nur so …«
»Dass Ihr uns bedrängen wollt«, ergänzte Leandra. »Es ist gut, Eberhard. Wir sind fertig.« Sie griff Steinherz. »Hat der andere Knecht etwas mitbekommen?«, fragte sie, als ich meinen Tee austrank und aufstand.
Die Briganten waren wie üblich noch nicht wach, nur die anderen Gäste sahen uns spekulierend zu. Ich warf einen Blick in die Runde: Einige schauten weg, anderen stand die Neugier derart deutlich ins Gesicht geschrieben, dass ich beinahe damit rechnete, sie würden aufstehen und sich neben uns aufstellen, um besser zuhören zu können.
Wir folgten dem Wirt in die Küche, die überraschend groß und geräumig war. Der Raum wurde von einer Reihe von Herden in der Mitte beherrscht, eine Konstruktion, wie ich sie so noch nie gesehen hatte. Es waren vier Stück, nebeneinander aufgebaut. Jeder von ihnen besaß eine zentrale Röhre, die in einen Abzug mündete, ähnlich dem über einer Esse in einer Schmiede, und eine Eisenplatte als Oberfläche, in die vier Öffnungen geschnitten waren. Alle vier Herde waren in Betrieb, aber nur an zweien wurde gekocht. Es war Maria, die uns einen verlegenen Blick zuwarf, während sie mit Schüsseln und Pfannen hantierte. Der Boden war mit denselben Steinplatten ausgelegt wie der ganze Hof, und es gab hier vier Fenster, alle fest verschlossen und die Ritzen mit getalgtem Hanf abgedichtet, sowie zwei weitere Türen.
Vier große Öllampen erhellten den Raum. Die Wände waren mit Schränken und Regalen voll gestellt, in einer Ecke stand ein großer Schlachtblock. Selbst mit allem, was zu einer Küche dazugehörte, war der Raum immer noch überdimensioniert.
Eberhard interpretierte meinen Blick richtig. »Mein Urahn fand alles so vor, wir haben nichts verändert.« Er schluckte. »Wenn Hochbetrieb ist, können hier mehrere Leute gleichzeitig kochen, ohne sich in die Quere zu kommen.«
»Ja«, sagte Leandra. Sie nickte Maria freundlich zu. »Das ist sicherlich nützlich für einen Gasthof.«
»Ähm … das hier ist der Weg zum Hof«, sagte Eberhard und wies auf eine der Türen. Ich musterte sie. Sie war nicht minder stabil als die Tür zum Gastraum: eiserne Türangel, verstärkte Bänder und Nägel, um eine Axt stumpf zu machen.
Ich dachte an meinen Traum zurück. Wenn der Gasthof einmal eine Garnison gewesen war, dann machte die stabile Bauweise Sinn. Das Einzige, was ich nicht verstand, war der Erhaltungszustand. Wenn alles aus dieser längst vergangenen Zeit stammte, dann hätte ich etwas mehr Verfall erwartet.
Eberhard öffnete die Tür, und wir sahen uns zusammen die Eiswand dahinter an. »Nun, hier ist er wohl nicht durch«, sagte ich dann.
Hier in der Küche war die Luft besser, vielleicht einfach nur deshalb, weil die Essensgerüche angenehmer rochen als nasse Wollsocken. Unter der Decke hingen an langen Schnüren unterschiedliche Gewürze; auch sie trugen ihren Teil dazu bei, dass es hier besser roch. Eberhard wollte die Tür wieder schließen, aber ich hielt ihn zurück.
»Wartet einen Moment«, sagte ich ihm. Die Wärme der Küche hatte den Schnee an der Tür teilweise tauen lassen; es gab einen kleinen Spalt nach oben, durch den kalte, sehr kalte Luft nach unten fiel. Kalt, aber frisch. Ich atmete tief durch. Die Küche war warm, der einzige Raum, den ich bisher gesehen hatte, der dieser Kälte wirklich trotzen konnte. Auch Leandra genoss verstohlen die frische Luft. Mit einem gewissen Bedauern wies ich den Wirt an, die Tür wieder zu schließen.
Ich sah mich noch einmal in der Küche um, bevor wir Eberhard zur nächsten Tür folgten. Ich hatte mittlerweile irgendwie das Gefühl bekommen, dass die Kälte ewig dauern würde, und ich sah uns schon um die vier Herde sitzen und das letzte Feuerholz einwerfen. Ich rief mich selbst zur Ordnung. Egal, wie seltsam sich der Sturm verhielt, irgendwann würde er weiterziehen. Die Tür zum Vorratsraum war abgeschlossen, wieder mit einem jener kostbaren Schlösser. Während ich Eberhard zusah, wie er das Schloss öffnete – es hing ein wenig –, erinnerte ich mich wieder an den Anblick des Sturms. Es war nicht normal. Unwillkürlich fröstelte ich, als ich an das dachte, was Zokora gesagt hatte: dass der Sturm sich hier zentrieren würde. Aber auf der anderen Seite hatte Leandra gesagt, dass es gar nicht möglich wäre, einen Sturm dieser Größe magisch zu beeinflussen.
Hinter der Tür befand sich eine Treppe. Der Wirt nahm eine Laterne von einem Haken direkt hinter der Tür und zündete sie an.
»Noch ein Keller?«, fragte ich überrascht, als der Wirt sich anschickte, die Treppe hinunterzugehen.
»Ja. Bis auf den Stall sind alle Gebäude unterkellert.«
Leandra blieb überrascht stehen. »Alle?«
Der Wirt nickte. »Die meisten Kellerräume verwenden wir gar nicht.« Er blieb auf einer Stufe stehen und sah zu uns hoch. »Deshalb war ich ja so überrascht, dass es unter dem Turm noch weiter nach unten ging. Es gibt hier unten mehr als genug Platz.«
Wir folgten ihm die Stufen hinunter. Sie führten auf eine Plattform, und von dort aus machte die Treppe einen Knick zurück, so dass wir wieder unter der Küche herauskamen. Der Raum dort folgte dem Grundriss der Küche über uns, unschwer an dem Fundament für die Herde zu erkennen: ein massiver gemauerter Block, zur Abwechslung aus Ziegelsteinen, der die Decke hier stützte. Ich sah mir die Decke an.
»Man kann sagen, was man will«, meinte Lea, die meinen Blicken folgte. »Sie haben stabil gebaut.«
Das stimmte. Auf die Verwendung von Holz hatte man verzichtet. Die Decke wurde von fünf mächtigen steinernen Trägern gehalten, auf denen die Steinplatten auflagen. Säulen stützten den Raum und diese Träger in regelmäßigen Abständen.
Dieser Keller war, wie der unter dem Turm, zwei Stockwerke hoch. An der einen Wand beherrschten acht riesige Weinfässer den Raum. Ich sah von ihnen zur Tür. Der Wirt bemerkte es.
»Der Küfer hat sie hier zusammengebaut«, beantwortete er meine unausgesprochene Frage. Ich nickte. Säcke, Fässer, ein Handkarren, Regale mit Flaschen.
Ich studierte das eine Regal. »Nun, der Fiorenzer wird uns so schnell nicht ausgehen.« Ich blickte zu Eberhard hinüber. »Ihr habt hier ein Vermögen gelagert.«
»Ein Vermögen in Waren. Der Gasthof geht gut, vor allem in den Sommermonaten. Ich habe keinen Grund zur Klage.«
»Allein das Gebäude«, sagte Leandra. »Nur in der Kronburg gibt es Vergleichbares.«
»Ich kenne es nur so. Ehrlich gesagt, als ich das erste Mal mit meinem Vater unser Land verließ, um ihn auf seiner Einkaufsreise zu begleiten, war ich überrascht, wie klein und verbaut andere Gasthöfe sind. Ich wollte, ich könnte sagen, wir hätten ihn so gebaut.«
Eine Türöffnung ohne Tür führte unter den Gastraum. Hier war nur Gerümpel, aber der Raum war genauso sorgsam gefertigt. Die Wände waren mit Regalen voll gestellt, deren Art ich kannte. Sie waren aus Holz und so nachgedunkelt durch das Alter, dass sie beinahe schwarz wirkten. »Waffenregale. Für Hellebarden und Schwerter.« Leandra sprach das aus, was ich dachte. »Die Waffenkammer.« Sie schlang ihre Arme um sich. »Es ist kühl hier.« Kühl, ja, aber nicht so kalt, wie ich gedacht hatte. »Und trocken.«
Unsere Festungsbauer könnten hier noch etwas lernen, dachte ich. Auch hier war der Boden mit Steinplatten ausgelegt. Ich kannte mich in der Gegend nicht aus, also fragte ich den Wirt. »Sag, gibt es einen Steinbruch hier in der Nähe?«
Er sah mich überrascht an. »Nicht, dass ich wüsste. Warum?«
Ich musterte den Boden unter mir, ging auf und ab, stampfte mit den Füßen auf. Nichts. Es klang nirgendwo hohl.
Kein Wunder, dass das Haus noch stand. Aus dem Stein des Gebirgsausläufers gehauen, aus Stein errichtet … hier hatte jemand wirklich den Anspruch gehabt, für die Ewigkeit zu bauen.
Wie viele dieser Steinplatten mochten es wohl sein? Hunderte. Sie waren alle im Schnitt um die vier Ellen lang und breit und eine halbe Elle dick. Eine wie die andere lagen so exakt aneinander, dass man nicht die Klinge eines Dolches zwischen zwei Platten schieben konnte. Und ich mochte wetten, dass jede einzelne genau im Lot lag.
Ich stellte mir die Wagenzüge vor, die es benötigt hatte, um so viele Steinplatten hierher zu transportieren. Dutzende, vielleicht Hunderte von schweren Transportwagen, gezogen von vielleicht vier, wahrscheinlich sechs Ochsen. Doch woher waren sie gekommen? Wenn ich meinem Traum glauben konnte, nicht von jenseits des Passes. Dort gab es die Barbaren; das besiedelte Land war hier zu Ende. Lassahndaar war die nächste Stadt, gute vier Tagesritte Richtung Süden. Vielleicht zwei Wochen mit schweren Ochsengespannen.
Das Imperium von Thalak war seit über zwei Generationen der Moloch, der, aus dem Südosten kommend, so langsam alle Königreiche zwischen sich und uns auffraß. Ich hörte von gewaltigen Armeen, gar zehntausend Mann stark, ewig langen Versorgungstrossen: Die Bevölkerung einer großen Stadt war unterwegs, um uns zu vernichten. Die Unaufhaltsamkeit dieses Molochs hatte mich immer fasziniert, die Logistik hinter dieser Armeeführung beeindruckt. Aber nun stand ich in einem leeren, staubigen Keller und hatte etwas gefunden, das mir noch mehr imponierte.
»Was ist das für ein Reich, das in einer menschenleeren Gegend eine solche Garnison errichtet?« Ich sprach laut aus, was mich beschäftigte. »Man muss sich den Aufwand vergegenwärtigen. Für diesen Hof hätte man zwei Burgen errichten können.«
»Ich glaube nicht, dass sie Burgen als Militärstützpunkte sahen«, sagte Leandra. »Ich habe mal gelesen …«
»Ja. Ich auch. Das alte Imperium basierte nicht auf dem Lehensprinzip, sondern unterhielt eine stehende Armee. Ich frage mich nur, wie man sich das leisten konnte.«
»Offensichtlich geht es«, sagte Leandra trocken. »Thalak macht es auch so.«
Ich sah mich noch einmal um. »Also gut. Hier ist Euer Martin auch nicht.« Ich sah zum Wirt hinüber. »War auch heute Nacht abgeschlossen?«
Er schüttelte den Kopf. »Normalerweise schließe ich nie ab. Aber …« Er zögerte. »Heute Morgen musste Maria in der Küche einspringen. Da ich nicht wusste … ich habe die Tür abgesperrt, weil mir einfach wohler dabei war.«
Das konnte ich gut verstehen.
»Was ist mit dieser Wand?«, fragte Leandra.
»Was soll mit ihr sein?« Ich sah nichts. Auch der Wirt blickte überrascht.
»Schaut«, sagte Leandra. »Die Waffenregale stehen an allen Wänden, links und rechts des Eingangs. Nur hier fehlen zwei.« Sie wies auf die seitliche Wand. Wären wir im Gastraum über uns, wäre es eine Außenwand des Gasthofs.
»Und hier sind zwei Regale zu viel. Seht Ihr? Alle anderen Regale stehen, obwohl sie offensichtlich alt sind, fest und sicher. Wahrscheinlich sind sie an der Wand fixiert.«
»Klar. Wenn so ein Regal voll mit Äxten oder Schwertern umfällt, will ich nicht in der Nähe sein«, meinte ich.
»Ja.« Sie musterte die freie Stelle. »Dort sind Löcher in der Wand, wahrscheinlich für die Haken. Hier standen einmal zwei Regale. Und die stehen nun hier.« Die Regale, von denen sie sprach, befanden sich unter der Eingangstür zum Gasthof.
Der Gasthof war in einem Karree gebaut. Man ritt durch ein großes Tor hinein. Drehte man sich dann links herum, hatte man etwa fünfzehn Schritt Mauer mit Wehrgang neben sich und sah auf die Tür zum Hauptgebäude, dem eigentlichen Gasthof. Dieses Gebäude stellte zusammen mit dem Wehrturm die linke untere Ecke dar. Die linke Längsseite bestand aus der Schmiede, die obere linke Ecke bildete sich aus der Schmiede und dem Lager, das zwei Drittel der oberen Linie des Karrees darstellte. Die Stallanlagen schlossen sich dort an, gingen bis in die rechte obere Ecke, liefen dann wieder nach unten, wiederum um die rechte untere Ecke, und endeten etwa zwölf Schritt rechts vom Tor entfernt.
Wenn die Kelleranlagen dem Grundriss der darüber befindlichen Gebäude entsprachen, dann sollte dies eine Außenwand sein. Aber Leandra hatte Recht: Die Regale waren nicht so exakt ausgerichtet wie die anderen und standen etwas schief.
Es brauchte nicht lange, und wir hatten eines der Regale zur Seite geräumt. Genauer gesagt, abgerissen. Auch wenn die Regale stabil wirkten, sie waren es nicht mehr. Das Holz selbst war noch überraschend gesund, aber die Verzapfung war nicht mehr so fest, wie sie einmal gewesen war. Hinter den zwei schweren Waffenregalen fanden sich nicht Steinblöcke oder Ziegelsteine, sondern zerkleinertes Felsgestein, das von einfachem Mörtel zusammengehalten wurde: eine zugemauerte Tür.
Der Wirt sah sich den Mauerdurchbruch an und kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Ich habe keine Ahnung«, beantwortete er unsere unausgesprochene Frage. »Ich habe nichts davon gewusst.« Er kratzte mit dem Finger an dem Mörtel zwischen den Steinen, und er bröckelte ab. »Das ist alt. Vielleicht war das mein Vorfahr. Nur warum?«
»Ich glaube, das werden wir bald herausfinden«, sagte ich. »Aber das kann warten. Auch hier ist Euer Knecht nicht hindurch, die Steine sind unberührt.«
»Was war der letzte Raum? Die Waschküche?«, fragte Leandra.
»Ja. Es gibt dort aber keine weiteren Türen. Dort kann er auch nicht verschwunden sein.«
»Schauen wir mal«, schlug ich vor. Als wir gingen, warf ich einen letzten Blick auf die zugemauerte Tür.
Die Waschküche lag neben der Küche. Genau wie die Küche hatte sie auch eine gemeinsame Wand mit dem Turm. Rechts von ihr lag der Gang, der zum Turm führte. Die Waschküche hatte keinerlei Fenster. Es war ein großer, rechteckiger Raum, vielleicht zwanzig mal zwölf Schritte. Beherrscht wurde dieser von sechs großen, eisernen Kesseln, jeder von ihnen vielleicht sechs Fuß im Durchmesser und drei Fuß hoch. Sie standen auf rechteckigen Fundamenten über Kohlegruben, die zu drei Vierteln abgedeckt waren. Auf der einen Seite wurden sie befeuert, von der anderen Seite führte ein Steg an die Kessel heran, links und rechts des Stegs deckten steinerne Platten die Befeuerung ab, und ein gemauerter Kamin führte hinter jedem Kessel an der Wand entlang nach oben. Der andere Knecht des Wirts, Timothy, stand auf einem Holzbänkchen auf einem dieser Stege und rührte mit einer langen, weiß gebleichten Stange einen der Kessel um.
Er blickte unsicher vom Wirt zu uns, aber Eberhard bedeutete ihm mit einer Geste, uns zu ignorieren und weiterzuarbeiten. Ich hatte den Eindruck, dass er dies auch mit vermehrtem Eifer tat.
Ich folgte den Kaminen mit meinem Blick. »Sie führen in den Wänden zwischen den Zimmern hoch. Hier drüber liegt der große Schlafraum. Er hat keine eigene Feuerstelle, er wird von hier aus beheizt«, erklärte der Wirt und wies nach unten. »Die Luft für das Feuer kommt über die Schächte aus dem Boden.«
Auf der anderen Seite, an der Wand zu dem Gang zum Turm, war über die ganze Länge eine Reihe steinerner Tröge gebaut. An einem Ende, rechts von der Tür, befand sich ein Brunnen mit einer seltsamen Konstruktion und einer Kurbel.
Ich ging zu dem Brunnen hin und sah ihn mir an. Auf einer hölzernen Trommel liefen rostige Eisenketten, und an diesen waren an der Seite Ledereimer angebracht.
»Man dreht hier, und das Wasser wird in den Eimern nach oben befördert«, erklärte der Wirt. »Diese Räder greifen ineinander, das große mit der Kurbel dreht sich viermal langsamer als das kleine.«
Ich sah ihn an, und er wirkte plötzlich etwas verlegen. »Als ich klein war, hat mich das fasziniert. Es ist eigentlich ganz einfach: Das größere Rad hat viermal so viele Zähne wie das untere.«
Von mir aus. Mich faszinierte es nicht sonderlich. »Das Wasser landet in diesen Trögen?«
Er nickte und zeigte mir eine hölzerne Schute, die man unter die Stelle schieben konnte, wo die Eimer entleert wurden. Diese Schute konnte man drehen, entweder um Eimer für die Waschbütten zu befüllen oder aber um das Wasser in die Tröge zu leiten.
Ich stand da, sah mir das an und kratzte mich am Hinterkopf. »Ich verstehe das nicht. Wenn dies der Stall wäre, kann ich mir den Sinn denken, aber man wird ja wohl keine Pferde hierher führen, um sie zu tränken.«
Der Wirt sah ratlos drein. »Ich verstehe auch nicht alles, was hier gebaut wurde«, sagte er dann.
Obwohl unter zwei großen Kesseln das Feuer glühte, war es hier nicht so warm wie in der Küche. Nebelschwaden standen im Raum, und die Beleuchtung war schlecht, nur eine Öllampe spendete Licht.
»Du sagtest, hier gäbe es keine weiteren Türen.« Ich wies auf ein hölzernes Portal. Diese Wand hätte zum Turm führen sollen. Sie hätte links neben dem Eingang zum Turm sein müssen, aber ich war mir sicher, dass sich dort keine Tür befand.
»Ach, das«, sagte der Wirt. »Das ist mit Sicherheit der seltsamste Raum des Gasthofs. Schon als Kind habe ich gerätselt, was für einen Sinn er haben könnte.« Er öffnete die Tür und hielt die Laterne hoch, damit wir besser sehen konnten. Der Raum war etwa sieben Schritt tief und zwölf Schritt breit, die Breite der Waschküche. Der Boden hier war mit anderen Platten ausgelegt; sie hatten eine rötliche Farbe und waren grobporig. Ging man durch die Tür, so befand sich auf der linken Seite eine Reihe von Stufen aus demselben porösen Stein, in der Form eines auf der Seite liegenden U um eine Art Altar ausgerichtet. Dieser Altar war lediglich ein großer steinerner Kasten, in dem sich wiederum einzelne, kopfgroße Steine befanden.
Von der Tür aus rechts führte eine Treppe hinunter in einen offenen Keller. Und das war wirklich der ungewöhnlichste, den ich je gesehen hatte. Die Wände dieses Kellers waren – genauso wie die Treppe – mit einem seltsamen Stein ausgekleidet. Er glänzte in einem tiefen Blau, und an der Treppe sah man, dass die Platten kaum die Hälfte meines Fingers dick waren. Der Mörtel, der hier verwendet worden war, war anders als der am Mauerdurchbruch. Er war steinhart. Das Faszinierendste jedoch war, dass es jemand irgendwie geschafft hatte, in die Platten Bilder zu malen. Oder genauer gesagt: Die über die Platten verteilten Zeichnungen ergaben ein einzelnes, großes Bild.
»Was ist das?«, grübelte ich laut. »Irgendein Fisch? Seit wann kann man auf Fischen reiten?« Wasser war nicht mein Element. Schiffe konnten untergehen. Ich war es seit meiner Jugend gewohnt, Rüstung zu tragen, und darin schwamm es sich schwer. Ich hatte das Meer kennengelernt, angefreundet hatte ich mich mit ihm nicht.
»Das ist ein Delfin«, erklärte Leandra.
»Die gibt’s wirklich?«
»Ja. Und man kann auf ihnen reiten und mit ihnen spielen. Ich habe es selbst schon gesehen. Sie sind intelligent und sehr freundlich. Sie helfen sogar Ertrinkenden und bringen sie ans Ufer.«
Ich sah sie ungläubig an. »Du willst mir einen Bären aufbinden, nicht wahr?«
Sie schüttelte den Kopf so heftig, dass ihr Zopf umherflog. »Nein, es gibt sie wirklich. Ich finde, dass sie nett aussehen mit diesem Lächeln.«
Das konnte nur eine Frau sagen. Aber sie hatte Recht: Die Fische grinsten.
Ich sah mich noch mal um, der Raum ergab absolut keinen Sinn für mich. An einer seitlichen Kante entdeckte ich ein von einem Holzzapfen verschlossenes Loch.
»Was ist das?«
Der Wirt winkte mir zu. »Ich zeige es Euch.« Wir gingen wieder aus dem Raum heraus. Die großen Waschbütten waren, wenn man von der Küche aus den Raum betrat, an der linken Wand, der zur Küche, montiert. Hinter den Trögen lief eine tiefe Rinne die Wand entlang. Ich sah mir das verständnislos an, aber Leandra lachte.
»Ich habe es herausgefunden. Hier.« Sie trat an eine der leeren Bütten und stemmte ihre Schultern gegen den Hebel an der Seite. Langsam kippte der Waschzuber.
»Das Wasser läuft dann diesen Kanal entlang in das Bad. Es ist ein Bad!« Sie strahlte über das ganze Gesicht und hüpfte freudestrahlend von einem Fuß auf den anderen, wie ein kleines Mädchen, das einen Sack voll Gold gefunden hatte.
»Das ist zu groß für ein Bad«, teilte ich ihr mit. Es machte nicht wirklich Sinn, mehr als eine Sitzwanne zu füllen. Das Wasser, das man für den blauen Raum bräuchte …
»Nicht so ein Bad. Ein Bad, um ganz darin unterzugehen, darin zu schwimmen!«
»Wer sollte so etwas tun?«
Sie sah mich an. »Ist dir kalt?«, fragte sie mich.
»Natürlich.« Was für eine Frage.
»Stell dir mal vor, du könntest auf der Treppe bis zum Hals in heißem Wasser sitzen. Richtig schön warm.«
So gesehen … Unabhängig von dem aktuellen Sturm war die Lage des Gasthofs nicht gerade warm. Hier am Fuß des Gebirges kam der Winter früh. Der Pass war zwar acht Monate im Jahr offen, aber der Sommer war wesentlich kürzer. Der Hof war für die Kälte gebaut, überall Kamine, die andere Räume mit beheizten, und reichlich Feuerstellen. Ja, die Vorstellung hatte etwas. Vor allem, da in dieses … Bad … mehr als eine Person hineinpasste.
Leandra wandte sich an den Wirt. »Ihr habt Recht, der Junge ist nicht hier. Wahrscheinlich hat der Baron nicht richtig aufgepasst. Aber hier ist er nicht.«
»Dann weiß ich, wo er ist«, sagte der Wirt leise und klang fatalistisch.
Im Bauch des Werwolfs, meinte er wohl. Irgendjemand musste bald die Tür zum Lager öffnen, in dem die Bestie angeblich festsaß, und ich wusste auch schon, wer das sein würde.
»Könntet Ihr mir einen riesigen Gefallen tun?«, fragte Leandra den Wirt.
»Sicherlich, aber welchen?«
»Auch wenn wir, wie Ihr sagt, genug Brennstoff haben, weiß ich, dass ich viel von Euch verlange … aber könntet Ihr mir das Wasser aufheizen lassen und das Bad befüllen?«
Der Gesichtsausdruck des Wirts verriet mir, was er davon hielt, aber er stimmte tapfer zu. Jetzt wusste ich auch, warum dieser Eimerbrunnen so gebaut war. Um das Bad mit warmem Wasser zu fluten, musste man die ganzen Waschzuber auffüllen, das war eine Menge Wasser. Wie lange brauchte das wohl? Ich begab mich an den Brunnen und begann die Kurbel zu drehen. Es ging richtig schwer, es würde Knochenarbeit werden, die Zuber voll laufen zu lassen.
Ich wollte gerade etwas Entsprechendes sagen, als ich einen Blick nach unten warf. Ich wollte nachsehen, ob die Eimer Wasser enthielten. Das taten sie. Und etwas anderes.
Martin.
Er hatte sich mit seinem Gürtel das linke Handgelenk an einen der Eimerhaken gebunden. Der Junge war eiskalt, Kopf, linker Arm und Schulter waren mit einer Eisschicht überzogen, die Kleidung nass, aber nicht gefroren. Außer ein paar Abschürfungen an Gesicht und Knöcheln beider Hände waren keine Verletzungen zu erkennen. Martin war erfroren. Die rechte Hand war zur Faust geballt. Es fiel uns auf, als wir ihn auf den Boden der Waschküche legten. Ich bog ihm die Hand auf; es knirschte, und hinter mir hörte ich, wie der andere Knecht sich erbrach.
Martin hielt eine Goldmünze in der Hand. Aber nicht irgendeine Goldmünze …