24. Seelenreißer

 

Varosch hatte Recht. Es war mörderisch kalt in der Schmiede, aber hell, so hell, dass es mir vorkam, als wäre ich in die Sonne getreten. Alles in der Schmiede war von einer glitzernden Schneeschicht überzogen. Die Sonne fiel im Moment durch die Lüftungsspalten im Dach herein und erleuchtete die ganze Werkstatt wie einen Eispalast; der weiße Schnee reflektierte das Licht in jeden Winkel. In den letzten zwei Tagen hatte ich vergessen, was Helligkeit war. Spuren führten durch den Schnee von hier durch die Schmiede zur Tür des Lagers. Seitdem wir gestern dem Wirt gefolgt waren, waren Dutzende neue Spuren hinzugekommen, hier war nichts Auffälliges zu erkennen. Eine einzelne Spur löste sich aus der breiten Fährte und wanderte durch die Schmiede, verharrte hier und dort, an Punkten des Interesses. Bis dahin hatte Varosch also die Wahrheit gesagt.

Wie jede Tür im Gasthof war auch diese mit einem schweren Riegel versehen. Eine Seite der eisernen Sperre war an einem Bolzen fixiert, normalerweise stand sie senkrecht am Rahmen. Man musste sie nur herumwerfen, dann fiel sie in die Halterungen an der Tür. So war es hier. Ich musterte den Riegel. Er mochte vielleicht um die dreißig Pfund wiegen. Ich sah die anderen an. Nun, diese Tür bekam auch ein Werwolf wohl nicht so leicht auf. Wahrscheinlich war er zwischenzeitlich im Stall und hatte sich an den Tieren gütlich getan. Der Schutz des eisernen Riegels war jemandem offensichtlich nicht genug gewesen, er hatte das Zeichen der Dreieinigkeit in das altersdunkle Holz der Tür geritzt, ein Bündel Wolfswurz war an den oberen Türrahmen genagelt worden, und ein Strang Knoblauch spannte sich quer über das Türblatt. Knoblauch?

»Ich glaube, da hat jemand seine Ungeheuer verwechselt.« Lea grinste. Ich sah zum Wirt hinüber. »Ich war’s nicht«, teilte er mir mit.

Zokora schüttelte verständnislos den Kopf. »Wollt ihr nun den Werwolf erschlagen oder hier dieses Gemüse bewundern?«

Ich riss die Schnur mit dem Knoblauch ab. »Wir gehen rein.«

Sie zogen ihre Schwerter oder machten ihre Waffen bereit. Nur Leandra nicht, aber sie hielt Steinherz mit der linken Hand an der Scheide, mit der rechten am Heft. Man zog ein Bannschwert nicht ohne Grund. Deshalb trug sie ja oft noch ein zweites Schwert. Diesmal nicht. Damit setzte Leandra ein deutliches Zeichen: War sie gezwungen zu kämpfen, dann würde eine magische Klinge den Tag entscheiden. Es zeigte mir, wie ernst es ihr war. Varosch hatte sich uns ebenfalls angeschlossen, er stand weiter hinten, die Armbrust im Anschlag. Janos hatte ihm üble Dinge angekündigt, sollte er ihm aus Versehen in den Rücken schießen. Die Versuchung, so konnte ich in Varoschs Augen sehen, bestand. Ich atmete tief durch. Ein wenig Beistand wäre nett, bat ich im Stillen jeden Gott, der bereit war hinzuhören. Dann trat ich vor, hob den Riegel an, stieß die Tür auf und rollte mich schnellstmöglich seitlich in das Lager hinein. So verharrte ich, eine Hand an meinem Lederbündel auf dem Rücken, in der anderen meinen Lieblingsdolch.

Die anderen strömten herein; Leandra kauerte sich neben mich, Janos nahm die andere Türseite; Zokora machte eine Handbewegung, und plötzlich hing ein kleiner Ball aus strahlend weißem Licht in der Luft.

Die Dunkelheit im Lager wich dem Licht – und ich atmete auf.

»Nichts zu sehen«, verkündete Janos. Er hatte Recht. Dort stand eine schwere Kiste, und vor ihr, zerbrochen, lag die Laterne. Das Öl war ausgelaufen und glänzte im kalten magischen Schein.

Vorsichtig bewegte ich mich voran. Undeutlich konnte ich das Gebrüll der Kühe aus dem Stall hören: Sie waren mehr als ungeduldig, gemolken zu werden. Die Tür zum Stall war geschlossen. War der Wolf zu dumm, um sie zu öffnen? Oder hatte er einfach keinen Hunger?

Selbst mit Zokoras magischem Licht unter den Dachbalken war das Lager ein unwirklicher Ort. Ich fragte mich, welche Funktion dieses Gebäude gehabt hatte, als der Hof eine Garnison gewesen war. Hatte es auch damals schon als Lager gedient? Das kalte magische Licht warf harte Schatten, und es schien mir, als gäbe es nur gnadenlos helles Licht und ewige Dunkelheit. Die schweren Kisten waren der Größe nach aufeinander gestapelt, zwischen ihnen führten schmale Gänge hindurch.

Ich hatte nun etwa drei Viertel des Weges zur Stalltür zurückgelegt und konnte schon die Schlafstatt des toten Stallburschen sehen.

»Hier ist etwas«, flüsterte Zokora. Ich warf einen Blick zurück zu ihr. Sie deutete mit ihrer Fingerspitze auf ihre Nase und schnüffelte, glich dabei einem Hund, der Witterung aufnahm. Langsam hob sie ihren Kopf und ihre Hand ebenfalls, bis sie auf etwas über mir deutete. Dann weiteten sich ihre Augen …

Das Knurren war so laut, dass es mir vorkam, als ob die Wände davon zitterten. Es war direkt über mir. Ich hatte keine Zeit zu überlegen, aber die brauchte ich auch nicht. Zwar hatte ich noch nie gegen einen Werwolf gekämpft, aber ich wäre überrascht gewesen herauszufinden, dass er mehr Erfahrung hatte als ich.

Irgendwie schien es unausweichlich, dass er mich angreifen würde.

Ich roch seinen faulen Atem, seine Krallen kratzten über meinen Rücken, ohne durch die Kette zu dringen, und ich rollte zur Seite, stieß meinen Dolch hoch, spürte den Widerstand, zog im Rollen durch und stand.

Er auch. Und er heulte wütend und schmerzerfüllt, als er sich seinen Bauch hielt: Ich hatte ihn vom Becken bis zum Brustkorb aufgeschlitzt.

»Na, wie fühlt sich das an?«, fragte ich ihn.

Etwas surrte gefährlich nahe an meinem Ohr vorbei, es war ein Armbrustbolzen. Er traf das Wesen direkt über dem Herzen, oder besser gesagt, da, wo sein Herz hätte sein sollen. Es heulte erneut auf und wankte zurück. Varosch hatte nicht übertrieben. Er verstand sein Schützenhandwerk.

»Lass mich vorbei«, hörte ich Janos hinter mir, aber das war leichter gesagt als getan. Der Gang zwischen den Kisten war so schmal, dass dazu kaum die Gelegenheit bestand.

Für einen Moment hatten wir diese Situation: Der Werwolf stand gebückt da, knurrte mich an und hielt seinen Bauch; seine gelben Augen musterten mich wuterfüllt. Dann gab es da mich, mit meinem Lederbündel in der linken Hand, meinem blutverschmierten Dolch in der rechten. Die Wunde, die ich ihm geschlagen hatte, war nicht sogleich tödlich, aber der Kampf hätte schon vorbei sein sollen: Mit einer solchen Verletzung, schräg über die Bauchmuskeln, kämpfte man nicht mehr. Ich hatte es oft genug gesehen: Es war nicht möglich, sich aufzurichten, niemand tat es, weil man instinktiv zu verhindern suchte, dass einem die Gedärme herausfielen.

Aber dann dachte ich an meinen ersten Ausbilder. Es war so lange her, dass ich mich weder an sein Gesicht noch an seinen Namen erinnern konnte, aber seine Worte hatte ich nicht vergessen.

Idiot. Ein Kampf ist erst vorbei, wenn er vorbei ist.

Und damit behielt er Recht. Der Wolf richtete sich auf, ließ seine blutigen Klauen sinken, und vor meinen entsetzten Augen schloss sich die Wunde wieder. Den Bolzen ignorierte er vollständig, als er sich duckte und mich ansprang.

Ich konnte nicht ausweichen. Hinter mir versperrte Janos den Weg, vor mir war der Werwolf … Ich stieß mich nach vorne ab, niedrig und geduckt, und rammte ihn unterhalb der Gürtellinie. Krallen verfingen sich in meinen Ketten, ich hörte sie reißen und verspürte einen brennenden Schmerz an meinem Rücken. Ich stach mit meinen Dolch zu, verfing mich selbst mit ihm und musste ihn loslassen, als ich mich abrollte und aufsprang.

Er sprühte warmes, stinkendes Blut auf mich, als er sich aufrichtete, die Hände am Hals, wo mein Dolch noch steckte. Er brüllte, wankte hin und her und war nun zwischen mir und Janos eingekeilt. Er zog das Messer aus seinem Hals und warf es verächtlich weg. Das Blut hörte auf herauszuschießen, und auch diese Wunde schloss sich; er stand da, Arme und Krallen ausgebreitet, heulte – und fixierte mich mit seinen gelben Augen.

»Hol das Hölzchen!«, rief Janos. »Fang!«

Und damit warf Janos eine massive Wurfaxt, die er aus seinem Gürtel gezogen hatte. Sie biss seitlich in den Arm des Ungeheuers und verursachte ein schauderliches Geräusch, als die Schneide in den Oberarmknochen eindrang.

Dann ging das magische Licht aus.

Ich wusste nicht mehr, was ich dachte, schmeichelhaft für Zokora war es sicherlich nicht. Aber dann hörte ich das Wesen knurren, und es war vorbei mit dem Denken; ich hörte die Krallen auf dem Boden schaben, das Fell an den Kisten, und nur Instinkt führte mich noch.

»Seelenreißer!« Seit Jahren hatte ich mein Schwert nicht mehr gerufen, hatte seinen Namen nicht einmal mehr gedacht. Und doch war es, als wäre es eben erst gewesen, dass ich seine blutgetränkte Klinge in die Scheide führte, noch bevor sie das Blut aufgesaugt hatte. Vielleicht hörte ich noch mein Lederbündel reißen, ich weiß es nicht mehr, aber was ich wusste, war, dass sich meine Hand um sein vor neugierigen Augen verborgenes Heft schloss, ich nach hinten sprang und irgendwie spürte, wo sich das Biest befand. Ich stellte mir Seelenreißers fahlen Stahl vor, wie er in diesem speziellen Bogen herabfuhr, der für ihn so typisch war. Der Widerstand war kurz und schwach – eine Bannklinge kannte keinen Unterschied zwischen Muskeln, Holz, oder Knochen –, und noch bevor ich den Streich ausschwingen ließ, wusste ich, dass ich getroffen hatte. Eine warme Brühe ergoss sich über mich wie ein Sturzbach, und ich taumelte zurück, fand meinen Halt an den Kisten, rutschte an ihnen herunter, ließ mich zu Boden sinken.

Das Gefühl, das mich nun überkam, war gleichermaßen verhasst wie geliebt, eine ewige Sucht, der ich mich nur mit Mühe entziehen konnte, und so fürchterlich schwer zu beschreiben. So musste es sich anfühlen, wenn man in kochendes Öl fiel, ein unsagbar heftiger Schmerz, aber nur am Anfang qualvoll, danach etwas anderes, Erneuerung, vielleicht Ekstase. Ich versank in diesem Gefühl und schrie.

Noch bevor ich mich wieder im Griff hatte, ging das Licht wieder an, diesmal unmittelbar über mir, und leuchtete den schmalen Gang gnadenlos aus. Nur mit Mühe bekam ich mich wieder unter Kontrolle, und als ich wieder bei mir war, kniete Leandra neben mir und sah mich an.

»Geht es wieder?«

Ja. Es war vorbei. Wir sahen alle auf das, was dort im Gang lag. Ich saß mit dem Rücken an die Kisten gelehnt, Seelenreißer über den Knien. Mir fröstelte, es war die gleiche Haltung, in der der Sergeant unten im eisigen Raum mit seinem Schwert Eiswehr seine ewige Wache absaß. »Bruder Schwertträger«, hatte er mich im Traum genannt. Er hatte es gewusst, es gesehen, oder war das nur mein eigenes Hirn, das mir Dinge eingab?

Ich blickte auf Seelenreißer herab, sah, wie der letzte Tropfen Blut von seinem Stahl aufgesogen wurde, fühlte seine Zufriedenheit und blickte dann auf das, was vor mir lag. Der Streich hatte den Werwolf sauber im Nacken getroffen, der Kopf mit den gebleckten Zähnen lag vor mir, der Körper ein Stück seitlich, ein behaarter Arm verband uns: Seine Krallen hatten sich in den Ringen meiner Kette verfangen, sich hindurch und in meinen linken Arm gebohrt.

Vorsichtig löste Leandra die Krallen aus meinem Fleisch. Wir sahen zu, wie sich mein Blut mit dem seinen vermischte, ich war über und über mit seinem Saft besudelt, mein Umhang war getränkt darin.

»Ich wusste, dass an dir mehr dran ist, Ser Havald.« Leandra deutete unauffällig auf Seelenreißer, das Bannschwert. Mein Bannschwert. Sie klang nicht sonderlich überrascht.

»Lass uns später darüber reden«, meinte ich erschöpft. Leandra nickte tonlos und wischte sich Blut von ihren Fingern.

Zokora stand auch da. Als sie meinen Blick bemerkte, legte sie den Kopf auf die Seite. »In den Höhlen hält das Licht länger als an der Oberfläche«, sagte sie.

»Alle Achtung, alter Mann«, Janos blickte von dem Kadaver zu mir. Er pfiff leise durch die Zähne. »Aber ich kann nicht sagen, dass ich verwundert bin.«

Ich sah zu ihm hoch. »Ich schon. Ich dachte wirklich, es wäre mein Ende.«

Janos blickte mich an und rieb sich die Nase. Auch er war mit Blut getränkt, und ich sah, dass sein Schwert rot war. Er hatte es dem Wolf von hinten in den Rücken gestoßen, noch als das Wesen mich angesprungen hatte.

»Na, dann hole ich mir mal das Fell«, sagte Janos und zog seinen Dolch.

»Muss das sein?«, fragte Leandra.

Er sah auf. »Wieso?«

»Ein echtes Wolfsfell sieht schöner aus«, meinte sie dann. »Dieses Fell … sieht aus, als käme es von einem Straßenköter.«

Janos betrachtete den Leichnam, anschließend Leandra. »Eigentlich habt Ihr Recht. Der Bursche ist ziemlich hässlich.«

Ich stand auf. »Von mir aus könnt Ihr mit ihm machen, was Ihr wollt. Ich brauche nur das hier.« Mit dem Griff meines Dolches schlug ich ihm einen Zahn aus und reichte ihn Leandra.

Sie sah mich verblüfft an. »Was soll ich damit? Ich sammle keine Trophäen.«

»Du hast mir etwas von einem Spruch erzählt …« Ich sah Verstehen in ihren Augen; sie nickte und steckte den Zahn ein.

»Was mich mal interessieren würde«, sagte Varosch von hinten, »wäre zu erfahren, wer er denn nun ist.«

Janos richtete sich auf. »Das ist eine verdammt gute Frage. Wir werden feststellen, wer fehlt.«

»Ja«, sagte ich. »Das interessiert mich auch ein wenig.« Ich sah etwas glitzern, halb unter einer Kiste versteckt. Ich bückte mich und hob es auf. Es war eine schwere silberne Kette, durchtrennt von meinem Hieb, mit einem schweren Wolfskopf aus Silber als Anhänger. Das Stück wirkte, als ob es schon sehr alt wäre. Die Linien des silbernen Wolfkopfes waren schon undeutlich und vom ständigen Tragen abgerieben.

Der Wirt wartete bereits auf uns, und seine Augen weiteten sich, als ich eintrat. »Keine Angst, es ist nicht mein Blut«, beantwortete ich seine unausgesprochene Frage mit einem schiefen Lächeln.

»Wenigstens nicht alles«, erklärte Leandra.

»Habt Ihr den Wolf erwischt?«

»Wonach sieht es denn aus?«, fragte Janos. Er spazierte durch die Tür und präsentierte seine Trophäe, den Kopf des Werwolfs, auf der Spitze seines Dolchs. Dass immer noch Blut herunterlief, schien ihn nicht besonders zu stören.

Eberhard wich zurück und schlug das Dreieck der Einigkeit. »Bei den Göttern!«

Auch ich empfand den Anblick des Kopfes als beunruhigend. Ich hatte wahrlich schon genügend abgeschlagene Häupter gesehen, aber dieses hier … Varosch hatte ihn richtig beschrieben: Die menschlichen Züge in dem tierhaften Gesicht waren es, die so Furcht erregend wirkten.

»Wer ist es?«, fragte Eberhard und sah sich den Kopf nun neugierig an.

»Das werden wir bald wissen. Wir brauchen nur herauszufinden, wer fehlt«, meinte Leandra trocken.

»Habt Ihr ein paar frische Kleider für mich?«, fragte ich Eberhard.

Er sah mich an und schluckte. »Folgt mir.« Er blickte zu Janos und zögerte. »Wenn Ihr wollt …«, sagte er dann.

Janos schüttelte den Kopf. »Das trocknet schon von allein.«

»Igitt«, meinte Leandra.

Janos sah zu ihr herüber und bleckte die Zähne. »Nicht so empfindlich, Sera. In meinem Handwerk gewöhnt man sich an Blut.« Er lachte kurz auf, stieß sein Schwert in die Scheide, drehte sich um und ging, den Kopf des Werwolfs als Trophäe vor sich haltend.

Ich machte Anstalten, dem Wirt zu folgen, als mir auffiel, dass aus unserer Runde jemand fehlte. »Wo ist Zokora?«, fragte ich.

»Die Dunkelelfe ist in den Gastraum zurück«, sagte Varosch schüchtern.

»Hat sie irgendetwas gesagt?«, wollte Leandra wissen. Varosch schüttelte nur den Kopf. Ich musste lächeln. Wozu etwas sagen? So wie ich Zokora inzwischen einschätzte, war das Thema für sie einfach erledigt.