31. Die Geschichte vom Wanderer

 

Als wir das Bad verließen, wartete Timothy bereits auf uns. Er hielt den Blick gesenkt und zitterte fast.

»Tut mir Leid, dass ich versagt habe. Ich … ich bin eingeschlafen.«

»Wie kam er durch die verschlossene Tür?«, fragte Leandra, aber Timothy schüttelte nur den Kopf. »Das weiß ich nicht, ich wachte auf und spürte sein Messer. Verzeiht, hohe Herrschaften, aber ich hatte Angst.«

»Hat denn hier jeder einen Schlüssel?«, knurrte sie, als sie sich anzog. Diesmal war es mein Vergnügen, ihr zu helfen.

»Es muss kein Schlüssel sein. Ich selbst kenne mich mit Schlössern nicht aus, aber ich weiß, dass es Möglichkeiten gibt, sie zu überwinden.«

»Ja. Das nennt sich Dietrich.« Sie half nun mir beim Ankleiden. Es war ein Genuss, in trockene, warme Sachen zu steigen.

Bisher waren versperrte Türen etwas, das ich respektierte oder dem ich mit einer Streitaxt zu Leibe rückte. Oder einem Rammbock.

Als wir in den Gastraum zurückkehrten, eilte der Wirt auf uns zu. »Ihr seid sehr lange weggeblieben, ich war schon besorgt!«

Ich sah Sieglinde auf den Tischen stehen und konnte seine Besorgnis verstehen. Ihr Kleid war aufgeknöpft, und sie hatte trotz der Kühle des Raums auf einen Unterrock verzichtet; ein wohlgeformtes Bein war durch die Falte des Rocks zu sehen. Es wippte im Takt zum Refrain eines mir wohlbekannten Liedes, das nicht gerade züchtig war.

Jeder hier schien ihr und ihrer magischen Geige wie gebannt zu lauschen. Die Tische in der Gaststube waren so verschoben, dass ein jeder besser sehen konnte. Im Moment war kein Durchkommen zu unserem Platz. Dort hatten es sich diesmal Zokora und Rigurd bequem gemacht. Er bürstete ihr Haar aus, während sie beide Sieglinde zusahen.

»Es ist ihr zweites Lied«, sagte Eberhard leise. Ich trat neben ihn hinter die Theke und griff mir zwei Becher und eine Flasche Fiorenzer.

Unter der Theke sah ich einen Streitkolben und eine mittlere Kampfaxt liegen. Eberhard sah meinen Blick und zuckte mit den Schultern. »Mit einer Axt und einem Hammer bin ich besser als mit einem Schwert.«

Leandra trat neben uns, und ich reichte ihr den vollen Becher.

»Ich danke Euch, Wirt, für die Mühe, die Ihr Euch für uns gemacht habt«, sagte ich.

Eberhard nickte mir zu, ohne die Augen von seiner Tochter zu nehmen. »Es war mir ein Vergnügen. Ich selbst habe die Wärme genossen, als ich den Raum vorbereitete. Seht sie Euch an, Ser, ist sie nicht bildhübsch? Von meinen Töchtern ist sie es, die meinem Weib am meisten ähnelt. Es bricht mir das Herz, sie so zu sehen.«

Sieglinde beendete ihr Lied mit einer kessen Verbeugung, ihr langes blondes Haar flog nach allen Seiten und hing offen bis über ihre Hüfte herab, als sie sich wieder aufrichtete.

»Mehr!«, grölte eine der Wachen der Händler.

»Mehr, sing mehr!«, rief ein anderer.

»Vor allem, zeig mehr!«, meinte einer der Banditen lautstark. Janos saß wieder mit seinen Leuten am Tisch, er schien meinen Blick zu spüren, denn er drehte sich zu uns um und zwinkerte uns zu.

Ich spürte, wie Leandra sich anspannte, aber dann lachte sie. »Er ist ein Halunke.«

Er war es, noch ein größerer, als ich dachte, denn er sprang auf von seinem Stuhl und, behände wie eine Bergziege, mit einem weiteren Satz auf die Tische empor, wo er einen Arm um Sieglinde legte.

»Ihr seid süchtig nach Unterhaltung, in diesem dunklen Loch kein Wunder! Hier wird ja jeder verrückt … Mädchen, deine Geige, ist sie wieder ausgespielt?«

Sieglinde nickte, und ich sah, wie Eberhard sich entspannte.

»Dann gebt ihr eine andere, es wird sich eine finden lassen, oder?«, rief Janos lachend. Eberhard zog eine Lade unter der Theke auf und entnahm dieser eine Geige. Er reichte sie hoch zu Sieglinde und nahm vorsichtig die andere entgegen.

»Ich weiß nicht, was er vorhat, aber vorhin befahl er mir, eine andere Geige zu besorgen«, sagte er leise zu uns.

»Ich bin kein Mann des Gesangs«, rief Janos in die Menge, »eher ein Mann der Tat.« Er beugte sich zu Sieglinde hinunter, drehte sie so, dass sie auf seinem Arm ihren Rücken fast waagerecht bog, und küsste sie mit offensichtlichem Genuss und unter dem Johlen und Klatschen der Gäste, auch wenn ich bei dem ein oder anderen Banditen puren Neid erkennen konnte.

Er richtete sich auf und stellte auch Sieglinde gerade hin, die seltsam verwirrt schien und einen hochroten Kopf hatte. »Wie ihr sehen könnt, mangelt es mir nicht an Unterhaltung!« Er lachte. Auch wenn einige eher mitlachten, um nicht seinen Zorn auf sich zu ziehen, erschien es mir doch, als ob der größte Teil des Gelächters ungezwungen war.

»Aber da wir nun mal alle Freunde sind«, er grinste breit in den Raum, »und ihr immer ein so wohlgefälliges Auge auf mich werft, will ich euch unterhalten!« Er trank von seinem Wein und prostete dem Gastraum zu. »Wie ihr sicherlich wisst, ist das Ausrauben von schwer bewachten Karawanen nicht immer ein Vergnügen, denn manche besitzen die Dreistigkeit, sich zu wehren! Wenn man dann am Abend erschöpft am Feuer sitzt, erzählt man sich Geschichten, und eine davon will ich euch aus gegebenem Anlass zum Besten geben.«

Mit einer Verbeugung wandte er sich an Eberhard. »Wirt, Wein für alle hier im Raum. Setzt es auf meine Rechnung!« Er brüllte erneut sein dröhnendes, schallendes Lachen.

Gejohle und Gelächter folgten. Es waren nicht nur seine Männer, die darin einfielen.

»Sie fressen ihm aus der Hand«, hörte ich Leandra leise sagen, als der Wirt und Timothy sich beeilten, die Krüge zu füllen. Ich sah auch, wie einige Wachen ihre Becher erhoben, um sich auffüllen zu lassen. Heute Abend, so schien es mir, wurde dem Alkohol mehr zugesprochen als an den letzten beiden Abenden zusammen.

Wir sahen zu, wie Janos seinen Becher Wein leerte. Ein Schwall des Getränks lief ihm aus den Mundwinkeln über seine Kleidung und vermischte sich dort mit Dreck, Staub und Blut. Ich erinnerte mich, mit welchem Genuss er sich ins Wasser gestürzt hatte; manches passte nicht ganz zusammen bei unserem Räuberhauptmann.

»Sag«, Leandra lehnte sich an mich, »ist es kälter geworden oder bilde ich mir das nur ein?«

»Vielleicht weil wir aus der Wärme kommen«, sagte ich. Aber sie hatte Recht, auch ich hatte das Gefühl, dass die Kälte zugenommen hatte. Ich konnte die Hitze der Kamine bis hierher spüren, ab und zu, ohne dass man darüber nachdenken musste, warf einer der Gäste ein Scheit ins Feuer. Die Flammen loderten nun schon seit fast drei Tagen ununterbrochen, und der Kamin war schon lange zu heiß zum Anfassen, aber die Gaststube selbst erschien mir kälter als zuvor.

Aber Janos forderte wieder unsere Aufmerksamkeit. Er breitete die Arme aus und wartete, bis es im Raum still war, lachte erneut und fing an zu erzählen.

»Die Geschichte, von der ich euch berichten will, handelt von der Rettung der Stadt Kelar. Kelar war eine stolze Stadt, eine freie Stadt, frei vom Königreich Illian. Das passte Herzog Golvar vorzüglich, denn so brauchte er keinen Ärger zu befürchten, wenn er sie nach erfolgreicher Belagerung für sich nahm!« Er machte eine übertriebene Verbeugung. »Herzog muss man sein, dann kann man Städte plündern. Unsereins wird gleich gehängt, klaut er einem fetten Händler eine Börse! Ich frage euch, ist das gerecht?«

Wieder hatte er das Gelächter auf seiner Seite.

»Was ich berichten will, trug sich im achtzehnten Jahr der Belagerung zu. Wisst ihr, es gab dort einen Schweinehirten, geboren an dem Tag, an dem die Stadt ihre Tore vor Herzog Golvars Truppen schloss. Nur gab es nach den Jahren der Belagerung irgendwann keine Schweine mehr. Unser Held, seiner Schweine beraubt, half also auf den Wällen. Er schleppte die Toten fort, wusch sie und brachte sie auf den Leichenacker. Er reparierte Kettenhemden und schliff Schwerter nach, brachte das Essen auf die Zinnen und, viel wichtiger, den Wein!« Er hob seinen Becher an und trank. »Prost auf unseren Helden!«

Alle lachten. Ich stimmte nicht mit ein. Ich kannte diese Geschichte schon, ja, ich kannte sie besser als sonst jemand.

»Nun, nachdem achtzehn Jahre vergangen waren, war es jedem Idioten in der Stadt, also auch den Ratsherren, klar, dass sie nicht bestehen konnten. Die hohen Speicher waren leer, jedes Vieh aufgefressen, so dass manch ein Bürger seine fette Frau auch schon mal gierig ansah … Anders als ihr lieb war, meine ich! Aber die Ratsherren wussten, dass Golvar seinen Truppen die Erlaubnis zur Plünderung gegeben hatte, und sie wollten doch die hübschen Frauen behalten und selbst bei ihnen liegen!« Er zog Sieglinde zu sich heran und griff ihr derb an den Hintern. »Spiel eine Weise zu meinen Worten, Mädchen!« Er hob den Becher an. »Also, die Leute aus Kelar, die hohen Herren, sahen nun ein, dass sie besser unter dem Schutz des Reichs aufgehoben waren als unter des Herzogs Knute. Das musste man dem König doch sagen, sonst würde er noch dasselbe tun wie die letzten Jahre: Er saß mit seinem Heer auf seinem fetten Hintern und tat – nichts! Also musste ein mutiger Mann gefunden werden, der die Nachricht an den König überbrachte. Diesen mutigen Männern versprach man viel Geld, Land, schöne Frauen, und so folgten sie dem Aufruf, schlichen sich des Nachts aus der Stadt hinaus, um am Tage in zwei Teilen zurückzukehren, die Körper mit einem Katapult des Herzogs, die Köpfe auf der Spitze eines Ballistenbolzens. Alsbald herrschte Mangel an mutigen Gesellen, und so wurde die Nachricht nicht überbracht. Allein der Herzog besaß jetzt zehn Ausfertigungen von dem Wisch, wollte sie aber wohl nicht weiterreichen! Spiel schon auf, Mädchen!«

Sieglindes Geige brachte eine Melodie hervor, die mich frösteln ließ. Es war, als ob die Saiten die Stimmen der Trompeten und Langhörner, das Surren der Bogensehnen und die Einschläge der Katapultsteine wieder auferstehen ließen, eine Melodie, die Janos’ ironischen Worten den Biss nahm und die Tragödie deutlich machte. Selbst Janos schien das zu bemerken; er war nicht ganz mit ihrer Spielweise zufrieden, aber auch er war wohl von der Musik berührt, denn er änderte seinen Ton und sprach leiser, eindringlicher, als ob auch er nun jene Stadt vor seinen Augen sehen könnte.

»In ihrer Verzweiflung baten die Ratsherren die Götter um Hilfe, opferten in ihren Tempeln und fragten die Priester um Rat. Die Priester vollführten ihre Augurien und traten dann vor, um ihr Unheil zu verkünden. Alle sahen auf die Hohepriesterin der Astarte oder den obersten Streiter Borons, aber es war der Hohepriester des Soltar, der vor die versammelten Ratsherren trat. Dass der Gott des Todes die erhoffte Lösung bringen sollte, ließ die hohen Herren in ihren Stühlen erzittern!« Janos machte eine Pause und nahm einen Schluck Wein, während Sieglindes Geige diese längst vergangene Szene heraufbeschwor.

»Aber dann«, fuhr Janos fort, »fasste der oberste Ratsherr Mut. ›Sprecht, Priester, welcher Rat wird uns von Euch gegeben!‹, rief er, und nicht nur er war bleich, als der Priester antwortete. ›Es gibt einen, der hier ruht, einen Streiter des alten Reichs. Er ist begraben in unserem Tempel, liegt dort mit seiner Klinge. Mein Gott sagte mir, dass derjenige, der diese Klinge aufnehmen würde, derjenige wäre, der die Nachricht an den König übermitteln könnte. Doch dieser Krieger müsste selbst durch das Tor des Todes gehen, um die Nachricht zu überbringen.‹« Janos’ Stimme senkte sich. »Schaudern erfüllte die Zuhörer. Das Tor des Todes war auf eine Klippe gebaut, und die war einhundert Mannslängen hoch. Durch dieses Tor traten die Verurteilten ihren letzten Gang an, um am Fuß der Klippen zu zerschellen und den Fischen ein Mahl zu bereiten. Verzweifelt rief der Ratsherr nach Freiwilligen, die das Schwert des Todes tragen wollten und durch das Tor in die Ewigkeit gehen würden, um dem König den Hilfeschrei der allzu stolzen Stadt zu übersenden. Aber niemand meldete sich. ›Gibt es denn niemanden hier, der diese Stadt mehr liebt als sein Leben? Der sich für seine Nächsten und Lieben opfern will?‹ So verzweifelt war der Ruf des Ratsherrn, dass er auch den Schweinehirten erreichte, der die Ratshalle aufgesucht hatte, um etwas Wärme zu finden. Also stand der Schweinehirte auf, löste sich aus der Menge und trat vor den hohen Rat und die Priester der Dreieinigkeit. Er kniete nieder vor dem Priester Soltars. ›Gebt mir die Klinge des Todes, ich werde sie durch das Tor tragen, denn diese Stadt gebar mich, nährte mich, beschützte mich, gab mir eine Heimat. Sie ist der Wall, der meine Lieben schützt, die Stadt in der meine Schwester lebt.‹

›Ihr sollt reich belohnt werden‹, sagte der Ratsherr und bot dem Schweinehirten dasselbe an, was er anderen zuvor versprochen hatte, nur diesmal war er noch freizügiger, wohl wissend, dass noch niemand sein Vermögen durch jenes Tor getragen hatte. Doch der Schweinehirte schüttelte den Kopf. ›Lasst mich meine Wünsche nennen. Meine Schwester ist jung, erst sechs. Sie soll eine feine Dame werden, hoch geachtet, in den Tempeln unterrichtet und vermählt werden mit einem jungen Mann, von dem Gutes gesprochen wird und der den Göttern ein Wohlgefallen ist. Da ich es nicht mehr tun kann, baut vor der Stadt ein Haus, in dem die Gäste der Stadt eine Nacht umsonst nächtigen und speisen können, dies sei mein Haus, das ein Mann erbauen soll. Pflanzt einen Apfelbaum im Hof, seine Früchte sollen denen gehören, die ärmer leben, als ich es tat, dies soll mein Baum sein, den ein Mann pflanzen soll. Solange die Mauern der Stadt stehen, nehmt fünf Mädchen und fünf Jungen ohne Oheim, Mutter und Vater, gebt ihnen ein Heim, eine liebende Familie und einen Beruf, dies sollen meine Kinder sein, die ein Mann im Leben zeugen soll.‹ Der Schweinehirte erhob sich, stand gerade und stolz vor dem Ratsherrn, als wäre dieser nicht ein hoher Herr und er nicht ein Hüter der Schweine. ›Für mich ein Paar Stiefel, eine Hose, Wams und Ranzen mit vier Mahlzeiten darin und einen warmen Umhang.‹ Vor all den hohen Herren der Stadt wurde das Geschäft getätigt. Der Junge wurde gewaschen und gesalbt, schlief diese letzte Nacht in einem weichen Bett, erhielt Stiefel, Jacke, Hose, Ranzen und Umhang. Er wurde in der Stunde der tiefsten Nacht, gesäumt von zahllosen Fackeln, unter Glocken und Trompetenklängen, zu dem hohen Tor des Todes geführt, entlang des Pfades, den so viele arme Büßer vor ihm gegangen waren. Doch noch nie war eine derartige Prozession einem Jüngling gefolgt, nein, einem Mann, der mit hoch erhobenem Haupt diesen Weg ging. Ihm folgten sogar die Priester unserer Götter, von denen der schwarze Diener eine Kiste hinter dem Jüngling hertrug, die das Schwert des Todes enthielt.«

Janos hielt inne, nahm einen Schluck und ließ seinen Blick über die Leute schweifen, nur das Prasseln der Kamine war zu hören, ein jeder lauschte gebannt. Sieglindes Musik führte uns den fackelgesäumten Weg hoch zu dieser Klippe, zeigte uns die ernsten Gesichter derjenigen, die hier an der Straße standen, ließ uns das Tor erblicken, das Soltar geweiht war, ein Tor aus dunklem Obsidian, schwarz wie die Nacht selbst und so finster wie sein Reich.

»Am Tor angekommen, dem Tor, das zwei Schritte weiter in dem Abgrund endete, kniete der Schweinehirte nieder. Die ganze Stadt hielt den Atem an, als der schwarze Priester die Kiste öffnete und der Jüngling das Schwert entgegennahm. Er hängte es sich über den Rücken, denn es war kein gewöhnliches Schwert, sondern ein Bastardschwert, fast so hoch wie er. Ein Bannschwert zudem, eine magische Klinge. Er betete ein letztes Mal und nahm dann die Rolle mit der Botschaft an den König entgegen. Als er aufstand, wehte ein Wind durch das Tor, der seinen schwarzen Umhang flattern ließ. Man sagt, es wäre ein kalter Wind gewesen, direkt aus dem Reich des Bewahrers der Toten, ein Wind, der die meisten der Fackeln löschte und die Menge schaudern ließ. Der Junge zog das Schwert des Todes, trat ein durch das Tor, blickte in den Abgrund der weißen Brandung, die tief unter ihm tobte …«

Janos nahm einen Schluck und grinste breit.

»… und als er sich umdrehte, verlangte er ein Seil, sechshundert Ellen lang!«

Befreites Gelächter erklang im Gastraum, ein jeder hatte die Geschichte wohl schon einmal gehört, doch sie war noch immer einen Lacher wert.

»Ja, lacht nur!«, rief Janos. »Wir wissen, was geschah. Der Jüngling kletterte in dieser dunklen Nacht die Klippen hinab, schlich und kämpfte sich mit seinem neuen Schwert durch die Reihen der Belagerer und erreichte den Hof von Illian am zehnten Tag, um dort jene Nachricht zu überbringen. Der König nahm den Treueschwur der Ratsherren an und entsandte sein Heer, das einen Monat später die Belagerung durchbrach. Seit jenem Tag steht vor dem Haupttor der Stadt ein Fremdenhaus mit einem Apfelbaum. Vielleicht habt ihr selbst dort einmal gerastet.«

Er schaute sich um, und einige im Raum nickten. »Auch ich tat es einst. Und auch wenn mir der Segen der Götter nicht sicher war, der Wein dort schmeckte köstlich, das Essen war nahrhaft, und ich schlief sanft in den Betten des Wohltäters. Aber was geschah mit dem Schweinehirten selbst? Er war durch das Tor des Todes geschritten und somit Soltar geweiht.« Er beugte sich vor und senkte seine Stimme. »Es heißt, dass Soltar ihn nun nicht mehr nehmen wollte, da er ihm bereits das Tor geöffnet hatte. Und so weilt er noch immer unter uns, ein ewiger Wanderer, der nicht sterben kann, auf seinem Rücken das Schwert der toten Seelen, in seinen Augen der Tod für jeden, der das Königreich bedroht, denn auch er schwor dem König gegenüber seinen Eid …« Seine Stimme wurde zu einem Flüstern.

»Vielleicht weilt er unter uns, ist ein Gast hier an diesem Ort, sieht uns an mit Augen, die in die Ewigkeit schauten. Allerdings müsste er leicht erkennbar sein, denn es heißt, er ziehe das Seil noch immer hinter sich her!«

Die Leute, die sich tatsächlich unsicher umgesehen hatten, grölten bei dem letzten Satz oder schlugen sich auf die Oberschenkel, das Gelächter kam mir fast schon hysterisch vor.

Janos richtete sich abrupt auf, trank aus und warf den Becher gegen die Wand. »Spiel auf, Mädchen!«, rief er und wirbelte Sieglinde herum. »Und ihr faulen Säcke erhebt euch und schwingt eure Füße im Tanz, lasst uns feiern heute und fröhlich sein. Denn heute Nacht wird hier niemand durch das Tor des Todes gehen! Mein Wort darauf!«

Er fing an, mit dem Fuß zu stapfen und in die Hände zu klatschen. »Spiel auf, Mädchen!«

Und Sieglinde spielte auf, der Bogen tanzte über die Saiten, sie selbst bog sich mit der Musik, einem alten, schnellen Tanz, und ihr schlankes Bein gab den Takt vor und das Wunder geschah, zögerlich erst, dann mehr und mehr, erhoben sich die Leute und reihten sich in den Tanz ein.

»Was, bei den eisigen Höllen Soltars, will er damit bezwecken?«, flüsterte Leandra.

»Ich weiß es nicht«, sagte ich. Janos sah zu mir herüber und zwinkerte uns erneut zu. »Aber ich glaube, er hat es schon erreicht.«

»Da könntest du Recht haben. Aber was ist es?«

Eberhard trat zu uns. »Ich will ihn hassen. Seht, wie meine Sieglinde ihn anlächelt. Er ist ein Schuft, Dieb und Mörder, aber bei den Göttern, hätte er nicht jemand anders werden können? Jemand, dem ich meine Tochter gerne geben würde?«

Ich nickte langsam und suchte in den Gesichtern der Leute im Raum nach dem, das mir verriet, was Janos bezwecken konnte, doch ich fand es nicht. Janos war schlau.

»Was meinst du, ist die Geschichte wahr?«, fragte Leandra.

Ich sah sie überrascht an. »Die Geschichte vom Schweinehirten? Ja, ist sie. Ich lebte einige Zeit in Kelar, übernachtete selbst in jenem Haus. Es heißt, die Tochter seiner Schwester habe den Prinzen von Illian geheiratet.«

»Er muss ein interessanter Mann gewesen sein, dieser Schweinehirte. Meinst du, es stimmt, dass er noch unter uns weilt?«

»Bedenkt man, dass seine Mutter von einem Elfen geschwängert wurde, als sie ihre Schweine hütete, so mag etwas dran sein an der Geschichte«, sagte ich mit einem Lächeln.

»Das habe ich noch nicht gehört.«

Ich lachte, als ich ihr Gesicht sah. »Ich auch nicht. Ich habe es soeben erfunden. Aber es erscheint mir wahrscheinlicher, als dass Soltar ihm den Zugang zum Totenreich verweigert.«