9. Zokora

 

Ich blickte auf meine Hände hinab. Ich fühlte mich unnütz, alt und verbraucht. Zwanzig Jahre wartete ich nun schon auf den Tod. Ich spürte mit jedem Tag, wie die Jahre mich schneller einholten.

Ich sah zu Lea hinüber. Gestern Abend hatte sie angemerkt, dass ich kaum älter als fünfzig Jahre aussah. Vor drei Jahren noch hatte ich ausgesehen wie dreißig, vor einem Monat noch hätte man mich für vierzig halten können. Das Tempo, mit dem die gestohlenen Jahre mich einholten, verstärkte sich. Ein Monat, vielleicht zwei … Ich rechnete nicht damit, den Winter zu überleben. Lea. Sie trug eine Bannklinge, war vielleicht elfischer Abstammung, besaß die Magie … Sie sagte selbst, dass sie auch in hundert Jahren noch jung sein würde. War es das? War das die Last des Alters, dass man andere um sich herum sterben sah, bis man nur noch allein dastand? Wäre es anders, wenn man nicht allein war, wenn der Kreis der Jahre auch eine andere unberührt ließ?

Auf meinen Wanderungen war ich hin und wieder anderen begegnet, auf denen die Jahre leicht oder gar nicht lasteten. Man sah sich, nickte sich zu und verlor sich wieder aus den Augen.

Elfen, so sagte man, lebten Jahrhunderte oder seien gar unsterblich. Ich hatte hier und da einen Elfen gesehen, und ich glaubte den Legenden, denn die Augen in den jungen Gesichtern waren oft alt und weise. Ich sah immer noch auf meine Hände hinab und bemerkte nun zum ersten Mal, dass meine linke Hand leicht zitterte. Auch das war neu. Mein Gehör war nicht mehr das, als was ich es in Erinnerung hatte, und manchmal, wenn ich etwas sehen wollte, kniff ich die Augen zusammen und konnte es dennoch nicht immer klar erkennen. Ich war meinem Ziel nahe, noch wenige Monate, dann hatte ich es hinter mir, dann war vorbei, was schon viel zu lange währte.

Zwanzig Jahre hatte es gebraucht. Und jetzt kam sie, und ich wollte wieder leben.

Ich wusste, dass sie mich beobachtete. Sie war geduldig, hatte nicht noch einmal nach Roderic gefragt, mich nicht gedrängt. Die nächsten zehn Tage oder so würde ich diesen Ort wohl kaum verlassen, genug Zeit für sie. Wenn wir dies überleben würden.

Ich blickte auf von meinen Händen und sah ihr in die Augen, als plötzlich einer der Händler aufsprang.

»Hört ihr es nicht? Seid ihr alle taub?« Der andere Händler versuchte ihn zu beruhigen, aber der Mann riss sich los. »Ich bin nicht verrückt! Ihr müsst es doch hören!«

»Vielleicht, wenn du nicht so herumschreist.« Der Anführer der Briganten hatte sich zu dem Händler herumgedreht. »Wenn du nicht still bist, stopfe ich dir das Maul.«

Ich sah, wie sich Lea anspannte. Eben noch war alles verhältnismäßig friedlich gewesen, nun lag Gewalt in der Luft.

»Ich kann nichts hören«, sagte Sternheim vom anderen Tisch.

»Eben! Der Sturm hat aufgehört! Wir sind frei!«, rief der Händler und riss sich aus den Händen seines Kollegen los.

Verdutztes Schweigen und – Totenstille. Die meisten legten den Kopf zur Seite oder schlossen die Augen, um zu lauschen, und auch ich ertappte mich dabei, wie ich angestrengt hörte. Überraschte Augen sprangen auf, befreites Lachen war zu hören, hier und da ein erleichtertes Kichern. Der Händler hatte Recht, das endlos scheinende Geheul des Sturms war nicht mehr unser ständiger Begleiter, auch die Flammen in den Kaminen tobten nicht mehr, sondern brannten ruhiger.

Lea blickte auf zur Decke des Gasthofs, sah dann wieder mich an und lächelte.

»Es scheint, als habe sich Eure Prognose nicht bestätigt. Vielleicht wird es nicht so schlimm, wie Ihr denkt.«

»Es würde mich freuen, wenn ich mich irre«, antwortete ich ihr, aber meine Blicke lagen immer noch auf dem Händler. Der Mann war nicht besonders groß, aber stämmig. Seine Kleider waren gut, aber nicht fein, seine Hände kräftig. Ich mochte wetten, dass er die harten Zügel eines Fuhrwerks oft selbst in den Händen hielt. Eigentlich jemand, dem ich größere Selbstbeherrschung zugetraut hätte. Der Söldner ignorierte ihn mittlerweile, die Herrschaften unterhielten sich angeregt untereinander und griffen nach Dolch und Schwert, als ob sie irgendwohin aufbrechen wollten.

Der Händler machte sich unterdessen an der Eingangstür zu schaffen. Ich stand auf, begab mich in seine Richtung, aber es war die schlanke Gestalt, die schon gestern Abend, in ihren Umhang gehüllt, diese eine Ecke für sich beansprucht hatte, die ihm nun entgegentrat. Eine schlanke, behandschuhte Hand legte sich auf den Riegel der Tür.

»Händler«, hörte ich die Stimme. »Das willst du nicht tun.«

Eine Frau. Bei den Göttern.

»Und warum nicht?« Der Händler schien sich etwas gefangen zu haben, war nun eher überrascht als verärgert, dennoch ließ er seine Hand an der Tür.

Die Frau schlug zum ersten Mal die Kapuze zurück, und nicht nur ich blinzelte überrascht. Das rabenschwarze Haar floss wie eine dunkle Welle über ihre Schultern, die dunkelbraune Haut wirkte in der unsicheren Beleuchtung des Gastraums fast wie eine Ansammlung von Schatten. Ihre Gesichtszüge vereinten in sich die grazile Schönheit der Elfen und diese gewisse Wildheit, die allen ihres Volks eigen war. Eine Dunkelelfe.

Der Händler wich erschrocken zurück, machte das Zeichen der Einigkeit, als ob das die Frau auf der Stelle niederschlagen sollte. »Fasst mich nicht an!«, rief er, obwohl er nun schon einen guten Meter zurückgewichen war.

Ich war angekommen und befand mich etwas seitlich zwischen ihnen. »Beruhigt Euch, guter Mann«, sagte ich. »Sie tut Euch nichts.«

Der Händler sah zu mir hoch, ich war gut zwei Köpfe größer als er, aber er warf mir nur einen flüchtigen Blick zu. »Es ist ein Wunder, dass wir alle noch leben und nicht in dieser Nacht schon von ihrem blutigen Messer niedergemetzelt wurden!«

»Ich bin ein Gast wie du es bist. Nach altem Recht ist in einer Herberge kein Händel erlaubt«, erklärte sie ruhig.

»Und warum wollt Ihr verhindern, dass ich den Gasthof verlasse?«, rief er erbost. Seine Hand lag nun am Knauf seines Dolchs.

»Ser«, versuchte ich erneut einzuschreiten, abermals ignorierte er mich.

»Sagt es mir!«, forderte er, und zu mir gewandt: »Haltet Euch da heraus, alter Mann.«

Alter Mann. An einige Dinge musste ich mich noch gewöhnen.

»Ich will niemanden hindern, den Gasthof zu verlassen, auch wenn es nicht von hohen Geistesgaben zeugt.« Sie war immer noch ruhig, aber ihre dunklen Augen blitzten. Ich wusste, dass es sie gab, aber ich hatte noch nie zuvor einen Dunkelelfen gesehen. Sie war klein und zierlich, aber allein ihre Haltung zeigte, dass sie sich anders sah, es war fast schon eine Warnung, sie nicht zu unterschätzen. Sie nahm einfach mehr Raum ein, als man ihr im ersten Moment zugestehen würde. Doch ein zweiter Blick hätte zur Vorsicht mahnen sollen. Dieser Händler jedoch war blind.

»Aber es ist nicht klug, diesen Weg zu wählen. Versuch es vom Stall aus, dort ist das Tor größer.«

»Und warum nicht diese Tür öffnen?«

Sie hob den Riegel an und zog, die Tür öffnete sich knirschend, kleinere Eispartikel fielen herunter. Vor uns war eine weiße Wand aus Schnee, von einer glitzernden Eisschicht überzogen, welche den Konturen der Tür folgte.

»Deshalb. Der Schnee ist ungebrochen und hilft uns, unsere Wärme zu erhalten.« Sie legte die Hand auf das Eis. »Dieses Eis ist so kalt, wie Eis nun mal ist … aber nichts gegen das, was der Sturm an Wärme frisst. Dieses Eis schützt uns, ich will keine Wunde in den Panzer schlagen, der unser Leben bewahrt.«

»Der Sturm ist vorüber, Verfluchte!«, rief der Händler. »Wen schert das Eis denn noch?«

»Ser. Sie hat Recht. Der Sturm ist noch nicht …«

Er fuhr zu mir herum. »Ich sagte, haltet Euch heraus, alter Mann!« Und damit schob er mich mit aller Macht zurück, etwas, worauf ich nicht vorbereitet war. Ich stolperte über die Kante einer Bank, krachte mit dem Rücken gegen die Ecke eines Tischs und maß meine Länge auf dem Boden ab, viel zu überrascht, um darauf zu reagieren, als sich Lea neben mich hockte und mit einem Lächeln auf mich herabsah.

»Man muss immer auf alles vorbereitet sein, nicht wahr?«, sagte sie.

»Danke für den Rat«, antwortete ich. Wenigstens war dies meine Absicht, aber mir fehlte die Luft zum Sprechen. »Haltet hier keine Maulaffen feil, sondern sorgt dafür, dass er sich beruhigt«, versuchte ich zu sagen, aber meine Stimme war leise und kraftlos, und ich hatte Schwierigkeiten zu atmen. Was war nur geschehen?

Ihre Ohren jedoch waren gut genug, um mich zu verstehen. »Ich sehe, es geht Euch gut«, sagte sie, warf mir einen letzten Blick zu, stand auf und platzierte sich solide zwischen der Dunkelelfe und dem Händler.

»Ser.« Ihre Stimme war bestimmt und forderte seine Aufmerksamkeit. Aber es half seinen Manieren nicht auf die Sprünge. »Was wollt Ihr nun von mir? Wollt Ihr dieser Verfluchten Beistand leisten? Wäre es nicht Eure Pflicht, sie zu vernichten?«, fuhr er sie grob an.

Leandra verzog das Gesicht, als habe sie etwas Unangenehmes gerochen. »Sie ist ein Gast. Wie Ihr es seid oder ich.«

Ich hatte mich indes herumgewälzt und befand mich auf dem Weg, wieder aufzustehen. Zurzeit hatte ich das Stadium des vierfüßigen Kriechens erreicht. Eine übliche Zwischenstation zum aufrechten Gang. Jedes Kind kannte sie. Gleich würde ich stehen. Sobald ich wieder Luft bekam. Das war leichter gesagt als getan. Als mein Brustkorb sich endlich wieder hob, spürte ich den stechenden Schmerz im Rücken. Ich kannte diesen Schmerz von früher: Ich hatte mir an der götterverfluchten Ecke des Tisches eine oder gar mehrere Rippen gebrochen!

Ich erhob mich schließlich, stützte mich am selben Tisch ab, der meine Knochen gebrochen hatte, und warf einen Blick zurück in den Gastraum. Unser kleines Tableau, die Dunkelelfe, Leandra, der Händler und ich, wir waren im Zentrum der Aufmerksamkeit, wobei die Blicke weniger an mir haften blieben, sondern zwischen Leandra und der Elfe hin- und herpendelten.

Es war ein Kontrast, wie er stärker nicht sein konnte: Leandra, hoch gewachsen, schlank, athletisch, weißhaarig, die Elfe hingegen zierlich, einen Kopf kleiner und mit Haar wie dem Gefieder eines Raben.

»Wahrscheinlich ist sie es, die den armen Jungen zerfleischt hat!«, fuhr der Händler fort. Innerlich seufzte ich. Ich kannte das. Wahrscheinlich war der Mann zu spät aufgebrochen, hatte gehofft, den Pass noch erreichen zu können. Diese Rast hier kostete ihn Zeit und Geld, seine Reise, die vielleicht lange währte, schien nun sinnlos und kostspielig, er war frustriert, und hier stand eine, die geeignet erschien, Frust und Zorn ein Ziel zu bieten.

»Man hört doch, dass sie wie wilde Tiere sind!«

Ja, Ser, dachte ich, macht weiter so. Ich sah im Gastraum schon einige nachdenkliche Gesichter und vereinzelt andere, die bestätigend nickten. Noch ein paar Worte, und Ihr habt einen Mob erschaffen.

»Ja, das sagt man von uns«, entgegnete die Elfe in derselben ruhigen Stimme. »Weißt du auch, wer es ist, der das sagt?« Sie wartete die Antwort nicht ab. »Es sind unsere geliebten Cousins, die so von uns sprechen. Die hohen Elfen in ihren Palästen. Es sind dieselben, die Menschen junge Hunde nennen, die erst erzogen und dressiert werden müssen, bevor sie Nutzen zeigen können. Da weiß ich doch, welchen Vergleich ich vorziehe.«

»Ich hörte einst, dass Dunkelelfen eine Stadt der Menschen angegriffen haben, jeden erschlugen und die Kinder raubten! Versklavt haben sie die armen Leute!«, kam eine erboste Stimme von hinten. Ich warf einen Blick zurück: Es war der Herr Baron, er war aufgestanden und schüttelte erbost seine Faust. »Vielleicht ist sie wirklich der Werwolf! Wir sollten sie verbrennen, um sicherzugehen!«

Zustimmendes Nicken von allen Seiten. Im Hintergrund sah ich zuerst die Briganten, die sich, zurückgelehnt in ihren Stühlen, das Schauspiel gelassen und erheitert ansahen, dann, weiter hinten, Sieglinde, die in den Armen des Vaters Schutz suchte. Der Blick des Wirts begegnete meinem, und ich war erleichtert, dass er nicht Gleiches forderte, sondern dass er mich stumm um Hilfe bat. Als ob meine Hilfe bisher von Nutzen gewesen wäre.

»Ich bin Zokora von Ysenloh. Meine Mutter war Ysbeta, ihre Mutter war Lohese, und sie wiederum entsprang den Lenden von Jehala. Ich bin vom Blut der Dornen, mein Omen ist die Katze und mein Wort ist das einer geweihten Kriegerin der Solante, der Schwester von Astarte, die ihr Menschen verehrt.« Stolz stand sie da, das Kinn hochgereckt, die dunklen Augen funkelten. »Sucht den Wolf nicht in mir, denn mein Omen ist das der Katze!«

»Sie war es nicht.« Dies war die überraschend feste Stimme von Eberhard, dem Wirt. »Ich war die ganze Nacht unterwegs, habe das Feuer geschürt. Nicht einmal hat sie sich von ihrem Platz wegbewegt.«

»Wer weiß schon …«, hob der Händler zu einer erhitzten Antwort an. Und stockte. Denn als ich diesmal an ihn herantrat, ignorierte er mich nicht. Es mochte daran liegen, dass er die Spitze meines Dolches in der Seite spürte, verborgen vor den Blicken hinter mir, aber erkennbar für Lea und die Dunkelelfe. Lea hob überrascht die Augenbrauen, die Dunkelelfe betrachtete mich nur nachdenklich.

»Hört gut auf meine Worte, Händler«, sagte ich leise. Meine Stimme war kalt wie der Sturm, den er vorbeigezogen wähnte. »Und regt Euch nicht, sprecht nicht mehr, als ich es von Euch wünsche. Wenn Ihr antwortet, antwortet so, dass nur ich Euch höre und niemand sonst. Habt Ihr mich verstanden, so nickt.«

Schweißperlen entstanden auf seiner Stirn. Er nickte.

»Zum einen etwas, was Euch aufmuntern sollte. Ihr habt soeben einen Ritter zu Boden gestoßen. Einen alten Mann, aber einen Ritter. Ich schätze, Ihr seid selbst von Adel, dass Ihr Euch das traut?«

»Nein, Ser.« Seine Augen waren nun geweitet, als er sich darüber klar wurde, was die Tragweite seines Handelns sein konnte.

»Mein Name ist Havald. Ser Havald für Euch. Sagt mir Euren.«

»Rigurd. Sohn von Anval.«

»Woher stammt Ihr, guter Mann?«

»Aus Losaar.«

Ich nickte. »Ein nettes Städtchen, malerisch gelegen am Fluss Lo. Guter Handel dort, nicht wahr? Und Illian fordert kaum mehr als den Handelszehnten von Euch.«

Er ließ hilflos die Schultern hängen und erstarrte dann, als diese Bewegung die Spitze meines Dolches über seine Haut kratzen ließ.

»Wir beide setzen uns nun dort an den Tisch. Mit ihr und der Maestra, der Ihr ebenfalls nicht genügend Respekt entgegengebracht habt. Habt Ihr mich verstanden? Nickt.«

Er nickte.

»Gut.« Ich wandte mich zu der Dunkelelfe. »Sera Zokora, würdet Ihr uns Gesellschaft auf einen heißen Tee leisten? Und schließt bitte die Tür, der Anblick von so viel Schnee deprimiert mich.«